Vor rund zwei Jahren hat sich das digitale Medium „andererseits“ gegründet. Es ist das erste Medium in Österreich, das von Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam gemacht wird. Bekannt geworden sind sie mit ihrer kritischen Doku über die ORF-Spenden-Sendung „Licht ins Dunkel“. Jetzt sind sie dabei, sich als unabhängiges Medium zu etablieren, das den Journalismus bereichern und neue Perspektiven einbringen will, wie Geschäftsführerin Clara Porak erzählt. Dabei geht es um Themen wie den Arbeitsmarkt und das Bildungssystem sowie den Zugang zur Grundversorgung für Menschen mit Behinderung.
Am Anfang stand weniger die Idee, ein Medium aufzubauen, als vielmehr die Frage, ob man Journalismus für und mit Menschen mit Lernschwierigkeiten machen kann, erzählt die Geschäftsführerin und Journalistin Clara Porak zur Entstehungsgeschichte von „andererseits“. Sechs freie Journalist:innen bzw. Menschen mit Behinderung wollten das einfach ausprobieren – unbezahlt, in ihrer Freizeit. Darunter sie selbst: „Am Anfang war alles sehr improvisiert, wir haben eine Website aufgesetzt und Handyfotos hochgeladen.“ Daraus hat sich das Projekt entwickelt, was es heute ist: drei Teilzeitkräfte, ein Team aus 22 Schreibenden, regelmäßige Beiträge unter anderem zu den Themen Bildung, Arbeit, Inklusion oder Spenden sowie ein Podcast und Veranstaltungen.
„Wir wollen ein neues Erzählen finden, das Menschen mit Behinderungen ermöglicht, journalistisch zu arbeiten und ihren Blick einzubringen sowie gleichzeitig den Leser:innen einen Mehrwert bietet. In Bezug auf das Thema Behinderung, aber nicht nur. Es geht uns darum, unsere Superkraft – nämlich diese Perspektiven, die sonst verloren gehen – zu zeigen und stark zu machen“, beschreibt Porak ihr Ziel.
Jeder 6. hat eine Behinderung: Journalismus muss diese Perspektive mit einnehmen
Im Mittelpunkt steht jedoch ein journalistisches Interesse, wie die Geschäftsführerin im Podcast „Ganz offen gesagt“ erklärt: „Wir glauben nicht nur, dass Menschen mit Behinderung so viel von unserem Projekt haben. Sondern wir glauben, der Journalismus verpasst etwas. Unsere Aufgabe als Journalist:innen in einer demokratischen Öffentlichkeit ist es, dafür zu sorgen, dass die Menschen Informationen bekommen, die sie brauchen und die Macht von Politikern oder mächtigen Menschen kontrolliert wird. Und das können wir nicht so gut, wenn uns die Perspektive von einem Teil der Bevölkerung fehlt.“
Das Team bei „andererseits“ hat auch zunehmend gemerkt, wie viel verloren geht, wenn diese Perspektive vergessen wird. Auch jetzt würde bei vielen Leuten im Medienbereich das Thema Behinderung als „nice-to-have“ betrachtet, so Porak im Kontrast-Gespräch.
„Viele finden es eh cool, wenn man das auch noch mitbedenkt, aber glauben, dass es wichtigeres gibt. Dabei geht es um einen signifikant großen Anteil der Bevölkerung, der kaum repräsentiert wird“, meint sie.
Denn etwa 18,4 Prozent der Bevölkerung haben eine Behinderung, also etwa jeder Sechste. Darunter fallen körperliche und intellektuelle Behinderungen, aber auch chronische Erkrankungen wie eine lang anhaltende Depression. Geht es um die leichtere Zugänglichkeit von Texten, ist der relevante Anteil noch größer. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 32 Prozent der österreichischen Bevölkerung Probleme beim Lesen haben und auf einfache Artikel angewiesen sind. Dennoch gibt es bis heute kein Medium, das regelmäßig in großem Stil in leichter Sprache publiziert, kritisiert „andererseits“-Geschäftsführerin Porak.
Schwieriger Start: Presseförderung erschwert Neugründung von Medien
Ein wichtiger Schritt für die journalistische Qualität und Professionalisierung stellt für das junge Medium eine stabile Finanzierung dar. Diese zu erreichen, ist nicht einfach. Denn als kleines, digitales Medium haben sie keinen Anspruch auf eine Presseförderung.
„Bestehende Medien werden mit sehr hohen Summen gefördert. Da bekommt dann ein bestehendes Medium mehr Geld für einen Newsletter, als unser gesamtes Jahresgeschäft kostet. Das macht es für Projekte wie unseres viel schwieriger, sich zu etablieren“, so Porak.
Auch auf die geplante Presseförderung für Onlinemedien, die mit 1. Juli 2023 kommen soll, wird „andererseits“ keinen Anspruch haben, befürchtet Porak. Derzeit sind die vorgesehenen Kriterien so hoch, dass kleine oder mittelgroße Medien nicht darunterfallen. Onlinemedien müssten demnach mindestens 40 Millionen Zeichen jährlich publizieren – also mehr als etwa die Printversion von „Spiegel“. Auch 300.000 Unique User monatlich – wie derzeit geplant – ist eine sehr hohe Schwelle. Dabei zeigen Studien, wie wichtig Medienvielfalt für eine funktionierende Demokratie sind.
Einen Vorteil hatte das junge Team allerdings: Als Wiener Medium bekamen sie aus der Wiener Medieninitiative eine einmalige Starthilfe von 100.000 Euro. „Das war total wichtig, weil sie uns ermöglicht hat, überhaupt erst zu beginnen. Sie wird nach journalistischen Qualitätskriterien vergeben“, erzählt Porak. Diese Förderung sollte es laut ihr bundesweit geben. Derzeit finanzieren sie sich mit Abos, arbeiten mit Stiftungen und im Zuge von Veranstaltungen mit Unternehmen zusammen.
Kritische Doku über Licht ins Dunkel: Der Shitstorm blieb aus
Bekannt geworden ist „andererseits“ mit ihrer kritischen Doku über „Licht ins Dunkel“. „Wir waren auf einen Shitstorm vorbereitet“, sagt Clara Porak. Unter anderem deshalb, weil es um ein „urösterreichisches Kulturgut“ geht, das „fast schon unantastbar wirkt.“ Denn für viele Menschen ist die Spendensendung in der Weihnachtszeit der wichtigste Anknüpfungspunkt zu Menschen mit Behinderung.
„Jeder kennt Licht ins Dunkel, jeder weiß, worum es geht und die allermeisten finden es auch super. Die Kritik gibt es schon seit 20 Jahren. Aber es hat noch nie jemand in der Größe journalistisch gut erzählt“, begründet Porak die Entscheidung für das Thema.
Und tatsächlich war das mediale Interesse enorm, die „Zeit im Bild“ und fast alle Qualitätsmedien haben darüber berichtet. Auch der Bundespräsident hat sich zu Wort gemeldet. 50.000 Menschen haben die Doku gesehen. „Wir waren glücklicherweise positiv überrascht, wie viele gute Reaktionen wir bekommen haben. Sehr viele haben uns geschrieben, dass sie unseretwegen verstanden haben, was das Problem an Licht ins Dunkel ist.“
Das Hauptproblem sei, dass Menschen mit Behinderung in Österreich keinen Zugang zu ihrer Grundversorgung haben, so die Kritik. Geltende Menschenrechte würden nicht eingehalten werden. Da geht es etwa um Hilfsmittel wie Rollstühle oder Blindenführhunde, die die Krankenkasse nicht immer bezahlt. Dann springen Stiftungen wie „Licht ins Dunkel“ ein – anstatt dass politische Entscheidungen getroffen werden, die diese Missstände beheben könnten.
Der zweite Kritikpunkt betrifft die Darstellung. Das Problem wird bei den behinderten Menschen gesehen, denen häufig aus Mitleid geholfen werden soll – nicht zuletzt von Unternehmen und Politiker:innen, die sich als besonders sozial inszenieren. Es wird vorgeschlagen, stattdessen die Barrieren zu zeigen und darüber zu sprechen, inwiefern die Gesellschaft das Problem ist, weil sie Menschen ausschließt.
Unternehmen stellen viel zu wenig Menschen mit Behinderung ein
Ein wichtiger Teil der Gesellschaft stellt auch der Arbeitsmarkt und den Zugang dazu dar. Unternehmen müssen in Österreich Strafen bezahlen, wenn sie zu wenige Menschen mit Behinderung einstellen. Für jeweils 25 Angestellte muss eine Person mit Behinderung beschäftigt werden. Ansonsten müssen sie die sogenannte Ausgleichstaxe bezahlen. Je nach Größe des Unternehmens beträgt diese 292 bis 435 Euro pro Monat. Doch viele Unternehmen zahlen einfach lieber die Strafe. 2020 hat das Sozialministerium rund 162,5 Millionen Euro von den Firmen verlangt. Darunter sind auch jene Firmen, die bei „Licht ins Dunkel“ prominent als Sponsor auftreten. Laut Recherchen von „andererseits“ kam etwa A1 2021 auf eine jährliche Summe von knapp 100.000 Euro, Lidl sogar auch 448.000 Euro. Auch der ORF hat nur 83 Personen mit Behinderung eingestellt und muss deshalb 168.000 Euro jährlich zahlen.
„Die Ausgleichstaxe müsste laut vielen Expert:innen drei bis vier Mal so hoch sein, damit sie eine steuernde Wirkung hat“, sagt Porak. Für sie geht Inklusion am Arbeitsmarkt allerdings einen Schritt weiter: „Nur Menschen mit Behinderung in Unternehmen zu setzen, ist viel zu kurz gegriffen. Es geht generell um eine bedürfnisorientierte Unternehmenskultur. Das bedeutet, dass wir uns fragen, was die Menschen brauchen, für die wir das Unternehmen machen sowie die Menschen, die bei uns arbeiten. Das wäre schon ein grundsätzlicher Kurswechsel.“
Kinder mit Downsyndrom fliegen oft mit 16 Jahren aus der Schule
Ein inhaltlicher Schwerpunkt von „andererseits“ ist auch das Thema Bildung. So fliegen etwa Kinder mit Downsyndrom und anderem „sonderpädagogischen Förderbedarf“ mit 16 Jahren aus der Schule. Die Bildungsdirektion kann zwar ein 11. und 12. Schuljahr bewilligen, einen Rechtsanspruch gibt es aber nicht. Und weil die Lehrpläne und Ressourcen fehlen, werden die Anträge oft abgelehnt. Im andererseits-Interview erzählt Claudia Mühlbacher, dass hinter dem bestehenden Gesetz auch ein falsches Bild von Menschen mit Behinderungen steckt:
„Als könnten sie nach neun Jahren sowieso nichts mehr lernen“. Sie hat eine Petition mit-initiiert, um das zu ändern. Über 35.600 Menschen haben diese unterschrieben.