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Ungarn baut Grundrechte ab und stimmt gegen Gewalt-Schutz von Frauen – Kurz schweigt

Unter dem Mantel der Corona-Krise werden derzeit die Grund- und Menschenrechte in Ungarn angegriffen. Dies betrifft zuallererst Frauen, aber auch Homosexuelle und Trans-Menschen. Die ungarische Opposition ist empört, europaweit regt sich Widerstand, in internationalen Rankings wird Ungarn nicht einmal mehr als Demokratie geführt, sondern als „hybrides Regime“.  Nur einer schweigt: Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz.

Ungarns Verfall der Demokratie ist der steilste, den der Bericht Nations in Transit der Bürgerrechtsorganisation Freedom House jemals beobachtet hat. Im Jahr 2005 noch eines der Vorzeigeländer der neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, entspricht Ungarn 2020 nicht mehr den Standards einer Demokratie, schreibt die Organisation. Denn in Ungarn hat die Regierung jüngst entschieden, den Ausnahmezustand unbefristet zu verlängern. Orbán hat sich also selbst ermächtigt, unbefristet per Dekret zu regieren.

Es scheint, als würde die Regierung in Ungarn die Krise und den Ausnahmezustand nutzen, um die Demokratie in ihrem Land immer weiter auszuhöhlen.

Doch ausgerechnet in Österreich, Nachbarland und wichtiger EU-Partner, äußert sich die Regierung nicht. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz hat seinen Kollegen aus der Europäischen Volkspartei wiederholt gegen Angriffe verteidigt und ließ sich immer wieder gern mit ihm gemeinsam ablichten. Auch jetzt kommt Kurz kein Wort der Kritik über die Lippen.

Gegen Konvention zum Schutz von Frauen

Worum geht es nun konkret: Das ungarische Parlament weigert sich, die Istanbul-Konvention des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zu beschließen. Durch die Konvention werden Gewalt gegen Frauen und Mädchen, sowie alle Formen häuslicher Gewalt als Verbrechen eingestuft. Bereits 2014 wurde dies von der Mehrheit der EU-Staaten, inklusive Ungarn unterzeichnet. Allerdings nie vom Parlament ratifiziert. Und das, obwohl die häusliche Gewalt gerade jetzt während der Pandemie weltweit zunimmt.

Außerdem will die ungarische Regierung die Überwachung ausbauen und die EU-Datenschutzgesetze aussetzen, bis der Ausnahmezustand aufgehoben ist. Konkret soll es bis zum Ende des Ausnahmezustandes kein Recht auf Zugang zu und Löschung von persönlichen Daten geben.

Die Oppositionspolitikerin Bernadett Szél kritisiert, dass die Regierung mit der Verordnung „unter dem Vorwand der Epidemiesituation auf alle unsere persönlichen Daten zugreifen kann – und die Informationspflicht über die Verarbeitung dieser Daten ausgesetzt wird.“

Paragraph 33

Doch damit nicht genug: Ein ungarisches  Gesetzespaket sieht nun auch vor, die rechtliche Anerkennung der ungarischen Transgender-Community zu beenden. „Ich dachte vorher, dass das nicht passieren kann. (…) Mit jedem neuen Gesetz dachte ich, dass es nicht mehr schlimmer werden kann. Die Situation wird aber immer schlimmer und schlimmer“, so auch David Vig, der Direktor von Amnesty International Ungarn.

31. März: Ausgerechnet am Internationalen Tag für die Sichtbarkeit von Trans-Personen brachte die FIDESZ ein umstrittenes Gesetz ein. Hier besagt Paragraph 33, dass das Geschlecht von Personen nur mehr als „Geschlecht bei der Geburt“ eingetragen werden darf. Und zwar beim Standesamt und bei allen amtlichen Dokumenten. Das würde ein Ende der rechtlichen Anerkennung von Trans-Personen bedeuten, denn so wäre es ihnen unmöglich, Name oder Geschlecht zu ändern. Das Gesetz will also Transgender-Personen absprechen zu sein, wer sie sind – das ist eine grundlegende Verletzung ihrer Menschenrechte.

Die Diskriminierung von Trans-Menschen ist in Ungarn bereits Praxis: Seit 2 Jahren bearbeiten die ungarischen Behörden keine Anträge auf Geschlechts- und Namensänderungen mehr. Und das, obwohl es dafür eine rechtliche Grundlage gibt, wie die ungarische Aktivistin Ivett Ördög erklärt.

Vorwurf: „Identitätsdiebstahl“

Ördög beschreibt, dass sie schon mehrmals beschuldigt wurde, einem Mann die Identität und die Ausweise gestohlen zu haben. Denn, dass die Geschlechtsidentität von Trans-Personen nicht anerkannt wird, führt immer wieder zu Problemen, sobald sie sich irgendwo ausweisen müssen.

Bei jeder Ausweiskontrolle, sei es beim Öffi-Fahren oder bei einem Termin in der Bank oder beim Anwalt: man werde misstrauisch beäugt, und man müsse erklären warum man dem Bild auf dem Ausweis nicht ähnelt. Wenn man also zum Beispiel dem Augenschein nach ein Mann ist, laut Ausweis aber eine Frau. Transfeindliche Kommentare und Gewaltandrohungen sind als Reaktion keine Seltenheit.

Selbsteinschränkungen zur Folge: Als Vorsichtsmaßnahme fahre Ördög etwa nur noch mit dem Auto und vermeide Ausweiskontrollen so gut es geht, wie sie dem Sender FM4 erklärte.

Zwangsauflösung von Eheschließungen

Mehr noch: Laut der Begutachtung der ungarischen NGO Háttér Society könnte das neue Gesetz auch Auswirkungen auf alle Personen haben, welche bereits in den letzten Jahren erfolgreich ihre Dokumente ändern ließen. In Folge könnten dann auch Eheschließungen dieser Personen wieder aufgelöst werden –  denn die gleichgeschlechtliche Ehe gibt es in Ungarn nicht.

#Drop33: EU-weiter Aufschrei

Scheinbar hatte man in Ungarn gehofft, aufgrund der Covid-Pandemie, diese Beschlüsse unbemerkt durchzubringen. Doch Kritik wird bereits laut – nicht nur von der ungarischen Opposition.

#Drop33: EU-weiter Widerstand organisiert sich seitdem unter dem Hashtag #Drop33, zu deutsch: Lasst den Paragraph 33 fallen. Auch der europäische LGBTIQ-Dachverband Rainbow Rose fordert klare Aktionen angesichts der aktuellen Situation. Die österreichische Rainbow Rose-Präsidentin Camila Garfias stellt klar:

„In Ungarn, aber auch in Polen, erleben wir, wie unter dem Mantel der Corona-Krise die Grund- und Menschenrechte ganzer Bevölkerungsgruppen angegriffen werden. Die europäische Gesellschaft muss zusammenstehen und jeden Angriff dieser menschen- und demokratieverachtenden Politik stoppen!“

Widerstand in Österreich

Auch in Österreich solidarisieren sich zahlreiche Politikerinnen und Politiker mit diesem Protest – unter anderem die Wiener Stadträte Peter Hacker und Jürgen Czernohorszky, die EU-Abgeordneten Andreas Schieder und Evelyn Regner und die steirische Landesrätin Doris Kampus.

Auch von Michel Reimon, dem österreichischen Europasprecher der Grünen kommt scharfe Kritik: „Wenn Orban die ungarische Demokratie aushebelt, kann es für ihn keinen Platz in der EU geben.“ Man werde nicht wegschauen, denn “Autokratien und schon Ansätze von Diktaturen sind inakzeptabel.”

“Dass Ungarn die Istanbul-Konvention nicht ratifiziert, ist ein Schlag ins Gesicht aller betroffenen Frauen”, zeigt sich auch Monika Vana, grüne Delegationsleiterin im EU-Parlament entsetzt.

SoHo Vorsitzender Mario Lindner gibt aber zu bedenken: „Es braucht mehr als symbolischen Widerstand – das offizielle Österreich muss sich gerade in Zeiten wie diesen für den Erhalt der Grund- und Menschenrechte in unserem Nachbarland einsetzen.“ Was ist mit der österreichischen Bundesregierung?

„Ich habe ehrlich gesagt nicht die Zeit, mich mit Ungarn auseinanderzusetzen.“

Ende März sorgte ein Tweet des Kanzlers für Aufregung: Er äußerte sich zur Demokratie in Venezuela, gab zuvor aber in einer ZIB-Spezial kund, keine Zeit für eine Stellungnahme zur ungarischen Situation zu haben. Hat Kanzler Kurz einen zu vollen Terminkalender – oder steckt politisches Kalkül dahinter? Orbans FIDESZ-Partei ist – wie die ÖVP – nun mal Teil der Europäischen Volkspartei.

Für SoHo-Vorsitzenden Mario Linder zeigen die Angriffe auf die ungarische Trans-Community klar, wie Orban Politik macht: Indem Minderheiten angegriffen werden, soll von den eigenen Attacken auf den Rechtsstaat abgelenkt werden.

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