Seit drei Monaten gehen sie in Frankreich Woche für Woche auf die Straße, blockieren Kreisverkehre und organisieren öffentliche Debatten: Die Gilets Jaunes – zu deutsch die Gelbwesten. Jeder sechste Franzose definiert sich als Gilet Jaune, mehr als die Hälfte der Bevölkerung sympathisiert mit ihnen. Wer wieso Woche für Woche auf die Straßen geht, ist trotzdem schwer zu fassen. Kontrast hat mit einigen davon am Rande einer Demonstration in Paris gesprochen. Carla Schück und Matthias Mayer aus Paris.
Kontrast: Wieso sind sie heute da?
Cristelle, Angestellte: Wir gehen seit dem 17. November auf alle Demos. Jeden Samstag kommen wir aus der Umgebung von Paris hierher. Die Leute kommen aus dem ganzen Land, um für eine bessere Verteilung zu kämpfen! Wir sind eine Bewegung für soziale und steuerliche Gerechtigkeit und demonstrieren gegen Macron, der nur gewählt wurde, weil wir Marine Le Pen auf keinen Fall wollten. Die soziale Verteilung funktioniert heute nicht mehr: Wir sehen heute reiche Leute, die immer reicher und reicher werden, während die unteren Klassen verarmen. Es bildet sich ein großer Spalt zwischen den unteren und den obersten Schichten. Das schafft große Probleme in unserer Gesellschaft.
Kontrast: Warum sind Sie heute da?
Mathilde, Pensionistin: Warum ich hier bin? Ich war mein ganzes Leben nicht sehr an Politik interessiert, aber mir ist klar geworden, dass es so nicht weiter geht. Es gibt viele Leute in meinem Umfeld, die meinen, alles sei in Ordnung. Aber sehen sie sich um: Man muss nur die Augen aufmachen! Jedes Mal, wenn ich nach Paris komme, sehe ich mehr Armut, mehr Menschen, die auf den Straßen leben. Man fordert immer mehr von den Armen, die Mittelschicht wird aufgerieben, während die Reichen auch noch Steuergeschenke bekommen – das ist doch ein Skandal! Ich hatte das Glück mein Leben lang einen Job zu haben, aber wäre ich jetzt 30 Jahre alt, ich weiß nicht, wie ich leben würde. Deswegen bin ich hier.
Kontrast: In Frankreich wird oft protestiert – was ist diesmal anders?
Martin, Student: Ein neues Frankreich ist aufgewacht! Es sind Leute da, die sich bis dato überhaupt nicht für Politik interessiert haben. Und jetzt treffen diese Gruppen aufeinander: die, die bereits politisiert sind und die, die jetzt gesehen haben, dass das kapitalistische System in dem wir leben, auch sie trifft. Und das wird so weitergehen, bis sich die Lage verbessert. Ich komme aus einem kleinen Dorf. Früher haben solche sozialen Bewegungen die Leute in meinem Dorf nicht sonderlich interessiert. Zum ersten Mal stehen die Menschen in ganz Frankreich gegen den Sozialabbau auf. Das wenige Geld, das wir verdienen, verbrauchen wir, um in die Arbeit zu fahren. Die Menschen politisieren sich. Am Anfang haben die Medien die Bewegung als rechts dargestellt. Aber was jetzt passiert, ist ein sehr fruchtbarer Austausch politischer Ideen von Leuten aller möglichen Couleurs, die sagen: uns reichts!
Kontrast: Was denken sie über die Gilets Jaunes?
Pierre, Verkäufer: Ich finde das alles übertrieben, um ehrlich zu sein. Am Anfang fand ich ihre Forderungen gut, aber Autos zerstören, Leute an der Arbeit hindern, das geht mir zu weit. Ich meine die Kaufkraft sinkt für uns alle, aber es gibt andere Möglichkeiten das auszudrücken. Ich kann in dieser Situation nicht arbeiten, das Geschäft leidet. Jänner, Februar sind sowieso schwierige Monate. Es ist überall Schlussverkauf, es ist kalt. Und dann auch noch die Gewalt, brennende Autos, die Kunden bleiben aus – und das seit Monaten. Stellen Sie sich erst einmal die Situation von kleinen Ladenbetreibern vor. Ihnen bleibt Ende des Monats kein Geld mehr übrig, die werden einfach zusperren müssen.
Kontrast: Was stört Sie am heutigen Frankreich?
Stéphane, Lehrer: Die mangelnde Repräsentation der Bevölkerung durch die Eliten. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem, was die Eliten wollen – die neoliberale Politik der EU, eine Globalisierung ohne Schranken – und was für die Bevölkerung gut ist. Die Mittel- und Unterschicht mit ihren niedrigen Gehältern wird durch die Globalisierung weiter verarmen. Sie zieht keinen Vorteil daraus. Ich bin Teil der Mittelschicht, also sicher nicht derjenige, der sich am allermeisten beschweren kann, aber ja, seit Jahren merke ich, dass auch meine Kaufkraft sinkt. Das sehe auch in meinem Umfeld, vor allem bei Leuten mit Kindern. Macron und unsere Politiker machen sich doch lustig über uns, das Volk muss mehr gehört werden. Die Polizei antwortet mit Gewalt – ich bin auch hier um Solidarität zu zeigen mit all jenen Gilets Jaunes, die in den letzten Monaten von der Polizei verletzt wurden.
Kontrast : In der Nebenstraße protestieren die Gilets Jaunes – was halten Sie von deren Forderungen ?
Jeannine, Buchhalterin: Ich verstehe die Forderungen der Gilets Jaunes, im Prinzip haben sie Recht – aber die Verwüstungen und Zerstörungen, das kann man nicht rechtfertigen, schau dich nur um, alles ist geschlossen heute. Viele Franzosen sind einverstanden mit den Gilets Jaunes, ich auch. Das ist keine Frage politischer Zugehörigkeit – den Franzosen und den Französinnen reichts, sie sind wütend. Die Bewegung, das sind nicht nur die Leute, die sie im Fernsehen sehen. Ich kenne auch Polizisten, die für die Gilets Jaunes sind. Ihre Familien demonstrieren und sie stehen leider auf der anderen Seite, weil es ihr Job ist, aber sie sind auch nicht zufrieden mit diesem System.
Kontrast: Sind Sie du mit der Regierungspolitik einverstanden?
Jeannine: Absolut nicht! Die Lebenskosten steigen und steigen, aber die Löhne bleiben gleich. Wie sollen wir leben mit den steigenden Mieten, den steigenden Preisen? Wie soll man damit umgehen, wenn der Sozialstaat abgebaut wird? Ich habe aber Angst. Was mache ich, wenn ich bei einer Demo einen Unfall habe? Wer kümmert sich dann meine Kinder? Die wären dann ganz allein zu Hause.
Kontrast: Wieso sind Sie heute hier?
Monsieur Emri, Security: Ich bin heute für diejenigen hergekommen, die es am dringendsten brauchen. Also alle, denen das Geld vor dem Ende des Monats ausgeht, für die Pensionisten, für die vom System Vergessenen. Wir sind da, damit sich die Sachen ändern. Aber auch die Tatsache, dass die Preise und Steuern auf alltägliche Güter steigen, öffentliche Leistungen gekürzt werden, während die Reichsten Millionen machen, hat mich bewegt herzukommen. Außerdem bin ich heute da, falls es Verletzte gibt. Ich war Feuerwehrmann, beim Militär und arbeite jetzt in der Sicherheitsbranche. Ich kann helfen, falls etwas passiert.
Auch in Österreich würden wir gelbwesten brauchen.