Gastbeiträge

Schluss mit dem BIP – Es braucht eine neue Wohlstandsmessung, dafür wäre der richtige Zeitpunkt

Stellen Sie sich vor, sie gehen zum Arzt und beschreiben Ihre Probleme.
Der Arzt antwortet Ihnen:
Sie müssen wachsen! Dann werden alle Ihre Probleme behoben!
Diesen Arzt würden Sie für verrückt halten.

Unsere Volkswirtschaft ist ein ebenso komplexes dynamisches System wie die Gesundheit.
Wir haben uns so daran gewöhnt, uns am allgegenwertigen Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu orientieren, dass es uns nicht mehr auffällt, wie verrückt das ist!

In dieser magischen Zahl steckt der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die während eines Jahres innerhalb einer Volkswirtschaft als Endprodukte hergestellt werden, abzüglich aller Vorleistungen.

Das BIP ist eine reine Größenmessung. Diese Zahl ist so wunderbar unverbindlich. Sie verpflichtet zu nichts, man braucht keine Regeln einhalten, wachsen reicht!

Das BIP als eine statistische Hilfszahl unter vielen, das wäre kein Problem!

Das BIP als politische Leitzahl für Staatenvergleiche, zulässige Staatsverschuldung, Erfolgsmessung für die Politik……
→ das ist ein Problem, denn das führt uns in eine ungewollte Zukunft!

So wie jeder Arzt Blutdruck, Blutwerte, Fieber, Körpergewicht und -größe usw. ermittelt und daraus seine Diagnose erstellt, braucht es auch in der Volkswirtschaft eine Vielzahl an Kenngrößen, an denen wir erkennen, ob wir uns richtig oder falsch verhalten. Kenngrößen, mit denen wir eine Diagnose erstellen und unser Verhalten korrigieren können.

Ganz wichtig: Diese neuen Kenngrößen müssen öffentlich und für alle verständlich sein!

Dann könnten wir sensibel reagieren! So könnten wir Staaten wirklich vergleichen!
Und so wäre politischer Erfolg offen ersichtlich! Die veröffentlichten Zahlen würden bei Nichterfolg Druck zum Gegensteuern auslösen!

Die Macht der Messung

Individuen, Firmen, Staaten, Volkswirtschaften … das sind alles selbst stabilisierende Systeme.
Die funktionierten immer nach dem gleichen Prinzip:

Sie bestehen aus

 

❶ dem stabil zu haltendem System
❷ einer Messung, die den Zustand des Systems rückmeldet
❸ einem Entscheider
❹ einem Eingreifmechanismus.

Wenn die Messung vom Wunschwert abweicht, dann setzt ein Entscheider eine Gegenreaktion in Gang, die unser System wieder in den erwünschten Zustand zurückführt.

 

 

Beispiel: Beim Autofahren erleben Sie es selbst:

Wenn Sie die Geschwindigkeit ❶ konstant halten wollen, lesen Sie mit den Augen den Tacho ❷ ab, vergleichen im Kopf ❸ mit der Wunschgeschwindigkeit, reagieren am Gaspedal (❹ – oder +), bis die Geschwindigkeit wieder stimmt.

Im Bild erkennen wir an der Breite der Pfeile etwas sehr Wichtiges:

  • Im stabil zu haltenden System ❶ sind große Massen oder Energien in Bewegung
  • Der Umsetzer ❹ braucht schon ziemliche Kräfte, um das System zu beeinflussen
  • Die Messung ❷ aber (der dünne Pfeil) erfolgt fast immer ohne Aufwand!

Das heißt: Durch geschickte Wahl der Messung kann man die Systementwicklung ohne großen Aufwand beeinflussen. Bei Staaten reicht dafür z.B. eine Gesetzesänderung.
Allerdings: Durch ungeschickte Wahl kann man ein System komplett zerstören!
Wer falsch misst, bekommt Mist! Womit wir wieder beim BIP sind!
Das BIP ist nur ein Größenmaßstab, wie ein Zollstock. Völlig ungeeignet für die Führung einer Volkswirtschaft.

Die neuen Kennzahlen


Die Ökonomin Kate Raworth hat zur Veröffentlichung dieser neuen Kenngrößen ein einprägsames Bild entworfen:
Sie nennt es Donut Ökonomie!
Alle Messergebnisse außerhalb des großen Kreises verletzen die plantaren Grenzen.
Alle Messergebnisse innerhalb des kleinen Kreises verletzen die menschlichen Grundrechte!
Nur die Werte zwischen den Kreisen sind akzeptabel.
Wir müssen dazu angeleitet werden zwischen den beiden Kreisen zu bleiben.

 

Schon die Veröffentlichung solch transparenter Zahlen würde enormen Druck auf die Verantwortlichen ausüben.
Genau da steckt eines der Probleme für den Umstieg, es wird Widerstand gegen eine so transparente Darstellung geben!
Da könnte die Angewiesenheit eines großen Teils der Wirtschaftsakteure auf staatliche Hilfe während der Corona Krise ein Fenster öffnen!

Anhang

Geschichte des BIP

Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung wurde 200 Jahre lang theoretisch diskutiert. Erst zur Zeit der Great Depression 1931 wurde erstmals der amerikanische Ökonom Simon Smith Kuznets mit der Berechnung des Volkseinkommens beauftragt. Bei Übergabe der Berechnungen warnte Kuznets die Politik vor der Gefahr der Überschätzung dieses Indikators.
Während des Zweiten Weltkriegs diente die Berechnung des BIP in den USA zur Organisation der Rüstungsindustrie und der Inflationsbekämpfung. 1944 trafen sich Vertreter der USA, Kanadas und Großbritanniens zur Definition einer gemeinsamen BIP-Berechnungsgrundlage.

Die erste offizielle Berechnung des Bruttosozialproduktes in Deutschland erfolgte im Rahmen des Marshallplans. So kam das Bruttosozialprodukt und dessen Berechnungsmethoden durch Druck von außen nach Deutschland. Das Interesse an den veröffentlichten Zahlen war zuerst gering und wurde mit Planwirtschaft in Verbindung gebracht. Die Zurückhaltung verschwand, als man erkannte, wie vielseitig einsetzbar die Gesamtrechnung war. So wurde das BIP in Europa mit dem einsetzenden Wirtschaftswachstum zur mächtigsten politischen Zahl.

Nicht erkannt wurde, dass der anglo-amerikanische Raum mit dieser Messung auch seine ökonomischen Wertvorstellungen exportierte.
Und dies auf fast alle Staaten der Welt ausdehnte!

Existierende alternative ökonomische Messungen (Auswahl):

Das Bruttonationalglück (BNG) von Bhutan.
Hier werden per Fragebogen 33 Indikatoren ermittelt und dienen als politische Entscheidungsgrundlage. Zur Zeit der einzige aktive Wohlstandscockpit!

Der Happy Planet Index HPI (deutsch Index des glücklichen Planeten) ist ein Indikator für die ökologische Effizienz, mit der eine Nation ihr Wohlbefinden generiert.

Der Index der menschlichen Entwicklung HDI (englisch Human Development Index, abgekürzt HDI) der UNO ist ein Wohlstandsindikator für Staaten.

Der Index des nachhaltigen wirtschaftlichen Wohlstands ISEW (von englisch Index of Sustainable Economic Welfare) berücksichtigt über das BIP hinaus Faktoren wie Einkommensverteilung, unbezahlte Hausarbeit, öffentliche Ausgaben für das Gesundheitswesen, Bildung, Umweltverschmutzung, Ressourcenverbrauch und Kosten des Klimawandels. Der ISEW wurde zum Genuine Progress Indicator (GPI) weiterentwickelt.

Nationaler Wohlfahrtsindex des deutschen Umweltbundesamt

Die meisten dieser Indizes sind von der BIP Ideologie vergiftet, alles in einer Zahl aufzusummieren. Wie wir anfangs beim Arzt gesehen haben, ist eine System angepasste Orientierung nur mit mehreren Indikatoren möglich!

Ermutigende erste Ansätze:
Die Stadt Amsterdam ist dabei eine City Donut zu entwickeln:
siehe unter „The Amsterdam City Doughnut
Neuseeland hat ein Wellbeing-Budget eingeführt, die Ministerien müssen sich bei der Finanzplanung an neuen Kennzahlen orientieren:

Quellen
• Fioramonti Lorenzo „Gross Domestic Problem“ 2013
• Daniel Speich Chassé: „Die Erfindung des Bruttosozialprodukts“ 2013
• Raworth Kate „Doughnut Economics_ Seven Ways to Think Like a 21st-Century Economist“
Deutsch: „Die Donut-Oekonomie“ 2018

What on Earth is the Doughnut?…


• The Amsterdam City Doughnut

Introducing the Amsterdam City Doughnut


• Feigl „AK Wohlstandsbericht 2018“

• Michael Frein&Friedel Hütz-Adams: „Die Wirtschaft braucht neue Maßstäbe“ 2010

• John Talberth, Clifford Cobb & Noah Slattery „GPI 2006“

• ISO Organisation: ISO 2600 Social responsibility

• OECD: Society at a Glance 2014

• Planetare Grenzen


• BIP

• Selbstregulation

• Miklos Antal, Jeroen van den Bergh: Evaluating Alternatives to GDP as Measures of Social Welfare/Progress WIFO 2014
https://www.wifo.ac.at/jart/prj3/wifo/resources/person_dokument/person_dokument.jart?publikationsid=47188&mime_type=application/pdf

Johannes Moder, 5. Dezember 2020

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