Geschichte

Marie Jahoda: Leben und Wirken einer Pionierin

Foto: AGSÖ/Archiv der Geschichte der Soziologie Österreichs

Marie Jahoda war eine Sozialwissenschafterin und Aktivistin, die ihren Werten im faschistischen Europa treu geblieben ist und dafür mit Kriegsgefangenschaft bezahlt hat. Zeit ihres Lebens befasste sie sich mit den Lebensbedingungen von Arbeiter:innen – und jenen, die ihre Arbeit verloren haben. Mit der bahnbrechenden Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ ist ihre Forschung bis heute von Bedeutung. Jahodas Biografie erzählt die Geschichte einer kritischen und kämpferischen Wienerin.

Kindheit und Jugend: „mit Leidenschaft gegen das bestehende elitäre System“

Am 26.01.1907 wird Marie „Mitzi“ Jahoda in eine bürgerliche, jüdische Familie als das dritte von vier Kindern hineingeboren. Vater Karl Jahoda ist Kaufmann, Mutter Betty Hausfrau. Schon während ihrer Schulzeit am Mädchen Realgymnasium im achten Wiener Gemeindebezirk beginnt sich ihre politische Karriere abzuzeichnen. Geprägt vom Setting des Roten Wiens, tritt sie mit 17 in den „Verband sozialistischer Mitschüler“ ein. Beim Maiaufmarsch 1926 hält sie als dessen Vorsitzende eine Rede. Dort spricht sie „mit Leidenschaft gegen das bestehende elitäre System”. Als Maturantin wird sie Sekretärin des landesweiten „Bundes sozialistischer Mitschüler“ und im selben Jahr Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterpartei.

Von der Pädagogin zur Feldforscherin

Die Familie Jahoda vertrat humanistische Bildungsideale und fühlte sich den Gedanken der Aufklärung verpflichtet. Auch aus ihrer politischen Ideologie und der Stimmung des Roten Wiens heraus hielt Marie Jahoda Bildung und Erziehung für das wichtigste Gut einer sozialdemokratischen Gesellschaft. So entschloss sie sich 1926 für die Ausbildung zur Volksschullehrerin und belegte nebenher Psychologie an der Universität Wien. 1927 heiratete sie den Soziologen Paul Felix Lazarsfeld, den sie im Jahr zuvor beim „Bund Sozialistischer Mitschüler“ kennengelernt hatte. Die Ehe sollte acht Jahre halten und gemeinsame wissenschaftliche Arbeiten hervorbringen.

Marie Jahoda (1924-192), Foto: AGSÖ

Jahoda hielt auch während des Studiums ihr politisches Engagement bei den Sozialdemokraten aufrecht, obwohl sie mit Arbeit, Studium und Familie sehr ausgelastet war. So engagierte sie sich beispielsweise als ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Arbeiterbibliothek des Gemeindebaus Karl-Marx-Hof, bei einem sozialdemokratischen Frauenverein und bei dem „Arbeitskreis sozialistischer Pädagogen“.
1930 brachte Marie ihre Tochter Lotte Franziska Lazarsfeld zur Welt. Ein Jahr später begann sie die Forschung zu der Studie, die ihre Karriere für immer verändern sollte.

Die Arbeitslosen von Marienthal: eine Studie, die international Aufsehen erregt

Bis 1929 waren in der Textilfabrik Marienthal 1.300 Mitarbeiter angestellt, die sich im Laufe der Jahre alle um ihren Arbeitsplatz in der niederösterreichischen Marktgemeinde Gramatneusiedl angesiedelt hatten. Mit der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 musste das Werk schließen und plötzlich stand ein ganzes Dorf vor dem Aus. Für die Fabrikarbeiter und ihre Familien brachen das Einkommen weg und gleichzeitig Vereinstätigkeiten, Sportangebote und andere Freizeitbeschäftigungen.

„Arbeitslosigkeit führt zu Resignation, nicht zu Revolution“ Marie Jahoda, 1981 Bildquelle: AGSÖ

In diese Situation hinein kamen Marie Jahoda, ihr Mann Paul Lazarsfeld und ein Forschungsteam aus insgesamt neun Frauen und sechs Männern. Diese Geschlechterverteilung allein galt für die Zeit schon als revolutionär. Ziel der Studie war es, die Auswirkungen lang anhaltender Arbeitslosigkeit zu untersuchen.

Die Sozialpsychologin Marie Jahoda, die die Studie auch schlussendlich alleinig verschriftlichte, erlangte wissenschaftliche Berühmtheit durch ihre innovativen Forschungsmethoden: Sie kombinierte Messungen, Statistiken und Befragungen mit persönlichen Gesprächen, zwischenmenschlichem Kontakt und aktiver Teilnahme am Dorfleben. Diese Mischung aus quantitativen und qualitativen Forschungsstilen war bisher ungesehen.

Mit dieser Pionierarbeit sorgte sie dafür, dass die Studie bis heute zum Klassiker der Sozialforschung gehört. Mit Kleiderspendenaktionen, Sprechstunden mit Ärzten, Turnkursen und anderen Freizeitangeboten waren die Forscher nicht nur passive Beobachter des Geschehens, sondern brachten auch wieder Leben ins Dorf.

Jahoda wollte der Arbeiterklasse eine Stimme geben

Die Studie zeigt, dass Marie Jahoda den Menschen auf Augenhöhe begegnete. Der Forschungsstil der Wissenschaftlerin wird häufig als „lebensnah“ bezeichnet. Sie sah die Betroffenen nicht als Forschungsobjekte, sondern als Menschen mit eigenem Handlungsspielraum.

Das bewies sie auch in ihrer 1932 veröffentlichen Doktorarbeit „Anamnesen im Versorgungshaus“, in der sie einzelne Schicksale von Arbeitern in Österreich beleuchtet. Sie interviewte Menschen in den Armen- und Altenheimen Wiens, um über die Lebensbedingungen der Personen aufzuklären, von denen die akademische Welt nichts wissen wollte. Diese ungeschönten, ehrlichen Schicksale wurden erst 2017 unter dem Titel „Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850-1930“ wieder veröffentlicht.

Maria Hofstätter liest Jahodas Protokolle der arbeitenden Klasse

Frühe Geschlechterforschung: Wie sich Arbeitslosigkeit unterschiedlich auf Männer und Frauen auswirkt

Die Geschlechterverteilung innerhalb des Teams der Marienthalstudie sorgte für einen kritischen Blick auf die Verhältnisse in den betroffenen Familien. Das Team um Maria Jahoda und Paul Lazarsfeld untersuchte, welche Unterschiede es zwischen arbeitslosen Frauen und arbeitslosen Männern gab. Das Ergebnis: Durch typische Rollenverteilungen waren die Frauen zwar erwerbslos, aber nicht arbeitslos: Sie mussten in Zeiten der Krise die Sorgearbeit für die Familie übernehmen und trugen diese zusätzliche Last eher auf ihren Schultern als die Männer.

Lange hatte man geglaubt, Arbeitslosigkeit führe zu mehr Bildung – denn man hätte ja Zeit, zu lesen – oder gar zu Revolution. Doch bis heute wird die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ herangezogen um das Gegenteil zu beweisen. Die Massenarbeitslosigkeit in der Fabrikkolonie hatte zu Armut, Depression, Apathie und einem Verschwinden des Soziallebens geführt.

1933 wurden diese Ergebnisse veröffentlicht, in viele Sprachen übersetzt und verfilmt. Weltweite Anerkennung erhielt die Studie aufgrund der Ereignisse (Zweiter Weltkrieg) erst 30 Jahre später.

Untergrund, Verhaftung, Kerker: Marie Jahoda arbeitet weiter trotz Faschismus

Die Veröffentlichung der Marienthal-Studie 1933 wurde von der Machtergreifung Hitlers und der NSDAP in Deutschland überschattet. Mit Mussolini im benachbarten Italien und dem herrschenden Austrofaschismus in Österreich fiel der Erfolg des sozialdemokratischen Forschungsteams zusammen mit dem Einzug des Faschismus in Europa. Als Jüdin, Sozialistin, Aktivistin und Akademikerin verbildlichte Marie Jahoda gleich mehrfach das vorherrschende Feindbild.

Als nach den Februarkämpfen 1934 alle sozialdemokratischen Organisationen verboten wurden, kämpfte sie illegal im Untergrund weiter gegen den Austrofaschismus. Im selben Jahr war Jahoda wissenschaftliche Leiterin der „Wirtschaftspsychologie Forschungsstelle“ geworden. Sie nutzte den Verein nun als geheimen Briefkasten für die „Revolutionären Sozialisten“. Ihr Engagement in dieser Untergrundorganisation blieb zwei Jahre unentdeckt.

Im November 1936 wurde sie und neun Mitarbeitende bei einer Hausdurchsuchung verhaftet. Jahoda saß erst in Untersuchungshaft und wurde anschließend für ihre Arbeit in der illegalen linken Oppositionspartei zu drei Monaten Kerker verurteilt. Obwohl sie während des Prozesses ihre politische Einstellung nie leugnete, gab sie nur zu, was man ihr nachweisen konnte und belastete die Mitkämpfenden nie.

“Ich spielte die Unschuldige. Sie wußten, dass ich log; ich wußte, dass sie logen. Jede Seite wusste, dass die andere Seite log. Aber sie brauchten ein Geständnis oder einen Beweis.“

Im Exil: Marie Jahoda als Flüchtling in Großbritannien

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich immer für eine friedliche Revolution eingesetzt, wie aus einem Zitat von 1979 klar wird:

„Wir sind aufgewachsen in dieser kritischen, guten österreichischen sozialdemokratischen Periode, in der Überzeugung, dass wir einen demokratischen, nicht gewalttätigen Umbruch der Gesellschaft hervorbringen würden. Ich erinnere mich, dass ich in dieser Zeit jeden Menschen, der zwanzig, dreißig Jahre älter war als ich bedauert hab, weil er das nicht mehr erleben würde.“

Nur durch starke Interventionen aus dem Ausland wurde Marie Jahoda am 15. Juli 1937 nach neun Monaten freigelassen. Sie musste dafür jedoch ihre österreichische Staatsbürgerschaft aufgeben. Die Jahre im Nationalsozialismus verbrachte sie im Exil in Großbritannien. Zwei Mal musste sie dort umziehen, da man eine Invasion deutscher Truppen befürchtete.

Marie Jahoda-Lazarsfeld am Tag ihrer Haft-Entlassung

Trotz der düsteren Umstände konnte die Sozialwissenschaftlerin ihrer Arbeit nachgehen und blieb dabei ihrem Forschungsstil treu. Wieder widmete sie sich dem Thema Arbeitslosigkeit diesmal bei Bergleuten in Wales. In „Die Arbeitslosen bei der Arbeit“ untersuchte sie ein genossenschaftliches Selbsthilfeprojekt im Eastern Valley und schlief dafür bei den Minenarbeiterfamilien zu Hause. Sie half bei der Hausarbeit, spielte mit den Kindern und unterhielt sich mit den Arbeitern. In London forschte sie später zu Problemen in der Fabrikarbeit.

Trotz des enormen Risikos sprach sie von 1941-1943 beim geheimen Radiosender „Rotes Wien“ ihre Texte ein. Der Geheimsender wurde zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus nach Österreich gesendet.

Kritische Forschung in den USA

Bis 1958 lebte und arbeitete Marie Jahoda in den USA. Sie erhielt unter anderem eine Stelle als Professorin in Sozialpsychologie an der New York University. Ihre Forschungsthemen blieben auch in dieser Zeit kritisch und das, obwohl sie als sozialistischer Flüchtling im antikommunistischen USA der 1950er-Jahre schwierig war. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Stuart W. Cook untersuchte sie das ideologisch unterwürfige Klima, das sie an US-amerikanischen Universitäten spürte. Die beiden kritisierten auf struktureller Ebene die Auswirkungen der politischen Stimmung und begaben sich damit selbst in Gefahr.

Nach 11 Jahren in den USA lernte Marie Jahoda ihren späteren Ehemann, den britischen Labour-Politiker Austen Harry Albu kennen. In den 1960er und 70er-Jahren erhielt die Wissenschaftlerin internationale Anerkennung für ihre frühen Werke. Bis zum Ende ihrer Karriere arbeitete sie in London und Sussex als Professorin für Sozialpsychologie. 1993 wurde ihr das Große Silberne Ehrenzeichen für ihre Verdienste um die Republik Österreich verliehen.

Am 28. April 2001 starb Marie Jahoda in Keymer, Sussex.

Zitate von Marie Jahoda

„Was wir anstreben, ist eine Gesellschaft, in der alle die Möglichkeit haben, in der Arbeit Gemeinschaft und Solidarität zu erfahren – und sich in der Freizeit als Menschen voll zu entwickeln.“ (Rede beim SPD-Parteitag in München 1982)

„Arbeitslosigkeit führt zur Resignation, nicht zur Revolution.“

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