Thomas Piketty ist einer der wichtigsten Ökonomen unserer Zeit. Er beschäftigt sich vor allem mit sozialer Ungleichheit und deren Auswirkung auf unsere Demokratie. Nach seinem Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert präsentiert Piketty sein neues Monumental-Werk Kapital und Ideologie. Wir haben ihn in Wien zum Gespräch getroffen.
Kontrast: Glauben Sie, dass Krisen wie die Corona-Krise einen Wandel in der Gesellschaft hervorrufen können?
Piketty: Zu diesem Zeitpunkt kann noch niemand genau sagen, was sich alles wegen Corona verändern wird. Aber bis vor einigen Wochen wäre es noch politisch unmöglich gewesen, den Flugverkehr einzudämmen, weil man damit ja der Wirtschaft schadet – obwohl wir wissen, dass wir CO2-Emissionen reduzieren müssen. Aber als dann plötzlich die Corona-Krise ausbrach, hatte man gute Gründe, den Flugverkehr zu beschränken, und Menschen sind zuhause geblieben.
Auch durch die Home Office-Situation werden wir etwas Neues lernen. Es kann tatsächlich sehr gut funktionieren, von zu Hause aus zu arbeiten. Das erkennen die Menschen und das wird einen Einfluss auf unsere Gesellschaft haben. Auch dass der Staat in dieser Krisensituation Dinge macht, die wir vorher für nicht möglich gehalten haben, bleibt nicht unbemerkt. Man sieht: Für massive Veränderungen benötigt man keine Kriege.
Apropos: Laut dem österreichischen Historiker Walter Scheidel können nur Krieg oder Revolution eine allgemeine Umverteilung auslösen. Wie sehen Sie das?
Piketty: Ich finde das zu pessimistisch! Es braucht keine Kriege oder Krisensituationen dafür. Schauen Sie sich Schweden an: Dort blieb man weitestgehend von den Weltkriegen verschont und hat trotzdem eine enorme Umverteilung geschafft. Noch zu Beginn des 20. Jahrhundert war Schweden von enormer sozialer Ungleichheit geprägt. Selbst bei Wahlen hatten die Reichen einen Vorteil, denn die Anzahl der Stimmen wurde nach Einkommen gemessen. So hatten die Reichen ein Vielfaches der Stimmen der einfachen Bürger. Heute ist Schweden weltweit Vorbild für soziale Gerechtigkeit. Geschafft hat Schweden das ganz ohne Krieg und Verwüstung. Kriege oder ähnliches ist also keine Notwendigkeit für Umverteilung.
Auch die Klimakrise und die Finanzkrisen änderten unsere Wahrnehmungen von Ungleichheit und verstärkten den Drang, unser Wirtschaftssystem zu verändern.
Allerdings ist es nicht die richtige Strategie, auf eine Krise zu warten, um ein System zu ändern. Denn Krisen allein sind nicht ausreichend.
Sie schlagen ein neues Wirtschaftsmodell vor, das Sie ‘partizipativen Sozialismus’ nennen. Kern dieses Modells ist eine progressive Vermögenssteuer. Was waren die Reaktionen auf diesen Vorschlag?
Piketty: Was ich als ‘partizipativen Sozialismus’ bezeichne, besteht aus mehreren Komponenten. Erstens: Bildungsgerechtigkeit. Es gibt heute eine Menge Heuchelei bei diesem Thema. Alle sprechen von Chancengleichheit und gleicher Bildung. Aber wenn man sich anschaut, wo und wie tatsächlich in Bildung investiert wird, merkt man, dass Kinder aus ärmeren Haushalten benachteiligt werden. Denn der größte Teil an Investitionen geht an privilegierte Schulen. Deswegen ist Bildungsgerechtigkeit ein wichtiger Pfeiler.
Auch die Mitbestimmung von Arbeitern ist enorm wichtig. Die Meinung darüber ändert sich gerade in vielen Ländern. In Deutschland, Österreich, Schweden und Dänemark gibt es die Arbeiter-Mitbestimmung schon seit den 1950er Jahren. Leider hat sich diese Mitbestimmung nicht auf andere Länder ausgedehnt. Der Hauptgrund dafür war, dass die Aktionäre das nicht wollten.
Zur Organisation von Eigentum: Es gibt zwei Hauptdimensionen. Neben einer Einkommensteuer mit einem Höchstsatz von 90 Prozent sind eben auch die Vermögenssteuern ein zentraler Bestandteil des Modells.
Der Steuersatz für Vermögen soll höher sein als der durchschnittliche Vermögenszuwachs. Zusätzlich soll jede Person zum 25. Geburtstag ein Grundvermögen von 60 Prozent des Durchschnittsvermögens bekommen.
Für Frankreich wären das etwa 120.000 Euro. Finanziert wird dieses Grundvermögen durch die Vermögenssteuer. Dadurch wird die Ungleichheit immer kleiner anstatt zu wachsen.
Durch diese 120.000 Euro werden jungen Menschen viele Möglichkeiten eröffnet. Sie könnten ein Unternehmen gründen, ein Haus oder eine Wohnung kaufen. Dadurch müssen sie sich nicht mehr Jobs mit miserablen Arbeitsbedingungen annehmen. Das ist auch der Grund, warum die Reichsten der Bevölkerung dem kritisch gegenüberstehen.
Das Modell des partizipativen Sozialismus würde für mehr Gleichheit sorgen. Es wäre aber eine langfristige Entwicklungen, die nicht von heute auf morgen geschieht. Die Reichsten der Bevölkerung stehen solchen Entwicklung natürlich immer kritisch gegenüber – was nicht sonderlich verwundert.
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Zu den 120.000 Euro Grundvermögen: Kann es nicht sein, dass viele junge Menschen damit auch nicht unbedingt kluge Dinge tun könnten und alles verprassen? Bekommen Sie dann erneut Geld?
Piketty: Das kann bei reichen wie auch armen Menschen passieren. Ich glaube nicht, dass die Kinder von Millionären nur kluge Dinge mit ihrem Geld machen. Wohl eher das Gegenteil. Wir müssen aber akzeptieren, dass Menschen mit diesen 120.000 Euro machen können, was sie wollen. Das macht auch Vielfalt aus. Auf jeden Fall können sie, falls sie ihr Geld verprasst haben, nicht nochmal nach Geld fragen – das ist eine einmalige Zahlung. Trotzdem soll sich in diesem System jeder und jede auf eine finanzielle Basis, ein gutes Bildungssystem, ein funktionierendes Pensionssystem usw. verlassen können.
Ihr Modell zielt also nicht auf eine totale Gleichheit ab. Wäre es nicht radikaler, diese zu fordern?
Piketty: Ich glaube an die Vielfalt der Menschen, eine Vielfalt der Bestrebungen und Werte. Die 120.000 Euro kann jeder nutzen, wie er oder sie will. Trotzdem müssen die Systeme, die unsere Gesellschaft stützen, wie das Gesundheitssystem, Bildungssystem oder Rentensystem ihnen die Möglichkeiten geben, ihr Leben unabhängig von diesem Startkapital in Würde fortzusetzen.
Die linken Parteien erleben in Europa momentan keine goldene Ära. Was müssen diese Parteien ändern, um wieder Wahlen zu gewinnen?
Piketty: Ein wichtiges Thema muss der gleiche Zugang zu Bildung für alle sein. Damit will ich nicht sagen, dass jeder Menschen ein Doktorat machen soll überhaupt nicht, aber wir müssen uns auch anschauen wie der Staat in Bildung investiert. Es ist nämlich immer noch so, dass Kinder mit reichen Eltern viel wahrscheinlicher studieren gehen als Kinder aus ärmeren Haushalten. Das ist an sich schon ein Problem.
Wenn wir uns anschauen, in welche Bildungseinrichtungen der Staat besonders viele Mitteln investiert, dann sehen wir, dass es die Einrichtungen sind, wo besonders viele Kinder aus reichen Haushalten sind.
Umgekehrt ist es so, dass Kinder aus ärmeren Haushalten in den Bildungseinrichtungen sind, die im Verhältnis besonders wenige Mitteln vom Staat bekommen. Das wäre ein erster Punkt, an den linke Parteien anknüpfen sollten.
Der 44-Jährige Ökonom Thomas Piketty promovierte mit 22 in Wirtschaftswissenschaften und wurde mit 26 Professor am Massachusetts Institute of Technology. Er ist Gründungsdirektor der Paris School of Economics und ist auch am École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) tätig. Sein Forschungsschwerpunkt ist soziale Ungleichheit und die Frage, wie wir eine gerechtere Wirtschaftsordnung schaffen können. 2014 veröffentlichte Piketty Das Kapital im 21. Jahrhundert und erlangte dadurch weltweite Berühmtheit. Kapital und Ideologie ist seine neues monumentales Werk.