Europa

Europas Stahlarbeiter sind in Gefahr – nur so kann die EU sie retten

Warum tut sich Europa so schwer, seine Stahlindustrie vor Dumping zu schützen. Antwort 1: Weil Staaten ohne Stahlindustrie die Billigimporte durchaus schätzen und in den EU-Entscheidungsgremien Beschlüsse hinauszögern. Antwort 2: Weil Freihandelsdogmatiker bereit sind, für eine abstrakte Idee hunderttausende Arbeitsplätze zu opfern.

Oktober 2015. Die Entlassung von 1.200 Stahlarbeitern in Großbritannien brachte den damaligen Premierminister David Cameron so stark unter Druck, dass die britische Regierung für den 9. November 2015 eine außerordentliche EU-Wirtschaftsministerrunde einberief. Thema des Treffens vor gut einem Jahr war der Preisverfall der europäischen Stahlpreise.

Von April 2014 an waren die Preise für Stahl sukzessive eingebrochen; davor hatten die Stahlwerke 500 Euro für eine Tonne Stahl erlöst, danach sank der Preis auf knapp über 300 Euro. Ausgelöst wurde der Preisverfall durch die Billigimporte aus China. China hat enorme Überkapazitäten in der Stahlindustrie, und nachdem die Inlandsnachfrage in China zurückging, schwemmten chinesische Hersteller den Weltmarkt mit Stahl zu – und das ist der entscheidende Vorwurf: Dumpingpreise, also Preise unter den Herstellungskosten.

Im Ergebnis bedeutet das: Die gesamte Europäische Stahlindustrie mit 330.000 Beschäftigten und über 500 Produktionsstandorten kann dieser Billigkonkurrenz nicht auf Dauer standhalten. Die Stahlproduktion ist massiv gefährdet. In dieser Einschätzung sind sich die europäischen Gewerkschaften und die Verbände der Industrie einig. Diese Einschätzung teilen auch viele europäische Staatschefs (darunter der österreichische) und Wirtschaftsminister (der österreichische hat sich allerdings nicht hervorgetan). Aber eben nicht alle.

Jahrelange Verhandlungen führen zu keiner Lösung

Und das macht es so mühsam und langwierig, dass die EU zu wirksamen Anti-Dumping-Maßnahmen kommt. Denn was die Wirtschaftsminister bei ihrem Treffen im November 2015 wieder aufgriffen, war ein Vorschlag der Kommission aus dem Jahr 2013. Schon damals wollte die Kommission handelspolitische Schutzmaßnahmen schneller anwenden können und effektiver machen; dies unter anderem damit, dass die „Regel des geringeren Zolls“ eingeschränkt oder gleich abgeschafft wird. Der Vorschlag wurde bis Ende 2015 von Großbritannien und einer Mehrheit der EU-Staaten abgelehnt.

Bei der „Regel des geringeren Zolls“ („Lesser Duty Rule“) geht es, kurz gesagt, darum, dass Strafzölle gegen Dumpingimporte nicht notwendigerweise die Differenz zu einem realistischen Preis ausgleichen (also praktisch die Dumpingspanne als Strafzoll aufschlagen), sondern auch niedriger sein können. Das führt häufig dazu, dass Schutzzölle in der EU weit unter denen anderer Länder liegen.

Praktisch bedeutet die Anwendung dieser Regel, dass chinesischer Dumping-Stahl in Europa mit 15 bis 30 Prozent Zoll belegt wird, während die USA Antidumpingmaßnahmen setzten, die einen Zollaufschlag von 296 Prozent ergeben.

2016 kam dann doch so etwas wie Bewegung rein. Die Handelsminister setzten Anti-Dumping-Maßnahmen wiederholt auf die Tagesordnung ihrer Treffen (auffällig dabei: Die österreichische Position, soweit sie vom Wirtschaftsministerium vertreten wurde, lief im Wesentlichen auf „Nur nicht auffallen“ hinaus).

Die EU-Regierungschefs haben sich ebenfalls des Themas angenommen. Österreichs Bundeskanzler Christian Kern hat von Anfang an gegen die, wie er in einem ORF-Interview sagte, „letale Bedrohung der europäischen Grundstoffindustrie“ entschlossenes Handeln eingefordert. Im Juni des Vorjahrs hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nach einem Treffen mit Kern angekündigt, dass auch Maßnahmen über den Stahlsektor hinaus ergriffen werden könnten, falls das Problem nicht beseitigt werde.

Baosteel ist mit einer Jahresproduktion von 34,9 Mio Tonnen der zweitgrößte Stahluntkonzern Chinas und das fünftgrößte der Welt. (Bild: Flickr CC: Zixi Wu)

 

Europaweit haben sich 2016 Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände für die Stahlbranche organisiert. In Österreich startet die Produktionsgewerkschaft PROGE und die Gewerkschaft der Privatangestellten GPA-DJP eine parlamentarische Bürgerinitiative. Diese Initiative wurde von über 24.000 ÖsterreicherInnen unterzeichnet und zählt somit zu den Top 5 aller parlamentarischen Bürgerinitiativen.

Die Europäische Kommission stellte im Oktober 2016 fest, dass es dringend Antidumpingmaßnahmen zum Schutz der Europäischen Stahlindustrie braucht. Am 15. Dezember einigten sich die Regierungschefs der EU auf die Eröffnung eines Trilogs von Europäischem Parlament, Europäischer Kommission und der EU Wirtschaftsminister.

Nach über einem Jahr intensiver Gespräche und vier Jahre nachdem die Kommission selbst das Thema auf die Tagesordnung setzte, schafft es Europa nicht, eine geeinte Antwort auf chinesische Dumpingpreise zu geben.

Alleine in Österreich sind 25.000 Arbeitsplätze betroffen, und keiner will sich wohl vorstellen, dass die VOEST Linz als Produktionsstandort schließen würde. Doch ein solches Szenario ist ohne Antidumpingmaßnahmen nicht auszuschließen.

Das europäische Dilemma

Dabei gibt es nur auf europäischer Ebene wirkungsvolle Schritte. Insofern wäre eine Anti-EU Stimmungsmache in dieser Frage vollkommen falsch. Die von der politischen Rechten propagierte Kleinstaaterei würde nur zu einer Handelsschutzpolitik unter den europäischen Staaten wie in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts führen und die europäische Stahlindustrie erst recht vernichten. Es bleibt also zu hoffen, dass der nun eröffnete Trilog schnell zu einem effizienten Ergebnis im Sinne der europäischen Stahlindustrie und der hunderttausenden Arbeitnehmer in dieser Branche führt.

Dahinterstehend erkennt man das allgemeine Dilemma der europäischen Handelspolitik. Die europäische Politik erklärte mit dem Fall des Eisernen Vorhangs von 1989 Freihandel zu einem Dogma. Begründet wird dies mit dem Abbau von Handelshemmnissen innerhalb der EU, welche auch zu einem politischen Zusammenwachsen Europas geführt haben. Die Zahlen beweisen dies auch. So ist das Handelsvolumen zwischen EU-Ländern von 800 Mrd. Euro im Jahr 1992 auf 2.840 Milliarden Euro im Jahr 2013 gestiegen. Diese Erfahrung wird von der europäischen Handelspolitik auf die ganze Welt angewendet.

Komplett außer Acht gelassen wird der Schutz europäischer Arbeitsplätze und hoher Umweltstandards und außer Acht bleibt auch die eigentliche Wirtschaftsmacht, die Europa mit 500 Mio. KonsumentInnen für die Gestaltung der globalen Ökonomie hat.

Ebenfalls werden geopolitische Fragestellungen außer Acht gelassen. Will Europa durch seine Handelspolitik in Zukunft wirklich von Stahl aus chinesischem Staatsbesitz abhängig sein?

Des Weiteren wird völlig vernachlässigt, dass andere Player ihre internationalen Handelsbeziehungen nicht derart dogmatisch, sondern pragmatisch gestalten. So etwa die USA, wo die Schutzzölle bis zu 300 Prozent betragen. Die europäischen Eliten, die Freihandel aufgrund der Geschichte der Union vor allem als politisches und nicht als wirtschaftliches Instrument verstehen, zeigen in diesem Zusammenhang viel weniger Flexibilität.

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Freihandel kein Selbstzweck ist und nicht per se zu gerecht verteiltem Wachstum führt. Das Beispiel Stahlbranche zeigt sehr deutlich, dass Freihandel in einer globalisierten, arbeitsteiligen Welt zu Monopolstellungen führen kann. Eine alte Krankheit des Kapitalismus. Dadurch wird fairer Wettbewerb ausgeschaltet und Innovation verhindert. Die Wirtschaftswissenschaften an den etablierten Universitäten liefern dazu kaum kritische Erklärungen.

Dass es in Europa auch andere Analysen und Ansätze gibt, zeigt Frankreich. Bereits unter Nicolas Sarkozy und im November letzten Jahres seitens des damaligen Premiers Manuel Valls wurde der Ruf nach höheren Zöllen für Produkte aus Länder laut, die sich nicht am internationalen Engagement gegen den Klimawandel beteiligen.

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