Interview

„Arbeitslosigkeit ist Gift für den Menschen, individuell und gesellschaftlich“ – Wirtschaftsweise Achim Truger im Interview

Arbeitslosigkeit ist Gift für die Menschen – individuell und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sagt Ökonom Achim Truger. Die Regierungen müssen daher alles unternehmen, um den Arbeitslosen wieder Beschäftigung zu geben. Von Anfang an hätten Staatshilfen für Unternehmen an Arbeitsplatzgarantien gekoppelt werden sollen, jetzt müsse kräftig investiert werden. Neoliberale Spar-Regeln wie die Schuldenbremse oder der Fiskalpakt dürfen da nicht im Wege stehen. Wenn die Schuldengrenzen weiter streng bleiben, müsse eben Vermögen einen deutlich höheren Beitrag leisten. Truger ist Mitglied des Sachverständigenrates, der die deutsche Regierung in Wirtschaftsfragen berät. Im September 2020 wurde ihm der Kurt-Rothschild Preis vom Karl-Renner-Institut und vom SPÖ-Parlamentsklub verliehen.

Kontrast.at: Herr Truger, Sie haben sich immer gegen Austeritätspolitik wie nach der Finanzkrise 2008/2009 ausgesprochen. Wie zufrieden sind Sie jetzt mit dem EU-Finanzpaket?

Achim Truger: Der Einigungsprozess auf dem EU-Gipfel war mühsam und wegen der stark hervortretenden nationalen Egoismen der so genannten „Sparsamen Vier“ zwischenzeitlich sehr unangenehm. Ich hätte mir weniger Abstriche an den ursprünglichen Plänen und einen ehrgeizigeren mittelfristigen EU-Haushaltsrahmen gewünscht. Das Endergebnis kann sich dennoch sehen lassen und bietet eine wirkliche Chance, dass sich nun alle EU-Staaten entschlossen gegen die Krise stemmen können, ohne erneute Austerität. Gemessen an der Vergangenheit ist das ein Riesenfortschritt.

Deutschland hat die schwarze Null und seine Rolle als Gegner von Corona-Bonds aufgegeben. Die deutsche Regierung hat jetzt eine ganz andere Rolle in der EU als noch bei der letzten schweren Wirtschaftskrise. Woran liegt das?

Truger: Ich vermag noch nicht zu sagen, ob das ein dauerhafter Umschwung in der deutschen Finanzpolitik sein wird – die Beharrungskräfte in einigen Kreisen sind nach wie vor groß. Auf jeden Fall hat aber die außergewöhnliche Art und Schwere der Corona-Krise auch zu einer pragmatischen Bereitschaft für ungewöhnliche Maßnahmen geführt.

Was Europa angeht, ist in Deutschland diesmal verstanden worden, dass eine gemeinsame europäische Rettungspolitik nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern auch im eigenen politischen und ökonomischen Interesse ist. Wenn sich viele Länder des europäischen Südens nicht erholen, wird sich auch die Wirtschaft im Nordens nicht wirklich erholen können und Europa als Ganzes politisch geschwächt.

Die Corona-Krise führt uns in eine Wirtschaftskrise. Die Folgen sind aber sehr ungleich verteilt. Wen trifft es ihrer Meinung nach am härtesten?

Truger: Durch den drastischen wirtschaftlichen Einbruch sind fast alle negativ betroffen. Aber natürlich ist es so, dass die ökonomisch Schwachen mit prekärer und relativ schlechter Bezahlung besonders verwundbar sind, vor allem, wenn es zu einem starken und dauerhaften Anstieg der Arbeitslosigkeit kommt. Darüber hinaus zeigt sich in der Krise tendenziell offenbar eine Rückkehr zu traditionellen Rollenverständnissen auf Kosten von Frauen.

Achim Truger

Achim Truger bekommt Kurt Rothschild PreisTruger ist ein Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen sowie einer der „Fünf Wirtschaftsweisen“, also Mitglied des deutschen Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Sowohl in seinen wissenschaftlichen Publikationen als auch in seinen Beiträgen zur öffentlichen Debatte kritisiert Truger die deutsche Schuldenbremse und den Sparkurs, der vielen EU-Ländern auferlegt wurde. Stattdessen empfiehlt er umfassende Investitionen in breit wirksame Strukturprojekte.

Und was können Staaten dagegen tun?

Truger: Das Wichtigste ist, den Einbruch so gut wie möglich abzufedern und vor allem einen Anstieg der Arbeitslosigkeit und starke Einkommenseinbrüche zu verhindern. Dazu gab es fast überall Kreditgarantien und direkte Unterstützungszahlungen für Unternehmen sowie vor allem das in Deutschland extrem erfolgreiche Instrument der Kurzarbeit.

Nach den begonnenen Lockerungen geht es nun darum, die konjunkturelle Erholung mit Konjunkturpaketen zu unterstützen. Und speziell gegen die Arbeitslosigkeit sollte die Kurzarbeit wenn nötig verlängert werden und durch gezielte Aus- und Weiterbildungsangebote oder auch öffentliche Beschäftigungsangebote ergänzt werden.

In Österreich gibt es das Phänomen, dass Unternehmen staatliche Hilfen wie Kurzarbeit in Anspruch nehmen, aber dennoch großzügig Dividenden an ihre Aktionäre auszahlen. Gibt es ähnliche Phänomene in Deutschland auch?

Truger: Ja, das gibt es leider in Deutschland auch.

Es wäre sinnvoller gewesen, die staatlichen Hilfsleistungen stärker mit Auflagen wie Beschäftigungsgarantien, den Verzicht auf Bonuszahlungen an ManagerInnen, Aktienrückkäufe und Dividendenausschüttungen zu versehen.

Nach dem zweiten Weltkrieg gab es in vielen Ländern starke Vermögensabgaben zum Lastenausgleich. Heute wird kaum über Solidarbeiträge aus großen Vermögen diskutiert. Woran liegt das?

Truger: In Deutschland haben wird durchaus schon eine solche Debatte. Tatsächlich spricht ja nicht nur die aktuelle Krise für solche Abgaben, sondern vor allem die sehr ungleiche Vermögensverteilung, die schon seit langem trendmäßige Zunahme der Einkommensungleichheit und die Abnahme der Steuerprogression. Wichtig ist mir aber, dass wir nicht voreilig von den Lasten der Krise sprechen, falls das auf die aktuell notwendige Zunahme der Staatsverschuldung gemünzt ist. Die Zinsen sind extrem niedrig, die Finanzpolitik ist sehr wirksam, da muss man sich um die Staatsverschuldung eigentlich keine Sorgen machen.

Lasten entstehen vor allem durch falsches Krisenmanagement oder Regeln, wie die deutsche Schuldenbremse oder die EU-Fiskalregeln, die zu voreiliger Kürzungspolitik führen können.

Solche eigentlich unnötigen Lasten würden natürlich die berechtigte Debatte um eine faire Lastenteilung und einen höheren Beitrag von Wohlhabenden und Unternehmen noch weiter befördern.

Die Arbeitslosigkeit ist durch die Corona-Krise stark angestiegen, aber auch davor gab es schon eine hohe Sockelarbeitslosigkeit in vielen Staaten der EU. Auch in Österreich und Deutschland. Ist Vollbeschäftigung überhaupt noch eine Perspektive?

Truger: Vollbeschäftigung muss eine Perspektive sein, denn Arbeitslosigkeit ist ein großes Gift für die Menschen individuell und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Insofern sollte die Wirtschafts- und Finanzpolitik alles tun, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das beginnt bei einer konjunkturgerechten Makropolitik mit starken öffentlichen Investitionen, die sich nicht an willkürlichen Kredit- oder Schuldengrenzen, sondern am nachhaltigen gesellschaftlichen Wohlergehen orientiert.

Es umfasst dann natürlich viele weitere Bereiche wie die Bildungs- und Forschungspolitik, sowie die Industrie-, Regional- und Strukturpolitik. Von zentraler Bedeutung ist auch eine gezielte Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik mit starken Tarifparteien und starkem Sozialstaat.

Auf keinen Fall sollte man bei steigender Arbeitslosigkeit auf die Forderung nach „Strukturreformen“ hereinfallen. Damit sind üblicherweise lediglich der Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten und des Sozialstaats gemeint, was vor allem zu einer Umverteilung von unten nach oben und entsprechend geringerem gesellschaftlichen Wohlstand führt. Das angeblich angestrebte Ziel des Beschäftigungsaufbaus wird damit kaum erreicht.

In Österreich fordert die SPÖ eine 4-Tage Woche, um die Arbeit gerechter zu verteilen. Wie bewerten Sie den Vorschlag einer Arbeitszeitverkürzung als Antwort auf die hohe Arbeitslosigkeit?

Truger: Das ist eine sehr komplexe Frage, die sicher nicht über alle Branchen und Tarifgruppen einheitlich geregelt werden kann und die Einbeziehung der Tarifparteien und der betroffenen Beschäftigten erfordert. Aber grundsätzlich halte ich Arbeitszeitverkürzung für ein sinnvolles Instrument, mehr Freizeit könnte auch eine deutliche Verbesserung im Rahmen eines umfassend definierten Wohlstandsziels darstellen.

Corona hat auch viel über den Niedriglohnsektor und Ausbeutung in Deutschland offenbart – Stichwort Fleischindustrie. Wird es da Änderungen geben?

Truger: Die Empörung war jedenfalls berechtigterweise groß. Nun müssten aber natürlich Taten folgen. Mittlerweile sind einige gesetzliche Regelungen verschärft worden. Der Staat darf bei der Nichteinhaltung der Arbeitsschutzregelungen und der Umgehung des Mindestlohns nicht länger wegschauen, sondern muss streng kontrollieren und sanktionieren. Der Mindestlohn ist übrigens insgesamt ein Erfolgsmodell. Die Marktlöhne im unteren Bereich sind seit Einführung kräftig gestiegen, und die von vielen ÖkonomInnen prophezeiten Jobverluste sind nicht eingetreten.

Wie ist es um den Klima- und Umweltschutz nach Corona bestellt?

Truger: Die Bedeutung des Klima- und Umweltschutzes hat nach Corona objektiv sicher nicht abgenommen. Die Konjunkturpakete bieten eine große Chance, über entsprechende transformative öffentliche Investitionen einen ganz wesentlichen Beitrag zu leisten. Da gibt es schon vielversprechende Ansätze, die kurzfristig noch deutlich verstärkt und dann mittelfristig entschlossen weiter ausgebaut werden sollten. Die Corona-Krise hat verdeutlicht, dass es ohne einen handlungsfähigen Staat, der entschlossen eingreift und Weichen stellt, nicht gehen wird.

Kurt Rothschild Preis
Das Karl-Renner-Institut und der SPÖ-Parlamentsklub vergeben den Kurt Rothschild Preis für Wirtschaftspublizistik einmal im Jahr. Der Preis erinnert an den österreichischen Ökonomen Rothschild, der als Sozialist immer einen sozialen Anspruch an die als Wissenschaft betriebene Ökonomie gestellt hat. Die Preisverleihung findet am 28. September 2020 um 18.00 in Wien statt. Hauptpreisträger ist der deutsche Ökonom und Wirtschaftsweise Achim Truger. Weitere Preisträger sind hier zu finden.

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