Im Spannungsverhältnis von Krieg und Verfolgung, Austrofaschismus, NS-Diktatur und Widerstand entwickelt Luis Stabauer in seinem Roman “Die Weißen” das Suchen einer neuen Gesellschaft. Von 1934 bis zur Gegenwart. Der Roman erschien im Hollitzer Verlag.
Trotz schwerster Schicksalsschläge werden die beiden Wahlgeschwister Ernst und Franzi zu positiven Persönlichkeiten, die nicht aufgeben.
Als Kinder und Jugendliche sind sie Teil der Wiener Widerstandsgruppe “Die Weißen”, danach verlieren sie sich aus den Augen. Erst 65 Jahre später begegnen sie sich wieder.
Das Buch gehört im Gedenkjahr 2018 auf jede Leseliste. Hier eine kleine Textprobe.
Nachdem der Transporter vor der Einfahrt zur Portierloge anhalten hatte müssen, konnte Ernst die Aufschrift lesen: Heilpädagogische Klinik der Stadt Wien – Am Spiegelgrund, bevor ihn das übliche Geplärre empfing, „Zufahrt zur Abgabe des Zöglings freigegeben, Heil Hitler!“ „Danke, Heil Hitler!“ Nach kurzer Fahrt wurde die Ruckklappe geöffnet. Er sprang vom Wagen, umklammerte seinen Rucksack. Grob packte ihn der Begleitsoldat am Arm und führte ihn zu einem hell erleuchteten Haus. Pavillon 17 konnte er lesen. Dort richtete der Soldat sein Gewehr auf ihn und läutete an. Eine Frau in brauner Schwesterntracht erschien in der Tür, machte einen strammen Hitlergruß und schlug die Absätze zusammen. Hinter ihnen wurde die Tür versperrt. Der Bewacher wies ihn an, im ersten Stock zu warten. „Ernst Peter ins Schwesternzimmer!“, schnarrte es aus dem Lautsprecher. Nach dem Eintreten überreichte ihm eine Schwester zwei kleine Wäschepakete: „Das ist für den Tag und das für die Nacht. Den Arbeitsanzug bekommst du morgen. Bett 18 im Schlafsaal C. Geh dich waschen, in einer halben Stunde ist Nachtruhe.“ Im Waschraum standen zwei Burschen an den Waschbecken, sie wippten mit den Oberkörpern vor und zurück. Leise ging Ernst in den Schlafsaal. Fluchtgefahr stand auf einer Tafel über seinem Bett. Er legte sich hin und starrte zur Decke. „Verdammt, wo bin ich hier gelandet“, murmelte er wenig später. Hätte er doch das herumliegende Essenspaket nicht genommen. Ja, er war sehr hungrig gewesen. Dass sie ihn deswegen gleich in die Jugendstrafanstalt stecken würden, hatte er nicht ahnen können. Die Flucht aus Kaiserebersdorf hätte gelingen können, darin waren sich er und der „Politische“ einig gewesen. Blöderweise hatten sie einen Mithäftling eingeweiht. Die Verhafteten der Weißen kamen ihm in den Sinn. Wie viele von ihnen würden sie bereits hingerichtet haben? Wer hatte die Gruppe verraten? Er zog sich die dünne Decke bis zum Kinn. Im Halbdunkel sah er in einigen Betten wippende Körper.
Die monotonen Bewegungen wurden von rhythmischem Brummen begleitet, das auf ihn wie geisterhafte Gesange wirkte. Eines seiner Gedichte fiel ihm ein, drei neue Zeilen verdichteten sich in seinem Kopf: ohnmacht macht macht ohnmacht mich ohnmacht macht mich Um sie nicht zu vergessen, wiederholte er sie murmelnd, und darüber schlief er irgendwann ein. Am nächsten Morgen maß ein Arzt seinen Kopfumfang, die Nasen-, die Arm- und die Beinlange, zeichnete Ernsts Kinn nach und stellte ihm Fragen zu seiner Familie. „Siebzehn ist das Bürscherl, und schon so durchtrieben“, sagte der Arzt. Die Tagesabläufe waren genau geregelt, die Schwestern führten ein strenges Regiment. „Bei uns wird alles aufgegessen und ausgetrunken, wer nicht spurt, bekommt eine Sonderbehandlung bei Dr. Gross“, drohten sie im Speisesaal. Ernst wurde klar, dieser Gross war derselbe Arzt, der ihn vermessen hatte. In den folgenden Tagen und Wochen begegnete er ihm immer wieder. Mit am Rücken verschränkten Armen schlenderte er durch die Schlafsäle. Bei der kleinsten Unruhe blieb er stehen, wandte ganz langsam den Kopf und schaute den Unruhestifter durchdringend an. … Franzis Vati wird von den Nazis ermordet. Noch am Tag unserer Ankunft in Wien fuhr Mutti ins Einser. Sie bekam für den Rest der Woche Besuchsscheine. „Vati lasst dich grüßen“, richtete sie mir daheim aus. „Ich habe ihm von unserer Berlinfahrt und von deinem Gnadengesuch an Himmler erzählt, er ist sehr stolz auf dich.“ Sie stand auf, holte die Flasche des Selbstgebrannten aus der Kredenz und schenkte sich ein Stamperl ein. „Und?“, fragte ich. „Es ist noch nichts da, aber da sie die Besuchserlaubnis wieder freigegeben haben, könnte die Begnadigung ebenfalls bald kommen. Vati meint das auch. Vielleicht wird er sogar wieder auf den Mittersteig verlegt, dann wäre er sicher gerettet. Prost!“ „Siehst du, gut dass ich mitgefahren bin.“ „Langsam, langsam, mein Fräulein Gscheitmaier“, entgegnete Mutti, „noch wissen wir nichts.“
Für 17. März 1943 war wieder eine Verhandlung angesetzt worden, an der Vati als Zeuge teilnehmen sollte. Er war noch immer im Einser und Mutti konnte ihn besuchen. Sie schrieb mir für Mittwoch eine Entschuldigung. Beinahe hätte Mutti keine Wurst bekommen, aber sie schaffte es doch. Ich steckte wieder ein Wurstbrot in meinen Mantel. Am Eingang zum Landesgericht mussten wir warten. Zehn oder fünfzehn Personen, fast lauter Frauen, standen neben dem großen Eingangstor, niemand sprach. Mutti ging zum Portier. „Die Verhandlung ist verschoben und Besuchsschein hatte er auch keinen für mich“, sagte Mutti danach. „Gestern war doch Dienstag“, fiel mir ein, „vielleicht haben sie Vati wieder auf den Mittersteig gebracht und er muss dort die Wäsche entladen. Fahren wir hin?“ In diesem Augenblick kam ein älterer Mann auf uns zu und rempelte meine Mutter ganz bewusst an. Er wollte ihr heimlich etwas geben, aber es fiel auf den Boden. Mutti tat so, als müsse sie mir die Schuhe binden, dabei hob sie ein kleines Papierknäuel auf, öffnete es nur ganz wenig und steckte es in ihre Manteltasche. Dann blickte sie zum Rempler. Der stand wieder bei den anderen und nickte leicht. Mutti zog mich fort. Ich setzte zu einer Frage an, aber sie schüttelte fast unmerklich den Kopf. An der Ecke zur Lerchenfelder Straße angekommen, nutzten wir den Schutz eines Hauseinganges. Mutti zog den zerknitterten Zettel aus der Tasche und las. Ich wusste nicht, ob da so viel draufgestanden war oder ob sie den Text öfter gelesen hatte. Ihr Gesicht wurde immer bleicher. „Mutti“, sagte ich nur. Sie zog mich zur Straßenbahn-Haltestelle und obwohl ich noch einige Male „Mutti“ sagte, bekam ich keine Antwort. Das musste eine besondere Nachricht gewesen sein, sie hatte sonst immer mit mir gesprochen. Daheim am Küchentisch legte Mutti das Papier auf den Tisch und strich ein paarmal mit der Hand darüber, um es zu glätten. „Franzi, du musst jetzt ganz stark sein“, sagte sie, bevor sie den Zettel zu mir drehte: Sie haben es getan! Toni gestern hingerichtet. Dürfte in der Gerichtsmedizinischen liegen. Bleib stark!
Hier gibt es Lesetermine und weitere Infos.
Luis Stabauer, geboren 1950, lebt als Autor in Wien und in Seewalchen am Attersee.
Zuletzt erschienen die Romane Wann reißt der Himmel auf (2014) und Atterwellen (2015).
Er ist Absolvent der Leondinger Akademie für Literatur und Gründungsmitglied der Literaturgruppe Textmotor in Wien.
Stimmen zum Buch:
„Stabauer bettet seinen politischen Roman und die Personen, die diesen prägen, in die konfliktreiche Entwicklung Österreichs im 20. Jahrhundert ein. Ein spannendes und berührendes Buch.“
Univ. Prof. i.R. Dr. Emmerich Tálos
„Am Beispiel einer Wiener Familie lässt Luis Stabauer Ereignisse und Verbrechen vor und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in ihrer Heimatstadt lebendig werden. Er hat mit diesem Buch ein Denkmal gegen das Vergessen dieser Zeit geschaffen.“
Nikolaus Habjan (Regisseur, Puppenspieler)
Danke fuer die Buchbesprechung, war letzte Woche bei dieser
im rep-club war sehr ergreifend.
Besuchen Sie doch die Site von Luis!
wenn sie nicht allzu sehr ins fiktive abgleitet und mehr autobiographisch daher kommt: lesenswert!
Erinnert mich ganz stark an die ÖVP! Sehr stark!
schließt eine Autobiografie aber aus.
ÖVP??? Da verstehe ich etwas nicht!
Bei dieser oevp kann man nichts verstehen, einst
austrofaschistisch mit musolini – dann gegner des
Hitler-faschismus. Nach den krieg ‘christlich-sozial
und nun….. man wird sehen…..