Etwa jede vierte Überstunde wurde letztes Jahr nicht bezahlt – und auch nicht mit mehr Freizeit abgegolten. Damit sind den Arbeitnehmer:innen 1,2 Milliarden Euro entgangen, deutlich mehr als im Jahr zuvor. Zu diesem Ergebnis kommt die AK Wien. Kontrast hat mit Sybille Pirklbauer, Abteilungsleiterin für Sozialpolitik in der Arbeiterkammer Wien, darüber gesprochen, wen das besonders betrifft und was die Regierung dagegen machen muss.
47 Millionen Überstunden wurden vergangenes Jahr nicht bezahlt – 7 Millionen mehr als in den letzten Jahren, so lautet die Auswertung der AK. Rund jede 4. Überstunde wird somit weder mit Geld noch mit Zeit abgegolten. Das entspricht unglaublichen 1,2 Milliarden Euro, die Arbeitnehmer:innen nicht bekommen haben, obwohl es ihnen zusteht. 2021 machte diese Form des Lohnraubes noch 1,03 Milliarden aus. Zum Vergleich: Durch Eigentumskriminalität wie Einbruch oder Diebstahl entstand im selben Jahr ein Schaden von „nur“ 383 Millionen Euro.
„Den Beschäftigten steht für ihre Arbeit, die sie erbringen, und ihre Arbeitszeit eine entsprechende Vergütung zu – entweder durch Geld oder Zeit. Wenn man ihnen das vorenthält, ist es eine Form von Betrug“, sagt Sybille Pirklbauer, Abteilungsleiterin für Sozialpolitik in der Arbeiterkammer Wien.
Unbezahlte Überstunden: Frauen stärker betroffen als Männer
Grundsätzlich betrifft Arbeiterinnen und Angestellte gleichermaßen und kommt in allen Branchen vor, weiß die AK-Expertin: „Es ist ein breites Phänomen, das man nicht auf eine Branche oder Ebene einschränken kann.” Allerdings sei beispielsweise im Gastronomiebereich dieses Problem besonders weit verbreitet.
Außerdem sind Frauen öfter davon betroffen: Während Männer 23 Prozent ihrer Überstunden nicht bezahlt bekommen, sind es bei Frauen sogar 28 Prozent. „Grundsätzlich haben Branchen mit insgesamt schlechten Arbeitsbedingungen oft einen hohen Frauenanteil. Und dort, wo man mit Arbeitnehmerinnen nicht gut umgeht, ist auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass Überstunden nicht angemessen bezahlt werden“, meint Pirklbauer.
Arbeitgeber klagen über Fachkräftemangel – zahlen aber immer seltener die Überstunden
Jedes Jahr beobachtet die Arbeiterkammer, wie sich die Überstunden insgesamt entwickelt haben und wie sich der Anteil der unbezahlten Überstunden verändert hat. Dazu wertet die Arbeiterkammer die Daten der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung aus, die von der Statistik Austria im Auftrag der Bundesregierung erhoben werden. Das Ergebnis: Während Überstunden in der Zeit der Corona-Krise gesunken sind, fallen sie seit zwei Jahren wieder recht unverändert häufig aus, erklärt die AK-Expertin. „Aber der Anteil, der nicht bezahlt ist, steigt jetzt wieder überproportional“, so Pirklbauer weiter.
Das sei überraschend, da vonseiten der Unternehmen häufig die Klage von fehlenden Arbeitskräften zu hören ist:
„Eigentlich sollte man annehmen, dass gerade jetzt die Unternehmen versuchen, ihre Arbeitskräfte zu behalten. Wenn man die Mitarbeiter:innen dann sogar länger arbeiten lässt, weil Fachkräfte fehlen, dann sollte man doch erst recht darauf schauen, dass man sie gut behandelt.“
Dann dürfe man sich nicht wundern, dass sich die Mitarbeiter:innen einen anderen Arbeitgeber suchen, bei dem die Arbeitsbedingungen besser sind.
Die Wirtschaftskammer weist hingegen die Vorwürfe als „nicht richtig“ zurück. „Das ist natürlich eine Strategie, die gerne gewählt wird, wenn man es inhaltlich nicht widerlegen kann: Dann zweifelt man die Zahlen an. Grundsätzlich darf man natürlich jede Zahl hinterfragen, aber in dem Fall ist es eine Erhebung der Statistik Austria – im Auftrag der Bundesregierung. Ich glaube, solider kann es nicht werden“, sagt Pirklbauer dazu.
AK fordert volle Zuschläge für Teilzeitkräfte und Verbot von All-in-Verträgen
Weil All-in-Verträge häufig ein Einfallstor für unbezahlte Überstunden sind, fordert die Arbeiterkammer dessen Abschaffung. In diesen Arbeitsverträgen ist zwar eine gewisse Anzahl an Überstunden bereits von vornherein finanziell abgegolten. Doch auch in diesen Fällen kostet eine Überstunde das 1,5-fache einer normalen Stunde. Wenn der oder die Arbeitnehmer:in so viele Überstunden macht, dass diese Kosten nicht mehr gedeckt sind, sind diese zusätzlichen Stunden zu bezahlen. Das passiere dann allerdings häufig nicht, so die Expertin. „Das ist total ausgeufert. Begonnen haben All-in-Verträge im Manager-Bereich, aber mittlerweile sehen wir das quer durch alle Beschäftigtengruppen.“
Darüber hinaus sollten auch Teilzeitkräften die vollen Zuschläge bekommen, wenn sie mehr arbeiten. Derzeit gelten bei ihnen zusätzliche Stunden als sogenannte „Mehrstunden“ und werden mit Zeit oder Geld einer normalen Arbeitsstunde abgegolten. „Aber mehr Stunden sind auch für Teilzeitkräfte in der Regel nicht planbar und somit eine zusätzliche Belastung. Deshalb sollten auch sie 50 Prozent Zuschläge bekommen – so wie bei den Überstunden“, erklärt Pirklbauer die Forderung der AK.
Auch sollten unbezahlte Überstunden nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses vollständig einklagbar sein. Denn es sei schwierig, den eigenen Arbeitgeber zu klagen, wenn man noch dort arbeitet.
In Österreich sind Überstunden der Normalfall, nicht die Ausnahme
In Österreich sind Überstunden generell sehr verbreitet. EU-weit gibt es kaum ein Land, in dem die Vollzeit-Erwerbstätigen tatsächlich länger arbeiten als in Österreich. „Überstunden zu machen ist fast die Norm und nicht die Ausnahme“, so die Expertin. Wenn das punktuell einmal vorkommt, sei das in der Regel nicht das große Problem. Aber wenn das dauerhaft der Fall ist, wird es problematisch: „Wir wissen aus vielen Studien, dass überlange Arbeitszeiten auf Dauer die Gesundheit schädigen. Es erhöht sich die Unfallhäufigkeit, sowohl was Arbeitsunfälle betrifft, als auch Unfälle am Nachhauseweg.“
Außerdem trägt dieser Umstand auch dazu bei, dass sich die ungleiche Arbeitszeitverteilung zwischen Männern und Frauen weiter verschärft. Denn es sind meistens die Männer, die Vollzeit arbeiten. Wenn sie am Abend auch noch länger arbeiten, müssen häufig die Frauen die anderen Aufgaben und Verpflichtungen übernehmen, etwa was die Kinderbetreuung betrifft: “Man kann den 5-Jährigen ja nicht sagen, dass sie alleine vom Kindergarten nach Hause gehen sollen“, so Pirklbauer.