Am 19. März 2025 wurde der Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, verhaftet. Er wurde von seiner Partei, der CHP, als Kandidat für die regulären Präsidentschaftswahlen 2028 ausgewählt und gilt als größter Konkurrent von Erdoğan. Das löste eine große Protestwelle in der Türkei aus – vor allem in Istanbul. Im Zuge der Demonstrationen kam es zu zahlreichen Verhaftungen – darunter Aktivist:innen, Journalist:innen und Studierende. Im Interview spricht die Politikwissenschafterin, Dokumentarfilmemacherin und freie Korrespondentin, Sabine Küper-Büsch, über die aktuelle Lage in Istanbul und die politischen Hintergründe der Proteste.
Kontrast: Mitte März wurde Ekrem İmamoğlu verhaftet, darauf folgte eine große Protestwelle. Wie ist denn gerade die Lage in Istanbul?
Küper-Büsch: Um das Ganze ein bisschen bildlich zu beschreiben: Ich wohne in der Nähe des Taksim-Platzes und es ist alles sehr ruhig, weil die Polizei alles abgesperrt hat. Also wenn ich zum Einkaufen gehe, muss ich durch große Polizeisperren. Es gibt eine hohe Präsenz der Sicherheitskräfte – dementsprechend ist es natürlich sehr ruhig.
Proteste wurden teilweise brutal niedergeschlagen
Aber: Die Verhaftung des abgesetzten Oberbürgermeisters İmamoğlu ist jetzt sechs Wochen her (Anm.: Das Interview wurde am 9. Mai 2025 geführt) und es gab schon heftige Protestbewegungen in verschiedenen Vierteln in Istanbul, die auch mit wahnsinniger Brutalität niedergeschlagen worden sind. Sehr viele Protestierende, darunter viele Studierende und junge Leute, wurden festgenommen, und es gibt diese extreme Polizeipräsenz. Das bedeutet, dass der Staat schon mächtig Angst hat.
Die Situation hat sich beruhigt, weil sich die Protestierenden momentan ein bisschen wegducken. Denn es ist auch sehr gefährlich. Eine Kriminalisierung der Opposition ist ein ganz starkes Mittel der Repression in der Türkei.
Am 1. Mai demonstrierte die linke Opposition geschlossen und friedlich in Kadıköy (Stadtteil auf der asiatischen Seite Istanbuls) – inklusive der prokurdischen Partei. Trotz hoher Polizeipräsenz blieb alles ruhig. Wegen massiver Repressionen finden die Proteste inzwischen dezentralisiert statt. Die Lage ist ruhig, aber angespannt.



Proteste verlagern sich auf den Stadtrand
Kontrast: Das heißt, es gibt jetzt keine Proteste mehr?
Küper-Büsch: Dass gar nichts mehr passiert, kann man nicht sagen. Ich nenne es dezentrale Demonstrationen, es gibt zum Beispiel Flashmobs. Die Proteste sind aber nicht mehr von der Vehemenz, wie die im März, als İmamoğlu verhaftet worden ist. Die Regierung ging nämlich mit massiver Gewalt vor, um die Leute zu verdrängen und einzelne Menschen zu bestrafen.
Ich hatte jetzt am 1. Mai auch noch mal Gelegenheit, mit Studierenden und friedlich demonstrierenden Leuten zu reden. Von denen sind schon einige verhaftet worden. Protestieren bedeutet den Verlust des Studienplatzes und kann sogar eine Haftstrafe zur Folge haben. Das hat dramatische Konsequenzen für die Einzelnen. Ich habe mit Studierenden der Kunstuni Interviews geführt, aber man darf ihre Namen nicht nennen.

Alle haben Angst – das muss einem klar sein. In Europa denken vielleicht viele: Warum passiert denn da jetzt nichts mehr? Naja, weil das für die Einzelnen, die sich engagieren, wahnsinnige Konsequenzen haben kann – selbst wenn es ein harmloser Post auf Social Media ist.
Kontrast: Warum wurde İmamoğlu ausgerechnet jetzt – genauer gesagt eben vor 6 Wochen – verhaftet?
Küper-Büsch: Er wurde kurz vor seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten verhaftet. Das ist schon strategisch. Aber das hat seine Position als Kandidat eher gestärkt – zumindest zunächst. Aber grundsätzlich gibt es ganz viele komplexe Gründe und keinen direkten Auslöser, würde ich sagen. Also es geht natürlich darum, dass Erdoğan strategisch verhindern möchte, 2028 abgewählt zu werden. Aber das ist natürlich noch ziemlich weit hin. Und gleichzeitig brodeln im Hintergrund verschiedene Konfliktfelder.
Hintergrund der Proteste: Wirtschaftliche Macht
Einer dieser Konflikte ist der große Einfluss der regierenden Partei auf die türkische Wirtschaft. Seit der Republikgründung dominiert der Etatismus – zunächst mit Staatsmonopolen, später ab den 1950er Jahren wurde es zunehmend privatisiert. Politisch stehen sich dabei zwei große Lager gegenüber: die kemalistisch-säkulare CHP und die islamisch-konservative AKP, die nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich rivalisieren.
Gleichzeitig ist die türkische Wirtschaft ganz stark auf ausländische Investitionen angewiesen. Also immer derjenige, der die politische Macht gerade hat, hat auch Zugriff auf bestimmte Aufträge. Und das, was İmamoğlu momentan auch vorgeworfen wird – dass er Ausschreibungsbetrug betrieben hätte – ist ein Witz, weil das ein Muster im politischen System ist. Das machen alle.
Aber für Erdoğan, der auch als Oberbürgermeister von Istanbul angefangen hat, war es eine wahnsinnig bittere Pille, diese Stadtverwaltung zu verlieren. Schließlich sitzt in Istanbul ein großer Teil der türkischen Bevölkerung und die meiste Wirtschaftskraft. Wenn ich da nicht mehr am Drücker bin, habe ich ein ganz großes Problem. Meiner Meinung nach geht es hauptsächlich darum.
Kontrast: Was waren die Gründe für İmamoğlus Verhaftung?
Küper-Büsch: İmamoğlu sieht sich einer politisch motivierten Kampagne ausgesetzt, die darauf abzielt, ihn langfristig wegzudrängen. Neben konstruierten Korruptionsvorwürfen, die zu jahrelanger Untersuchungshaft führen könnten, wurde ihm auch nachträglich sein Universitätsabschluss aberkannt – ein symbolischer und strategischer Angriff, da ein Uni-Abschluss Voraussetzung für das Präsidentenamt ist. Solche Maßnahmen fügen sich in ein autoritär geprägtes System ein, in dem Erdoğan durch das Präsidialsystem direkten Einfluss auf Justiz und Institutionen hat. Die Gewaltenteilung ist faktisch ausgehöhlt, politische Gegner werden systematisch durch juristische und administrative Mittel geschwächt – etwa durch Vorwürfe wie Terrornähe oder Regelverstöße. Diese Repressionen spiegeln den Versuch wider, den wachsenden Einfluss der Opposition – besonders auf kommunaler Ebene – frühzeitig zu bremsen.
Die Politik der AKP vs. die Politik der CHP
Konstrast: Wie unterscheidet sich denn die Politik İmamoğlus von der Erdoğans?
Küper-Büsch: İmamoğlu ist ein Säkularpolitiker (will also eine Trennung von Religion und Staat) – anders als Erdoğan, der dem islamisch konservativen Lager angehört. Das würde ich erst mal so als den Hauptunterschied der beiden bezeichnen. Aber wie in den europäischen Systemen haben sich auch in der Türkei die linken und rechten Parteien aneinander angenähert. Man hat jetzt dadurch, dass İmamoğlu Oberbürgermeister von Istanbul geworden ist, nicht automatisch große Unterschiede gespürt. Er hat letztlich die Politik der AKP weitergeführt.
Die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) (deutsch: „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) wurde 2001 von Recep Tayyip Erdoğan und anderen ehemaligen Mitgliedern islamischer und konservativer Parteien gegründet. Sie versteht sich offiziell als konservativ-demokratisch, betont traditionelle Werte und setzt sich für eine wirtschaftsliberale Ordnung ein. In der Praxis hat die AKP jedoch seit ihrem Machtantritt 2002 zunehmend autoritäre Züge angenommen: Die Gewaltenteilung wurde geschwächt, die Unabhängigkeit der Justiz untergraben und die Medienfreiheit massiv eingeschränkt.
Die Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) (deutsch: „Republikanische Volkspartei“) wurde 1923 von Mustafa Kemal Atatürk gegründet und ist die älteste Partei der Türkei. Sie versteht sich als sozialdemokratisch und laizistisch. Ihre Prinzipien sind Republikanismus, Laizismus, Revolutionismus, Etatismus, Populismus und Nationalismus. In der Praxis galt die CHP lange Zeit als elitäre Partei, die einen zentralistischen und staatsautoritären Kurs verfolgte und Minderheiten wie Kurden und religiöse Gruppen unterdrückte. Erst in den letzten Jahren öffnete sie sich für breitere Bündnisse und demokratischere Positionen.
Kopftuchverbot: Undemokratische Tendenzen in der CHP?
Früher war die CHP in ihrem Säkularismus oftmals auch sehr undemokratisch. Es gab zum Beispiel dieses Kopftuchverbot an den Universitäten und bestimmte Dinge, wo die islamisch konservative Bewegung den vorherigen modernistischen Parteien immer undemokratische Tendenzen vorgeworfen hat. Das hat İmamoğlu ganz stark versucht zu revidieren. Dementsprechend ist er schon ein pragmatischer Politiker, ähnlich wie Erdoğan. Aber was die beiden momentan von ihrer Strategie her stark unterscheidet: Die AKP hat eine distanzierte Haltung gegenüber der EU eingenommen, sich strategisch eigentlich wieder mehr an der US-Politik orientiert und versucht, ein regionaler Player im Mittleren Osten zu sein.
Das ist bei İmamoğlu anders. Der macht eine klare EU-nahe Politik. Die Partei ist ja auch von Atatürk gegründet worden und dessen Leitspruch war immer: Frieden auf der Welt und im Inland. Also sich im Grunde nicht außenpolitisch zu engagieren oder sich an Kriegen zu beteiligen. Und momentan ist die türkische Außenpolitik – gerade was den Irak oder auch Syrien betrifft – ganz anders. Im Grunde sind viele der islamistischen Anti-Assad-Leute in der Türkei trainiert worden. Also da gibt es ganz, ganz, ganz starke Verbindungen. Und das ist zum Beispiel etwas, was İmamoğlu komplett ablehnt. Wo er aber auch widersprüchlich ist, weil er gleichzeitig immer klar eine nationalistische Politik vertritt, den Einmarsch des türkischen Militärs in Afrin in Nordsyrien etwa befürwortete.

Politisches System in der Türkei auf Führerpersönlichkeiten ausgelegt
Aber auch für die türkische Politik gilt: Man kann nicht mit Schwarz-Weiß-Bildern arbeiten. Erdoğan ist natürlich gerade in Europa der Buhmann, der Autokrat. Aber das ganze politische System ist sehr auf Führerpersönlichkeiten ausgelegt. İmamoğlu ist genauso schlagfertig und charismatisch wie Erdoğan – und auch nicht ganz ungefährlich. Die CHP hat tatsächlich im Wahlkampf teilweise üble xenophobe Positionen eingenommen.
Man muss wirklich abwarten, wie sich das Ganze weiterentwickelt. Bislang mussten vor allem die Kurden dieses Schicksal der Kriminalisierung, der Untersuchungshaft und Haftstrafen erdulden. Die prokurdische Partei heißt DEM, davor hieß sie HDP. Die wird ununterbrochen verboten und muss sich immer wieder neu benennen und neue Strukturen aufbauen. Die gesamte Parteiführung der HDP sitzt seit Jahren im Gefängnis. Das ist wirklich skandalös. Und jetzt hat es das erste Mal die Haupt-Oppositionspartei ereilt. Das ist natürlich dann ein Tabubruch im politischen System. Da könnten sich interessante neue Koalitionen ergeben. Die CHP hatte in Istanbul mit der DEM auf Bezirksebene zusammengearbeitet. Gleichzeitig wurde aber die Kriminalisierung der Partei kaum thematisiert. Jetzt bleibt abzuwarten, ob sich das ändert
Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wurde 1978 von Abdullah Öcalan gegründet, um die politische, kulturelle und soziale Unterdrückung der Kurden in der Türkei zu beenden. Sie verstand sich als Befreiungsbewegung der Kurden und trat zunächst für einen unabhängigen kurdischen Staat ein. Ab 1984 führte sie einen bewaffneten Widerstand gegen den türkischen Staat, der darauf mit systematischer Diskriminierung, Repressionen und die Verweigerung grundlegender Rechte reagierte. Seit den 1990er Jahren wandelte sich die PKK ideologisch und setzte zunehmend auf das Konzept demokratischer Autonomie, Gleichberechtigung und gesellschaftlicher Selbstverwaltung. Ihre Einstufung als Terrororganisation durch die Türkei, die EU und die USA ist umstritten. Der deutsche Bundesgerichtshof entschied 2004 beispielsweise, dass zwar die Führungsebene der PKK weiterhin als kriminelle Vereinigung zu gelten habe, aber nicht die Organisation als Ganzes.
Im Mai 2025 erklärte die PKK schließlich ihre Selbstauflösung. Damit soll der Weg für eine politische Lösung der kurdischen Frage frei gemacht werden. Viele Kurden erhoffen sich nun mehr Rechte und politische Teilhabe. Als neue und stärkste demokratische Vertretung der Kurd:innen gilt die Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM-Partei). Präsident Erdoğan versucht, die DEM und ihre Vorgängerorganisationen immer wieder in die Nähe der PKK zu rücken und so zu verbieten.
Alle Richtungen für nächste Präsidentschaftswahl offen
Kontrast: Wie realistisch ist es, dass İmamoğlu wieder freikommt und bei der nächsten Präsidentschaftswahl im Jahr 2028 antreten darf? Gibt es alternative Kandidat:innen?
Küper-Büsch: Alternative Kandidat:innen gibt es immer. Der Parteivorsitzende Özgür Özel hat die Rolle von İmamoğlu übernommen und ist auch ein beliebter Politiker. Aber alle Richtungen sind momentan offen. Es sieht auf jeden Fall danach aus, dass die Regierungspartei ihre Hegemonie im politischen System ganz stark durchsetzen will. Es geht also gar nicht so sehr um die Frage, wer jetzt der Kandidat bei der nächsten Präsidentschaftswahl werden wird.

Die Türkei zeichnet sich auch durch das System der zwei politischen Blöcke aus, also die modernistisch kemalistische Seite und die islamisch konservative. Und dann gibt es eben noch so zwei nationalistische Parteien, aber im Grunde haben wir die beiden Blöcke, die sich auch immer irgendwie einigen können.
Weltpolitische Lage hat große strategische Bedeutung für die Türkei
Kontrast: Wie lassen sich diese komplexen Geschehnisse in der Türkei in die momentane geopolitische Lage einordnen?
Küper-Büsch: Die weltpolitische Lage hat eine große strategische Bedeutung für die Türkei. Ich hatte ja schon erklärt, dass die Wirtschaftspolitik eine große Rolle spielt. Und ja, natürlich ist die EU auch ein wichtiger Wirtschaftspartner für die Türkei. Jedes Mal, wenn Erdoğan diktatorische Entscheidungen trifft, schmiert die Börse ab, weil vor allem europäische Investoren darauf reagieren. Aber dementsprechend bewegt sich die Türkei in andere Richtungen und hat auch keine moralischen Bedenken, mit anderen Autokraten Business zu machen. Das ist momentan ein Trend in der Weltpolitik. Und die Autokraten verstehen sich prächtig. Trump hatte direkt nach der Verhaftung von İmamoğlu gesagt, dass Erdoğan ein guter Mann ist.
Erdoğan hat momentan auch ein totales Interesse daran, dass die Türkei in Syrien mitspielt, was ich sehr gefährlich finde, weil man bisher nicht absehen kann, wie sich die Lage dort weiterentwickelt. Wir bekommen hier momentan mit, dass es viele Übergriffe auf Alawiten gibt in Nordsyrien, vor allem auch auf Frauen.
Proteste weiten sich aus: Menschen fühlen sich ungerecht behandelt und solidarisieren sich

Kontrast: Ich würde gern noch mal kurz auf die Proteste zurückkommen: Es haben sich vermehrt islamisch konservative Menschen den Protesten angeschlossen. Warum ist das so?
Küper-Büsch: Das finde ich sehr interessant und das ist vielleicht auch ein Hoffnungsschimmer. Es gibt natürlich neben diesen beiden Blöcken auch viele Zweifler und Unzufriedene.
Der Schwachpunkt in diesem System der korrupten Wirtschaftspolitik ist auch, dass sehr viele Schichten nicht von Machtzentralisierung und Wirtschaftswachstum profitieren. Die solidarisieren sich dann dementsprechend mit anderen Menschen, die genauso wenig profitieren.
Die Studierenden traten ausdrücklich als parteipolitisch unabhängige Gruppe auf – ein bunter Mix ganz unterschiedlicher Personen, darunter auch islamisch-konservative. Viele von ihnen sind nicht einmal überzeugte Unterstützer İmamoğlus, sondern protestieren grundsätzlich gegen den zunehmenden Autoritarismus im Land. Schließlich gab es auch an den Universitäten starke Einschränkungen.
Unter islamisch Konservativen ist die Frauenbewegung ganz stark, weil viele durch die Proteste gegen das Kopftuchverbot politisiert wurden – ein Potenzial, das mich immer wieder beeindruckt. Gleichzeitig steht dem ein zunehmend autokratisches System gegenüber, mit einem brutalen juristischen Apparat: Verhaftungen, drakonische Strafen, gezielte Einschüchterung. Demonstranten werden mit Tränengas angegriffen, verprügelt und in Polizeibusse verfrachtet, wo die Misshandlungen weitergehen – das ist kein bloßes Abführen, sondern eine systematische Gewaltpraxis. Das politisiert natürlich weiter, aber kriminalisiert auch.
Früher radikalisierten sich die Studierenden. Heute radikalisieren sich die Sicherheitskräfte.
Medien werden völlig von der Regierung kontrolliert
Kontrast: Wie berichten die Medien über das Ganze?
Küper-Büsch: Das ist der zweite Aspekt der nicht vorhandenen Gewaltenteilung. Die Medien sind komplett unter Kontrolle der Regierung. Und das, obwohl die CHP in der Stadtverwaltung in Istanbul sitzt – also auf Kommunalebene. Wenn man das Fernsehen anschaltet oder auch die Mainstreammedien verfolgt, ist das unisono Regierungspropaganda. Man erreicht als findiger Mensch schon oppositionelle Medien. Aber die arbeiten unter wahnsinnigem Druck.
Bei den Demonstrationen wurden 20 Journalisten verhaftet, darunter ein ausländischer. Das ist ein Novum: Ein schwedischer Kollege wurde gerade zu fast einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er den Präsidenten bei einer Demo in Stockholm beleidigt haben soll und viel zu Kurden recherchiert und in Syrien gearbeitet hat. So etwas ist normale journalistische Arbeit. Aber er wird jetzt als PKK-Unterstützer gehandelt. (Anm. Redaktion: Mittlerweile wurde der schwedische Journalist wieder aus der türkischen Haft entlassen).
Auch auf Sozialen Medien – vor allem auf X und Facebook – hat die türkische Regierung totale Kontrolle. Als oppositioneller Analytiker oder Journalist versteckt man sich. Wohingegen regierungsnahe Leute sehr bequem ihre gesamte Meinung ununterbrochen durch den Äther jagen können. Da gibt es ein ganz, ganz starkes Machtgefälle.
Proteste schwächen Erdoğan und bieten Chance für Opposition
Kontrast: Glauben Sie, dass Erdoğan noch Rückhalt in der Bevölkerung hat, oder haben ihn die Proteste geschwächt?
Küper-Büsch: Ich glaube, dass ihn die Proteste auf alle Fälle geschwächt haben. Eigentlich schwächelt er insgesamt schon seit einigen Jahren. Er hat natürlich immer noch eine starke Basis. Und er hat vor allem wahnsinnig viel Macht. Aber: Er ist nicht mehr der Volkstribun, der er mal war. Und das ist momentan auch der Grund für diese ganzen repressiven Maßnahmen. Die würde er gar nicht brauchen, wenn ihn die Mehrheit der Bevölkerung unterstützen würde. Gleichzeitig hat er so viel Macht, dass er Wahlen manipulieren kann. Das muss man nicht nur durch Manipulation von Urnen oder Wählerstimmen machen, sondern auch über die Kontrolle der Medien oder über die Kriminalisierung der Opposition. Das passiert momentan in der Türkei.
Aber gleichzeitig gibt es eine resiliente Opposition in der Türkei, die immer dann neue Koalitionen bildet, wenn Erdoğan hart durchgreift. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Opposition weiter verhält, denn sie hat viel Material, um gegen den Präsidenten, der schon so lange an der Macht ist und viele dunkle Geheimnisse hat, vorzugehen. Aber um effektiv zu agieren, muss sie zusammenarbeiten und diese Schwächen gemeinsam aufdecken.
Wird sie im Hintergrund mit der Regierung verhandeln und letztendlich dieses Machtblock-System weiter mittragen? Oder positioniert sie sich für Demokratie und verbündet sich mit anderen Akteuren gegen diesen allmächtigen Präsidenten?

Sie können maximal 7 Forderungen auswählen und ihre Abstimmung im Nachhinein ändern.