Die Schriftstellerin Marianne will erleben, was harte, schlecht bezahlte Arbeit ist. Aus Paris kommt sie nach Caen, um dort Fähren zu putzen. Sie beginnt die Qualen und den Stress des Putzjobs am eigenen Leib zu spüren, freundet sich mit den anderen Frauen dort an – doch die Distanz bleibt, denn sie kann jederzeit wieder gehen.
Auf den Fähren im französischen Hafen von Ouistreham arbeiten die Putzkräfte unter härtesten Bedingungen. 230 Kabinen müssen im Akkord geputzt werden, solange die Fähre im Hafen liegt. Vier Minuten haben zwei Putzkräfte pro Kabine – Betten überziehen, Spiegel putzen, Mistkübel reinigen. „Noch ein bisschen schneller“, feuern sie sich gegenseitig an, wenn eine müde wird. „Keine Falten, wir dürfen nicht schludern“.
Der Druck der Vorgesetzten ist hoch, der Respekt vor den Putzfrauen klein. Und Marianne, die aus Paris kommt, dort ein Leben als Journalistin hat und diese Art der Unterordnung nicht gewohnt ist, gibt Konter. „Eine Bösartigkeit“ nennt sie die Zurechtweisung eines Vorgesetzten. „Versuchen Sie nicht, Leute mit mehr Grips zu belehren“, bringt er sie zum Schweigen. In Szenen wie diesen, die das Machtgefälle und die Demütigung der Frauen zum Thema haben, wird auch deutlich: Auch wenn Marianne es will, die Distanz zur echten Arbeitswelt der Arbeiterklasse-Frauen in Caen kann sie nicht überwinden. Sie wird nie Teil davon werden, kann jederzeit in ihr Leben als Intellektuelle zurückgehen – kann frech und aufmüpfig gegenüber den zynischen Reinigungs-Chefs sein, ohne ihre Existenz und die ihrer Kinder aufs Spiel zu setzen.
Der französische Schriftsteller und Regisseur Emmanuel Carrère hat in seinem Film „Wie im echten Leben“ die wahre Geschichte der Journalistin Florence Aubenas verfilmt. Den dokumentarischen Charakter hat er dadurch bewahrt, dass außer der Hauptrolle – die Juliette Binoche spielt – alle anderen Rollen von nicht-professionellen Schauspielerinnen gespielt wurden. Und die machen das gewaltig gut. Die Putzszenen, die präzise und körperliche Arbeit der Frau bekommen im Film eine Schönheit und Faszination. Selten bekommt man so viel körperliche Arbeit im Kino zu sehen.
Um 4.30 läutet der Wecker, der Mindestlohn ist 7,98, die Fahrt zur Fähre ist lange – die Arbeit dort beginnt um 6.30. Undercover-Journalistin Marianne teilt sich den Weg mit einer Kollegin. Die beiden werden Freundinnen, gehen zusammen kegeln und machen einen Abstecher an den Strand. Doch alles steuert auf den Moment des Verrats zu: Als Mariannes wahre Identität auffliegt, weil sie ein Passagier auf der Fähre erkennt („ich habe gehört, du schreibst jetzt ein Buch über Putzfrauen“), zerbricht die Freundschaft. Marianne versucht sich noch zu erklären: „Ich mache das, damit die Leute wissen, was ihr durchmacht“. Doch die Frauen fühlen sich nicht vertreten, sondern verraten und betrogen: „Soll ich mich dafür bedanken? Du demütigst alle.“
“Wie im echten Leben”, 2022 – Regie: Emmanuel Carrère. Buch: Florence Aubenas, E. Carrère, Hélène Devynck. Kamera: Patrick Blossier. Schnitt: Albertine Lastera. Musik: Mathieu Lamboley. Mit: Juliette Binoche, Hélène Lambert, Didier Pupin, Léa Carne, Steve Papagiannis, Evelyne Porée. Neue Visionen, 107 Minuten. Kinostart: 30. September 2022.