Geschichte

Lebenserwartung: Entscheidend ist Verteilungsfrage, nicht die Wirtschaftsleistung

Je mehr die Wirtschaft wächst, umso höher die Lebenserwartung? Nein, so funktioniert es nicht. Viel wichtiger ist die Frage, wohin das Geld fließt, wenn die Wirtschaft wächst. Gesünder und länger leben tun wir nur dann, wenn der Reichtum umverteilt wird – und der Staat in Bildung und Gesundheit investiert.

Steven Pinker ist amerikanischer Psychologe und Autor. Er glaubt an den Fortschritt: Wirtschaftswachstum heißt längere Lebenserwartung, weniger Hunger auf der Welt und sinkende Unfallzahlen. Und er zeichnet diese Entwicklung nach. Schwierig ist jedoch, was er als Ursache all dessen ausmacht. Pinker glaubt, dass ein steigendes Bruttoinlandsprodukt (BIP) für solche positiven Entwicklungen verantwortlich ist. Für ihn ist „offensichtlich, dass das BIP pro Kopf mit Langlebigkeit, Gesundheit und Ernährung korreliert„. Damit beruft er sich auf die sogenannte „Preston-Kurve“. Mehr Wirtschaftswachstum als Grund für ein längeres, besseres Leben. Aber: So einfach ist das nicht – und das haben gleich mehrere Forschungen gezeigt, von Historikerinnen, Demographen bis hin zu Gesundheitsforschern.

Denn was Preston und Pinker ausblenden: Zwar gibt es einen statistischen Zusammenhang zwischen BIP und Lebenserwartung. Aber das BIP ist nicht der Grund für ein längeres Leben. Tatsächlich sind es Bildung und ein gutes Gesundheitssystem, die unser Leben verlängern.

Was ist die Preston-Kurve?

1975 entwickelte der amerikanische Soziologe und Demograph Samuel Preston die sogenannte Preston-Kurve. Sie stellt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Person auf der horizontalen Achse einer Kurve und die Lebenserwartung auf der vertikalen Achse dar. Die These: Je höher das BIP in einem Land, desto höher auch die durchschnittliche Lebenserwartung der Durchschnittsbevölkerung.

Hohes BIP pro Kopf ist positiv – aber entscheidend ist, was man damit macht!

Klar, um einen starken Sozialstaat, Gesundheitsleistungen und Bildung zu finanzieren, braucht es Geld. Und eine funktionierende Wirtschaft trägt dazu bei, dieses Geld aufzutreiben – über Arbeitsplätze, Konsum und Abgaben. Dann kann man in die wichtigen Bereiche investieren.

Aber: Ein hohes Pro-Kopf-BIP ist keine Voraussetzung. Als Beispiel: In der EU ist die Lebenserwartung höher als in den USA – obwohl das BIP pro Kopf in der EU um 50 Prozent niedriger ist als in den Vereinigten Staaten. In Costa Rica und Kuba ist die Lebenserwartung in einer Zeit gestiegen als das BIP überhaupt nicht gewachsen ist. Warum? Weil man dort in der gleichen Zeit in Gesundheitsversorgung und Bildung investiert hat.

„Die historische Bilanz ist eindeutig: Wirtschaftswachstum selbst hat keine direkten, positiven Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung“, fasst der Historiker Simon Szreter zusammen. „Das Beste, das man sagen kann, ist, dass es das längerfristige Potenzial für Verbesserungen der Gesundheit der Bevölkerung schafft“, meint Szreter.

Progressive Politik macht uns gesünder und älter

Selbst wenn das BIP und das Wirtschaftswachstum sich gut entwickeln, hängt es von den politischen Kräften in einem Land ab, ob das auch bei allen Menschen ankommt oder nicht. Denn entscheidend ist die Verteilung: Konzentriert sich das Wachstum bei einigen wenigen oder investiert ein Staat in Bildung und Gesundheit für alle?

Historisch gesehen waren es progressive Bewegungen, die für bessere Lebensbedingungen eingetreten sind – und die einen Fortschritt erwirkt haben. Weil sie z.B. für Arbeitsrechte und Schutzbestimmungen, für Urlaub und Erholung, für mehr Hygiene in Krankenhäusern, für kostenloses Essen armer Kinder oder ähnliches eingetreten sind.

Industrielle Revolution war negativ für die Gesundheit und Lebenserwartung

„In fast jedem historischen Fall war der erste und direkteste Effekt des schnellen Wirtschaftswachstums ein negativer Effekt auf die Gesundheit der Bevölkerung“, sagt der Historiker Simon Szreter. Als Beispiele führt er die hohe Säuglingssterblichkeit und die sinkende Lebenserwartung an, zum Beispiel in Großbritannien. Dort sank zwischen den 1780er und 1870er Jahren die Lebenserwartung auf das Niveau des 14. Jahrhunderts – als die Pest wütete.

In Manchester und Liverpool, den beiden englischen Zentren der Industrialisierung, brach die Lebenserwartung im Vergleich zu den nicht industrialisierten Teilen des Landes ein. In Manchester sank sie auf nur noch 25 Jahre. Im ländlichen Surrey hingegen konnten die Menschen damit rechnen, 20 Jahre länger zu leben.

Laut Szreter geschah das Gleiche in jedem Land, das unter diesem Aspekt untersucht wurde, darunter auch Deutschland, Australien und Japan. Ähnliche Katastrophen ereigneten sich auch in Kolonien wie Irland, Indien und dem Kongo, da sie gewaltsam in das europäische Industriesystem eingebunden wurden.

Historisch: Mehr Hygiene, Wahlrecht und Gewerkschaften sorgten für mehr Lebensqualität

Erst in den 1880er Jahren begann die Lebenserwartung in industrialisierten Städten endlich zu steigen – zumindest in Europa. Aber was hat diese plötzlichen Gewinne ausgelöst? Szreter kommt zum Schluss, dass Interventionen der Grund waren: Der Kampf für mehr Hygiene.

Aktivisten des öffentlichen Gesundheitswesens hatten entdeckt, dass die Gesundheit der Bevölkerung durch das Trennen von Abwasser und Trinkwasser verbessert werden kann. Fabrikbesitzer lehnten das aber ab. Sie weigerten sich, Beamte auf ihre Grundstücke zu lassen, um Sanitäranlagen zu bauen. Sie weigerten sich auch, Steuern zu zahlen, die es gebraucht hätte, um all das zu finanzieren.

Der Widerstand der kapitalistischen Klasse wurde erst gebrochen, als das allgemeine Wahlrecht (erst nur für Männer, später auch für Frauen) eingeführt wurde und sich Arbeiter und Arbeiterinnen in Gewerkschaften organisierten. All das war die Voraussetzung, um Interessen gegen Fabrikbesitzer durchzusetzen, um Sanitäranlagen zu errichten und eine allgemeine Gesundheitsversorgung, Schulen und Universitätszugang zu ermöglichen. Laut Szreter ist das die Grundlage für die steigende Lebenserwartung im 20. Jahrhundert.

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