Gelbwesten in Paris
Europa

Einen höheren Mindestlohn und mehr Sozialstaat: Das wollen die „Gelbwesten“ in Frankreich

Sébastien Huette / Flickr: CC BY SA 2.0

Die „Gelbwesten“ sind die größte Protestbewegung in Frankreich seit 1968. Medien richten ihre Kameras gerne auf die Randale, berichten aber wenig über die Hintergründe und Forderungen der Bewegung. Wir bringen eine kleine Zusammenfassung der Geschehnisse.

„Ich sah erschöpfte Körper, erschöpfte Hände, gebeugte Knochen, müde Augen“, beschreibt der gefeierte französische Bestsellerautor Édouard Louis die Demonstranten, die derzeit die Straßen und die Politik Frankreichs beherrschen. Es sind abertausende.

Ihr Protest entzündete sich am Plan des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die Steuern auf Benzin und Diesel anzuheben. Diese hätten in der anvisierten Form jene hart getroffen, die auf PKWs angewiesen sind, um in die Arbeit zu kommen und die nicht auf andere Verkehrsmittel wechseln können. Im ganzen Land blockierten daraufhin Menschen in ihren gelben Warnwesten Tankstellen, Autobahnauffahrten, Einkaufszentren. Die „Gilets jeunes“ waren geboren – die Gelbwesten. Durch das Internet und soziale Plattformen erreichten sie schnell ganz Frankreich. Und darüber hinaus: Der Protest schwappte auf Länder wie Belgien und die Niederlande über.

„Niemand zählt auf sie, niemand hört sie“

Édouard Louis, der mit einem Buch über seine Kindheit in einer Arbeiterfamilie berühmt wurde, fühlt mit ihnen: „Die Körper der Menschen, die man auf diesen Fotos sieht, ähneln demjenigen meines Vaters, meines Bruders, meiner Tante. Sie ähneln den Körpern meiner Familie und der Menschen aus dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin.“ Diese Menschen, „deren Gesundheit von Elend und Armut ruiniert ist“, haben das Gefühl, dass „niemand auf sie zählt und sie niemand mehr hört“.

Wer sind die Gelbwesten?

Die Gelbwesten sind keine einheitliche Bewegung, in ihr schließen sich Unzufriedene zusammen. Von wütenden Schülern bis zu rabiaten Bauern finden hier viele Gruppen zusammen.

Viele fragen sich: Wer sind diese Menschen? Sind sie nun links, rechts oder einfach nur zornig? Und: Zornig worauf? Das ist alles nicht so einfach zu beantworten.

Die Bilder von brennenden Autos und Straßenschlachten mitten in Paris haben Frankreich jedenfalls schockiert. Hunderte Geschäfte, vor allem an der Avenue Kleber, wo sich Luxusboutique an Luxusboutique reiht, wurden geplündert oder verwüstet. Selbst der Triumphbogen, ein nationales Symbol, blieb nicht unversehrt.

Höhere Steuern für Reiche, niedrigere für Arme

Was die Demonstrantinnen und Demonstranten eint, ist der Protest gegen Einschnitte ins französische Sozialsystem. 41 Punkte umfasst die Liste ihrer Forderungen, die inzwischen weit über die Abschaffung der neuen Treibstoffsteuer hinausgehen. Ein höherer Mindestlohn, ein früherer Pensionsantritt, kleinere Schulklassen, ein gerechtes Steuersystem, eine einheitliche Sozialversicherung, keine Privatisierungen und mehr Sozialwohnungen finden sich auf der Liste.

Unten gegen oben

Den Gelbwesten geht es um ein anderes Frankreich. „Politik müsse im Interesse der einfachen Bürger und auch direkt durch die einfachen Bürger gemacht werden. Es ist eine umfassende Kampfansage an die Eliten“, fasst der ARD-Korrespondent in Frankreich zusammen. Laut Umfragen unterstützen etwa drei Viertel der Franzosen die Bewegung. Es gibt allerdings deutliche regionale Unterschiede. Besonders erfolgreich ist die Bewegung im ländlichen Raum und in den kleinen und mittleren Provinzstädten.

Die Soziologen Christophe Guilluy und Alain Touraine sehen eine Spaltung des Landes: Es gibt ein „Frankreich oben“, das in den Metropolen und mit der Globalisierung lebt, und ein „Frankreich unten“ auf dem Land und in den Vororten, das den Anschluss verpasst hat und unter schlechten Bedingungen leben muss.

Macron macht Zugeständnisse

Der Druck wurde mittlerweile so groß, dass Präsident Macron einlenken musste. In einer Fernsehansprache wurde nicht nur die Erhöhung der Steuern auf Diesel und Benzin zurückgenommen, sondern auch soziale Maßnahmen in Aussicht gestellt. Der Mindestlohn soll etwa im nächsten Jahr um 100 Euro steigen oder Überstunden steuerfrei gestellt werden.

Das Sozialpaket wird auf insgesamt 10 Milliarden Euro geschätzt. Macrons Förderprogramm für Unternehmen und Wohlhabende beläuft sich dagegen allein im Jahr 2019 auf rund 45 Milliarden. Die Forderung nach einer Wiedereinführung der abgeschafften Vermögenssteuer, lehnt der französische Präsident weiterhin ab.

Die Gelbwesten wollen mehr. Für kommenden Samstag gibt es bereits neue Aufrufe zu Protesten. Édouard Louis versteht das:

„Nur wer Armut nie kennen gelernt hat, kann denken, dass ein Graffiti auf einem historischen Gebäude schlimmer ist als die Unmöglichkeit, sich selbst zu versorgen und seine Familie ernähren zu können.“

 

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