Seenotrettung Flüchtlinge
Europa

Statt Seenotrettung: Treibt EU-Behörde Frontex Flüchtlinge aufs offene Meer zurück?

(c) Sea-Watch e.V.

Der EU-Grenzschutzbehörde Frontex wird die Beteiligung an illegalen Rückschiebungen von Geflüchteten vorgeworfen. Wegen diesen sogenannten Pushbacks ermittelt jetzt die EU-Antibetrugsbehörde OLAF. Dazu kommt noch: Frontex soll auch die eigenen Angestellten psychsich misshandelt haben. Auch bei der Postenvergabe soll es ungesetzlich zugegangen sein. Frontex-Chef Fabrice Leggeri bestreitet die Vorwürfe, aber behindert die Aufklärung. EU-Parlament und EU-Kommission kritisieren – und fordern Rücktritt.

Im Oktober 2020 kamen erste Berichte über die Beteiligung von Frontex an illegalen Pushbacks an den EU-Außengrenzen auf. An der griechisch-türkischen Seegrenze und der bosnisch-kroatischen Grenze sollen Asylsuchende einfach zurückgedrängt worden sein, damit sie keinen EU-Boden betreten. Außerdem soll es dort auch zu Misshandlungen von Geflüchteten gekommen sein. Inwieweit die EU-Behörde involviert ist, wird nun untersucht.

Systematische Gewalt an kroatischer Grenze

Die Missachtung der Menschenrechte habe System – darauf weisen Erfahrungsberichtete von Flüchtlingen und NGOs hin. Gewalte werde „als gängige Praxis der kroatischen Polizei an der Grenze zu Bosnien“ gegen Flüchtlinge eingesetzt. Bereits letzten Juni forderte die EU-Kommission hierzu Aufklärung.

Doch damit nicht genug: Nicht nur nationale Behörden stehen unter Verdacht illegale Rückschiebungen zu vollziehen – auch die EU-Grenzschutzbehörde Frontex selbst. Besagte Pushbacks an den EU-Grenzen verstoßen gegen nationales und internationales Recht. Denn Geflüchtete haben das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Unfreiwillige Rückschiebungen durch die offizielle EU-Behörde sind illegal. Eigentlich muss jeder Fall einzeln beurteilt werden, so verlangen es die Flüchtlingskonvention und EU-Recht.

Die Zahl der Ankömmlinge in der EU sinkt seit Jahren, so das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Im vergangenen Jahr waren es 95.000 Personen – also 23 Prozent weniger als im Jahr davor und 33 Prozent weniger als im Jahr 2018.

„Es müsste möglich sein, mit so wenig Ankünften fertigzuwerden“, so das UNHCR.

Illegale Pushbacks auch bei griechischer Seegrenze

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Ein Flüchtlingsboot vor der griechischen Insel Lesbos im Februar 2020. Quelle: Angelos Tzortzinis/ dpa

Online finden sich einige Videos, die zeigen, wie Schlauchboote mit geflüchteten Personen von Frontex-Kontrollbooten von der Küste raus aufs Meer gezogen werden. Dort werden sie dann sich selbst überlassen. Das sind Pushbacks, Geflüchtete werden „zurückgeschoben“. Diese Videos decken sich mit Erfahrungsberichten der Geflüchteten selbst, und auch mit NGOs die Vorort versuchen zu helfen.

„Das Thema Pushbacks beschäftigt uns hier in Griechenland schon seit vielen Jahren. Aber seit März haben wir eine steigende Zahl von Berichten von Pushbacks auf dem Meer, aber auch an der Landesgrenze.“, so Jason Hepps vom UN-Flüchtlingshilfswerk in Athen.

Die Boote werden laut Berichten des Spiegel in Richtung Türkei zurückgetrieben. Dort muss die türkische Küstenwache die Menschen dann in türkischen Gewässern retten. Auch die Vereinten Nationen verurteilen EU-Länder nun dafür aufs Schärfste und sprechen von einem Pushback-System:

„Dabei handele es sich offenbar um eine systematische Praxis: Boote mit Ankömmlingen würden wieder hinaus aufs offene Meer gezogen, und Menschen, die es an Land geschafft hätten, würden zurück in die Boote gedrängt und zum Ablegen gezwungen.“

Seit April 2020 waren bei mehreren dieser Pushback-Aktionen auch Frontex-Beamte in der Nähe, so der ORF. In einem solchen Fall sollen laut Spiegel auch deutsche Soldaten beteiligt gewesen sein.

Frontex bestreitet Vorwürfe

Frontex-Chef Fabrice Leggeri wies die Vorwürfe stets zurück, so die Deutsche Presse-Agentur.  Leggeri bestätigte zwar, dass die in den Berichten genannten Schiffe an den besagten Tagen im Einsatz waren. „Aber es gab keine Beweise, dass sie an Pushback-Aktivitäten beteiligt waren“, so Leggeri im Innenausschuss des EU-Parlaments Anfang des Jahres. Auch Athen bestritt die Vorwürfe.

Frontex-Chef schiebt Verantwortung auf griechische Küstenwache

Insgesamt unterstütz die EU-Behörde Frontex Griechenland mit rund 600 Mitarbeitern bei der Grenzsicherung. Laut Frontex-Chef lag die Befehlsgewalt bei den besagten Einsätzen aber alleine bei den griechischen Behörden.

Medienberichte und geleakte Dokumente legen aber nahe, „dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex von systematischen Grundrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen wusste und teilweise sogar daran beteiligt war“, so die SPÖ-EU-Abgeordnete Bettina Vollath.

Auch sie verlangt bereits seit letztem Winter im EU-Parlament Aufklärung.

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SPÖ-EU-Abgeordnete Bettina Vollath forderte bereits im Dezember 2020 lückenlose Aufklärung zu der Pushback-Affäre. Quelle: Twitter

Frontex-Chef Leggeri behindert interne Untersuchungen

Zuerst wurde versucht, die Vorfälle  intern aufzuklären: Der Frontex-Verwaltungsrat richtete dafür eine Arbeitsgruppe ein. Eigentlich sollte sie bereits Mitte Jänner 2021 ihren Abschlussbericht vorlegen. Doch dazu kam es nie: Denn Frontex hält Informationen zurück. Medienberichten zufolge wurden bereits Anfang Dezember die Büros von Leggeri und seinem Kabinettschef durchsucht. Es handelt sich um Untersuchungen bis in die höchsten Reihen.

Allerdings ohne Erfolg: Dem Frontex-Chef selbst wird vorgeworfen, die Ermittlungen zu behindern. Insgesamt sind fünf Fälle in der Pushback-Affäre laut internem Bericht unaufgeklärt. Auch der Frontex-Verwaltungsrat kritisiert Leggeri, der offenbar Information zurück hält.

Pushback-Affäre: EU-Antibetrugsbehörde OLAF schaltet sich ein

„OLAF kann bestätigen, dass eine Untersuchung in Bezug auf Frontex eingeleitet wurde“, teilte die Pressestelle der Antibetrugsbehörde dem Nachrichtenportal Politico mit. OLAF schaltet sich nur bei Fällen „von Betrug zum Nachteil des EU-Haushalts, von Korruption sowie von schwerwiegendem Fehlverhalten innerhalb der Organe und Einrichtungen der EU“ ein. Und diese Vermutung ist in der Pushback-Affäre gegeben. Bis jetzt gelte aber die Unschuldsvermutung, wie eine OLAF-Sprecherin dem Spiegel gegenüber betont.

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EU-Innenkommissarin Ylva Johannsson fordert lückenlose Aufklärung rund um die Pushback-Affäre an den EU-Außengrenzen. Auch die EU-Behörde Frontex muss sich an EU-Recht halten. Quelle: dpa

Psychische Misshandlung und Postenschacher

Doch damit nicht genug: Bei Frontex soll es auch zu Fehlverhalten gegenüber den eigenen Angestellten gekommen sein. Der ORF berichtete von „psychischer Misshandlung des Personals und einseitiger Postenvergabe“. Insiderinformationen nach geht es bei der Untersuchung vor allem um „psychische Demütigung von Mitarbeitern“ durch den Chef und seine Umgebung.

Ein weiterer Vorwurf lautet, der französischen Frontex-Chef habe Franzosen bei der Postenvergabe bevorzugt. Konkrete Einzelheiten gibt es dazu aber noch nicht, die Ermittlungen sind noch im Gang. Laut vier anynomen EU-Beamten führte das Fehlverhalten der Chefetage aber schon so weit, dass einige hochrangige Beamte Frontext bereits von sich aus verlassen haben.

EU-Parlament zu Pushback-Affäre: Leggeri muss gehen

Frontex-Chef Leggeri steht also zunehmends unter Druck. Auch den EU-Abgeordneten reichen seine bisherigen Erklärungen zur Pushback-Affäre nicht aus. EU-Abgeordneter Damian Boeselager von der Partei Volt kritisiert etwa:

„Das Problem mit Leggeri ist, dass er eigentlich allen Fragen ausweicht, egal ob die mündlich oder schriftlich gestellt werden und jedes Fehlverhalten von seiner Agentur kategorisch ausschließt.“

Auch wusste Leggeri laut Geständnis zwar schon im Juli 2020 von Pushbacks durch die griechischen Küstenwache, informierte aber niemanden außer den griechischen Migrationsminister selbst.

Vom Chef der EU-Grenzschutzbehörde sei doch zu erwarten, dass er bei illegalen Rückschiebungen auch handelt. Nur zu zuschauen, wenn EU-Recht bei solchen Pushbacks gebrochen wird, ist gegen alle europäische Werte.

Obwohl er also davon wusste, informierte Leggeri das Parlament nicht. Das bezahlt er nun mit dem Vertrauenverlust. Es gäbe zu viele dieser Verdachtsfälle, sagte etwa die niederländische EU-Abgeordnete Sophie in ’t Veldt.

„Wir fragen uns, ob wir [Leggeri] vertrauen können.“

Auch die SPD-Abgeordnete Birgit Sippel bekräftigte den Vertrauenverlust in den Chef der EU-Behörde: „Es bleiben zu viele Fragen offen!“ Sie fordert Leggeris Rücktritt. SPÖ-EU-Abgeordnete Bettina Vollath verweist außerdem darauf, dass Frontex zur Seenotrettung verpflichtet ist. Die illegale Pushback-Affäre muss lückenlos aufgeklärt werden.

Das EU-Parlament erhöhte jüngst den Druck auf Frontex. Eine Arbeitsgruppe, der auch die SPÖ-EU-Abgeordnete Vollath angehört, soll die möglichen Grundrechtsverletzungen der EU-Behörde unter die Lupe nehmen. Ein Abschlussbericht wird im Juli erwartet.

Druck führt nun zu Rückzug in Ungarn

Der Druck zeigt nun erste Wirkung: Erst diese Woche am 27. Jänner wurde bekannt, dass sich Frontex aus dem umstrittenen Einsatz an der ungarischen Grenze zurückzieht. Ungarn soll nämlich trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom letzten Dezember weiterhin Migranten nach Serbien zurückgedrängt haben. Frontex stand wegen dem Einsatz Vorort unter Kritik.

„Indem Frontex weiterhin an Grenzüberwachungs- und Grenzschutzaktivitäten teilnimmt, riskiert es, sich mitschuldig zu machen“, hieß es in einem Brief der NGO Ungarisches Helsinki Komitee. Sie dokumentierten alle Fälle sorgfältig und sprechen von  über 4.400 Menschen, die seit dem Urteil im Dezember trotzdem illegal zurückgeschoben wurden.

 

Die Organisation Sea-Watch rettet Menschenleben an der EU-Außengrenze. Seit 2015 waren es über 38.000 Menschen. Auch 2021 werden sie alles daran setzen, so viele Menschen wie möglich vor dem Tod durch Ertrinken zu bewahren. Man kann Sea-Watch mit einer Spende unterstützen

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