2018 feiern wir 100 Jahre Republik Österreich. Zahlreiche Festakte erinnern an das Ende des Ersten Weltkriegs und an die Bemühungen, die einstige Monarchie durch eine demokratische Republik zu ersetzen. Warum die Gründung so ein Kraftakt war, wie chaotisch es in der jungen Republik war und welche Fortschritte schon in den ersten Jahren gelungen sind, erzählt Michael Rosecker.
Der Erste Weltkrieg: Der Anfang vom Ende der Monarchie
Die Habsburgermonarchie geht in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges unter. Das massenhafte Sterben an der Front, der Hunger der Zivilbevölkerung und das rigorose Vorgehen gegen KritikerInnen zerstören auch das letzte Vertrauen in das habsburgische Herrscherhaus. Die Sehnsucht nach Frieden ist groß. Tausende Soldaten desertieren. Zu Hause treten Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen in den Streik. Versuche, das Vielvölkerreich in einen Staatenbund umzubauen, misslingen.
Die Nationalitäten sagen sich vom Habsburgerstaat los und gründen eigene Nationalstaaten. Die deutschsprachigen Mitglieder des Abgeordnetenhauses treten am 21. Oktober im niederösterreichischen Landhaus in Wien zur Provisorischen Nationalversammlung zusammen. Sie bereiten die Gründung der Republik Deutschösterreich vor.
Am 30. Oktober wird ein Staatsrat, also eine Regierung, eingerichtet und ein provisorisches Grundgesetz beschlossen, dessen Architekt Karl Renner ist. Auch das neue Staatsgebiet wird definiert.
Noch amtieren zwei Regierungen parallel: die kaiserliche unter Ministerpräsident Heinrich Lammasch und die neue deutschösterreichische unter Staatskanzler Karl Renner.
Victor Adler fasst die noch schwankende Situation in seiner Rede am 21. Oktober in der Nationalversammlung zusammen:
Der Staat „Deutschösterreich“ entsteht
Die Provisorische Nationalversammlung beschließt am 30. Oktober 1918, den Staat „Deutschösterreich“ zu gründen. Am 11. November 1918 gibt Kaiser Karl I. dem Drängen der Nationalversammlung nach und verzichtet darauf, „Anteil an den Regierungsgeschäften“ zu nehmen.
Schließlich wird am 12. November 1918 die Republik ausgerufen. In § 1 des „Gesetzes über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich“ hieß es:
„Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt.“
Doch an der Wiege der Republik steht nicht nur Jubel, sondern vor allem bittere Not. Es gibt zunächst zwischen Bürgertum, Bauern und Arbeiterschaft eine Basis der Kooperation und des Kompromisses. Meinungsunterschiede, Misstrauen und Anfeindungen steigern sich jedoch im Lauf des Jahres 1919. Das Besondere an der Gründung der Republik ist der Vereinigungswunsch mit Deutschland. Grundlage dafür soll das von US-Präsident Woodrow Wilson proklamierte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ sein. Das Staatsgebiet der jungen Republik soll alle deutschsprachigen Gebiete der österreichischen Reichshälfte der Monarchie umfassen. Deshalb erhebt die Nationalversammlung zu Beginn illusorische Ansprüche auf Deutsch-Böhmen, Deutsch-Südböhmen, Deutsch-Südmähren, das deutschsprachige Gebiet um Neubistritz, das Sudetenland sowie die deutschsprachige Sprachinseln Brünn, Iglau und Olmütz. Schlussendlich werden diese Regionen kein Teil des Staatsgebiets.
Die ersten Monate: Fortschritt im Chaos
In den krisenhaften Anfangsmonaten der „österreichischen Revolution“, wie Otto Bauer die republikanischen Umwälzungen 1918/1919 bezeichnet, gibt es gleich zu Beginn viele politische Veränderungen. Die Zerstörungen nach dem Krieg und die Angst vor dem Kommunismus führen dazu, dass die Sozialdemokratie eine führende Rolle einnimmt. Die beiden bürgerlichen politischen Lager sind teilweise aus Überzeugung, teilweise aus Furcht vor „Schlimmerem“ zu Kompromissen und Reformen bereit.
Die Einführung des allgemeinen, gleichen Männer- und Frauenwahlrechts bedeutet einen Emanzipationsschub. Frauen dürfen von nun an uneingeschränkt wählen, so sie – wie Männer – „das zwanzigste Lebensjahr überschritten“ haben, und sind uneingeschränkt wählbar, so sie das 29. Lebensjahr überschritten haben.
Die erste Wahl, an der Männer und Frauen teilnehmen dürfen, findet am 16. Februar 1919 statt. Die Wahlbeteiligung der Frauen lag bei 82,1 Prozent, jene der Männer bei 86,9 Prozent. Acht Frauen und 162 Männer erhalten ein Mandat. Sieben davon sind Sozialdemokratinnen: Anna Boschek, Emmy Freundlich, Adelheid Popp, Gabriele Proft, Therese Schlesinger, Amalie Seidel und Maria Tusch. Für die Christlichsozialen zieht Hildegard Burjan ins Parlament ein.
Sozialgesetze werden beschlossen, der Adel wird abgeschafft
Noch im November 1918 wird eine Arbeitslosenunterstützung beschlossen. Sie soll den heimkommenden Frontsoldaten helfen und die Tausenden ohne Arbeit vor der Armut schützen. Im März 1920 wird daraus eine Pflichtversicherung. Auch der 8-Stunden-Tag wird gesetzlich verankert.
Im Mai 1919 wird das Gesetz zur Errichtung von Betriebsräten beschlossen, das weltweit, abgesehen von der Sowjetunion, das erste seiner Art war. Ebenfalls wird im August 1919 das „Arbeiterurlaubsgesetz“ beschlossen. Beschäftigten steht pro Jahr ein Urlaub von einer Woche zu. Im Februar 1920 folgt ein Gesetz über die Errichtung von Kammern für Arbeiter und Angestellte.
Offiziell hat der Ex-Kaiser nicht abgedankt. Karl Renner droht ihm mit der Internierung im Falle einer Nichtabdankung. Tatsächlich verlässt er am 24. März 1919 das Land. Um einen eindeutigen Bruch mit der Rechtsordnung der Monarchie zu vollziehen und Restaurationsversuchen vorzubeugen, beschließt die Konstituierende Nationalversammlung im April 1919 die „Habsburgergesetze“. Ebenso wird der Adel generell abgeschafft.
Österreich bekommt eine Verfassung
Eine zentrale Aufgabe der Nationalversammlung ist das Ausarbeiten einer Verfassung für die Republik. Staatskanzler Renner beauftragt Hans Kelsen mit dem Entwurf. Er schreibt den österreichischen Staat als bundesstaatliche Republik mit ausgeprägtem Parlamentarismus fest. Die Regierung wird vom Nationalrat gewählt. Am 1. Oktober 1920 wird diese Verfassung beschlossen. Sie gilt bis 1929. Der von Kelsen angestrebte Katalog von Grund- und Menschenrechten findet nicht Eingang und scheitert am Widerstand der bürgerlichen Parteien.
Ein kaputtes Wirtschaftssystem
Der Weltkrieg hat in Österreich zur wirtschaftlichen Erschöpfung geführt. Der einst wirtschaftliche Großraums der Monarchie, der 53 Millionen Menschen und 676.615 Quadratkilometer Fläche umfasst hat, ist in viele kleine National-Ökonomien zerfallen. Alle Versuche, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu erhalten, scheitern. Spätestens mit der Errichtung von Zollgrenzen und der Einführung neuer Währungen ist dieses Projekt gescheitert. Als erstes Land führt Jugoslawien (Jänner 1919) und die Tschechoslowakei (Februar 1919) eine neue Währung ein. Die alte Kronen-Währung wird „abgestempelt“ und dadurch zu mehreren neuen Nationalwährungen.
Alte Infrastrukturen haben ihren Sinn verloren: Zum Beispiel befinden sich in der kleinen Republik mit ihren 6,5 Millionen Bürger_innen vier von fünf Lokomotiv-Fabriken der einstigen Donaumonarchie. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Rohstoffen muss nun mit Importen organisiert werden. Absatzmärkte sind verloren gegangen. Auch das Bevölkerungsverhältnis zwischen der einstigen Residenzstadt Wien und dem übrigen österreichischen Wirtschaftsraum ist herausfordernd.
Die Wirtschaftsleistung pro Kopf ist erheblich niedriger als vor Beginn des Krieges. Österreich verkraftet die Umstrukturierung schlechter als andere Nachfolgestaaten der einstigen Monarchie. Die Phase der Inflation verringert zwar die hohen Staatsschulden der jungen Republik. Doch für die Bevölkerung ist sie katastrophal:
- Ein Laib Brot kostet 1914 0,46 Kronen. 1922, am Höhepunkt der Teuerung, 5.670 Kronen.
- Ein Kilogramm Schweinefleisch hat 1914 noch 2,1 Kronen gekostet. 1922 sind es 40.000 Kronen.
Die Lebenshaltungskosten erreichen bis Sommer 1922 das 14.000-fache der Vorkriegszeit.
Die Lebenshaltungskosten erreichen bis Sommer 1922 das 14.000-fache der Vorkriegszeit.
Der größte Geldschein wurde mit der 500.000-Kronen-Banknote im September 1922 aufgelegt. Der Schleichhandel blüht. Das Vermögen der Mittelschicht wird vernichtet. Nur wenige glauben an die ökonomische Überlebensfähigkeit der jungen Republik. Sanfte Anzeichen der wirtschaftlichen Erholung und des Aufschwungs Mitte der 20er-Jahre – begünstigt durch die Währungsreform und die Einführung des Schilling – wurden mit der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Massenarbeitslosigkeit beseitigt.
Ein Scheitern auf Raten
Nach 1920 nimmt die Bereitschaft der Parteien, zusammenzuarbeiten, ab. Die Christlichsoziale Partei bildet mit deutschnationalen Parteien unterschiedliche bürgerliche Regierungen. Die Sozialdemokratie zieht sich in die Opposition zurück. Diese Spaltung des Landes steigert sich bis zum Ende der Demokratie 1933/34. Das Herausbilden paramilitärischer Verbände, ein radikale Feindbildzeichnung des politischen Gegners, Antisemitismus und das Schrumpfen der Volkswirtschaft leisten ihr Übriges zur Schwächung der Identifikation mit der Republik.
Die Weltwirtschaftskrise mit folgender Massenarbeitslosigkeit schafft bei vielen Menschen eine große Perspektivlosigkeit bei den Menschen. Die junge Republik wird letztlich 1934 zur scheiternden Demokratie und 1938 zum scheiternden Staat. Anton Pelinka nennt die Erste Republik ein „Zwischenösterreich“.
Dennoch erweisen sich nach 1945 die republikanischen Fundamente, die 1918 bis 1920 unter widrigsten Umständen geschaffen worden sind, als Basis für die Wiedererrichtung der Republik. So hat die Erste Republik auch ihre Verdienste, als Ausgangspunkt eines Lernprozesses und somit letztendlich einer Erfolgsgeschichte.
Zum Weiterlesen und Anschauen:
Die Österreichische Mediathek hat eine Sonderseite mit Video- und Audioausstellung zum Gedenkjahr 2018 eingerichtet!