Europa

Die Gelbwesten werden eine Schlüsselrolle bei den EU-Wahlen spielen

Ulysse Bellier/ Flickr, cropped: CC BY 4.0

Nach mehr als drei Monaten gehen Woche für Woche Gelbwesten auf die Straße. Nach den Ausschreitungen in Paris haben die Behörden ein Demonstrationsverbot auf den Champs-Élysées und rund um den Triumphbogen verhängt. Wie geht es weiter mit den Gilets Jaunes? Und wer sind die Menschen, die auf den Straßen und Kreisverkehren des Landes gegen Macrons Politik protestieren? Kontrast hat mit dem französischen Politikwissenschaftler Tristan Guerra gesprochen.

Guerra forscht dort,  wo die Bewegung der Gilets Jaunes begonnen hat: In den unzähligen Facebook-Gruppen und Diskussionen, die zur Revolution der Kreisverkehre geführt hat.

Kontrast: Viele Forscher versuchen derzeit herauszufinden wer die Gilets Jaunes sind. Welches Profil haben die Leute laut ihrer Studie?

Tristan Guerra: Überall in Frankreich treffen wir auf einen Typ der Gilets Jaunes: Arme Arbeitende, also Working Poor. Leute, die unter dem Durchschnittseinkommen leben, die aber nicht arbeitslos sind. Es sind hauptsächlich arme Arbeitende, die von ihrer Arbeit leben wollen und nicht nur überleben wollen. Sie wissen, dass ihre Arbeit nicht reicht, um anständig zu leben. Sie finden es nicht normal, dass sie arbeiten, aber nicht davon leben können. Anstand ist für sie ein wichtiges Thema. Sie haben das Gefühl in einer Gesellschaft zu leben, die sie nicht respektiert. Am 15. oder 20. des Monats haben sie oft kein Geld mehr, Friseurbesuche oder hin und wieder ins Gasthaus zu gehen, ist für sie nicht mehr leistbar. Sie wollen nicht von Sozialhilfen leben, sie arbeiten und wollen in Würde leben können.

Kontrast: Wer ist zum Beispiel ein „armer Arbeitender“? Welche Berufe fallen in diese Kategorie?

Tristan Guerra: Arbeiter, Angestellte – viele Leute, die im Sozialbereich arbeiten wie Krankenschwestern oder im Transportwesen wie LKW-Fahrer. Oftmals sind das also Jobs im Dienstleistungssektor, die schlecht bezahlt sind.

Bei den Gelbwesten sind mehr Frauen als Männer aktiv

Kontrast: Und wie schaut es mit dem Männer-Frauen Verhältnis aus?

Tristan Guerra: Das ist ein besonders interessanter Aspekt bei der Bewegung der Gilets Jaunes: Es sind mehr Frauen als Männer aktiv dabei, was unüblich ist bei sozialen Bewegungen. Viele Frauen haben in unserer Umfrage gesagt : „Die Bewegung ist für meine Kinder, damit sie nicht so leben werden wie ich. Sie sollen es einmal besser haben.“ Es sind sehr viele alleinstehende Frauen dabei, die viel arbeiten und es geht sich trotzdem nicht aus.

Kontrast: Wie kann man die Bewegung politisch einordnen?

Tristan Guerra: Ob links oder rechts, der Großteil der Gilets Jaunes findet sich in keiner der klassischen Kategorien wieder. Sie lehnen die traditionellen Parteien weitaus stärker ab als der französische Durchschnitt. Man kann nicht sagen, dass sie apolitisch sind, aber der Großteil kann sich mit keiner der etablierten Gruppierungen identifizieren. Wenn man sich die anschaut, die sich in Parteien wiederfinden, dann ist es entweder bei Mélenchons linker Partei oder bei Marine Le Pens rechter Partei „Rassemblement national“, aber auch das ist eine Minderheit.

Kontrast: Welches Ergebnis hat sie am meisten überrascht?

Tristan Guerra: Ich hätte mir ursprünglich gedacht, dass die Gilets Jaunes zum Beispiel migrationsfeindlicher wären als die durchschnittliche französische Bevölkerung. Aber das stimmt nicht, dafür üben sie sehr starke Kritik an den Eliten: den politischen Verantwortungsträgern, den Medien, den Reichen… Aber sie richten sich nicht gegen diejenigen, die schlechter gestellt sind als sie selbst. Sie richten sich nicht etwa gegen Migranten oder Sozialhilfeempfänger, sondern ihre Wut richtet sich gegen die oberen Gesellschaftsschichten, gegen jene, die sie als korrumpierte Eliten wahrnehmen.

Kontrast: Welche Themen liegen den Gilets Jaunes besonders am Herzen?

Tristan Guerra: Die drei Themen, die am häufigsten genannt wurden sind: Ungleichheit, sinkende Kaufkraft und Armut. Das heißt, soziale Themen liegen weit vor Themen wie Steuern. (Anm. Ausgangspunkt war eine Steuererhöhung auf Benzin). Es ist keine Bewegung, die sich gegen Steuern richtet. Es sind Leute, die wollen, dass die Reichen ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten. In den letzten Jahren hat sich die politische Debatte sehr stark auf kulturelle Themen konzentriert: Burkini, Schweinefleisch in Kantinen usw.

Aber mit den Gilets Jaunes wird die wirtschaftliche Dimension in den Vordergrund gebracht – jetzt erinnern sie uns daran, dass es soziale Konflikte gibt, die es in der Gesellschaft zu verhandeln gilt. Wir haben schwerwiegende sozio-ökonomische Probleme und beginnen jetzt darüber zu reden.

Kontrast: Wie könnte es mit dieser untypischen Bewegung weitergehen?

Tristan Guerra: Derzeit ist die Bewegung eher am Schrumpfen, aber das heißt nicht, dass die Bewegung an Relevanz verloren hat. Die Bewegung könnte jederzeit wieder aufflammen und ich glaube, sie könnten eine Schlüsselrolle bei den EU-Wahlen spielen. Die Themen der Gilets Jaunes – Gleichheit, Armut, steuerliche Gerechtigkeit – werden den Wahlkampf dominieren und sicherlich von den anderen Parteien aufgegriffen werden.

Aber Sie wissen, in den sozialen Medien braucht es nicht viel, um Leute wieder zu mobilisieren. Die Facebookgruppen sind nicht verschwunden, es wird zwar weniger gepostet und weniger kommentiert, aber die Leute bleiben in Kontakt. Wenn es eine wirtschaftliche Rezession gibt, kann es wieder voll losgehen.

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… migrationsfeindlic
… migrationsfeindlic
24. März 2019 06:16

her … als Kurz (1 € Stundenlohn für merkantilistisch Versklavte wurden seinerseits gefordert) und nun, 3 Jahre später, von Kickl und Co. auf 1,50 fixiert, kann niemand sein. Diese Leute sind meines Erachtens nicht nur noch migrationsfeindlicher als feindlich, sondern besonders volkswirtschaftlich schädlicher.

… migrationsfeindlic
… migrationsfeindlic
24. März 2019 06:12

her … als Kurz (1 € Stundenlohn für merkantilistisch Versklavte!) und nun, 3 Jahre später, von Kickl auf 1,50 fixiert sind meines Erachtens nicht nur noch migrationsfeindlicher, sondern besonders volkswirtschaftlich schädlicher.

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