Coronavirus

Immer mehr Kinder und Jugendliche psychisch erkrankt – doch Österreich spart bei Therapien

Kinder- und Jugendpsychiater schlagen Alarm: Die Zahl der jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen ist in der Corona-Krise dramatisch gestiegen. Es gibt aber nicht genug Ressourcen, um sie zu versorgen, viele Kinder werden im Stich gelassen. Der Mehrbedarf an psychologischer und psychiatrischer Behandlung von Kindern und Jugendlichen wird auch nach Corona nicht verschwinden. Österreich braucht dringend mehr Geld für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen. 

Anfang des Jahres schlägt die Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie des AKH Wien Alarm: Die Plätze in ihrer Station sind überfüllt. Laut Abteilungsleiter Paul Plener kommt es sogar zu einer „Triagierung“ der jungen Patientinnen und Patienten: Weniger schwere Fälle, die normalerweise aufgenommen würden, müsse man aus Platzmangel abweisen. Aktuell leiden so viele Kinder und Jugendliche wie noch nie an Essstörungen und Depressionen, sie sind  geplagt von Antriebslosigkeit und Erschöpfung bis hin zu Suizidgedanken. Sogar in der Gruppe der Acht- bis Zwölfjährigen wurde ein deutlicher Anstieg depressiver Symptome beobachtet. Und: Es kommen Kinder und Jugendliche in die Kliniken, die man sonst dort selten sieht.

Die Direktorin der Innsbrucker Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kathrin Sevecke, meldet sich Ende Jänner mit einem ähnlich dramatischen Appell. Auch bei ihr sind die Betten voll belegt, der emotionale Zustand der Kinder und Jugendlichen ist besorgniserregend. Die Beobachtungen decken sich mit der aktuellen Studie des Departments für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau Uni Krems, das die psychische Gesundheit der Bevölkerung seit Beginn der COVID-19-Pandemie untersucht: Jeder zweite junge Erwachsene leidet an depressiven Symptomen, zehn Mal so viele wie noch 2019.

Die hohe Zahl der Kinder und Jugendlichen, die psychiatrische Behandlungen benötigen, ist kein österreichisches Phänomen. Auch in Deutschland hat die gesetzliche Krankenversicherung (DAK) nahezu eine Verdoppelung der Psychiatrie-Einweisungen junger Menschen verzeichnet.

Dass uns die Corona-Krise und die damit verbundenen Maßnahmen auf die Psyche schlagen, ist offensichtlich. Die Stimmen der Expertinnen und Experten und aktuelle Studien führen uns die Dramatik der jetzigen Situation vor Augen und warnen vor den Herausforderungen, die auch in der Post-Corona-Phase nicht einfach verschwinden werden.

Wie sieht die psychiatrische Versorgung für Österreichs Kinder und Jugendliche aus?

Die psychologische und psychiatrische Betreuung von Kindern und Jugendlichen war in Österreich bereits vor Corona knapp: Laut Österreichischem Strukturplan Gesundheit (ÖSG) hätte es 2019 890 Plätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gebraucht. Tatsächlich gab es aber nur 520 Plätze. Der Bedarf an stationären Behandlungsplätzen, der bei 0,1 pro tausend Kindern und Jugendlichen liegt, wird bis heute von keinem Bundesland erreicht. Für die Jugendlichen bedeutet das die Gefahr einer Einweisung in die Erwachsenenpsychiatrie, in der keine altersadäquate Betreuung möglich ist.

Damit nicht genug: Je nach Bundesland gilt es auch unterschiedliche regionale Erfordernisse zu berücksichtigen. Es reicht nicht aus, wenn Kinder und Jugendliche in den Städten zwar versorgt sind, sie in anderen Regionen aber kaum ein Angebot finden – das ist besonders in flächenmäßig großen Bundesländern, wie Oberösterreich oder Steiermark ein Problem. Laut ExpertInnen der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) besteht dringender Handlungsbedarf, um eine regionalisierte und somit auch flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Die Versorgung im Burgenland wird an die Nachbarn ausgelagert. Burgenländische Kinder werden von Niederösterreich und der Steiermark „mitversorgt“. In Vorarlberg wurde die Situation 2019 von der Kinder- und Jugendanwaltschaft als „unhaltbar und inakzeptabel“ bezeichnet.

Der Wiener Weg der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung

In Wien will man mit dem Ausbau von Ambulatorien entgegensteuern und hat mit der Eröffnung eines „Extended Soulspace“ einen neuen Weg beschritten, um die Kapazitäten zu erhöhen. Hier kümmert sich ein multiprofessionelles Team aus der Psychiatrie, Psychologie, Pflege, Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Ergotherapie um Diagnostik, Therapie und Behandlung. Damit gelingt nicht nur die Entlastung der Wiener Spitäler. Durch das tagesklinische Angebot können die Kinder und Jugendlichen neben der Behandlung in ihrer gewohnten Umgebung bleiben.

Ein weiteres vielversprechendes Projekt ist das sogenannte „Home-Treatment“. Es zielt darauf ab, Kindern und Jugendlichen die bestmögliche Betreuung in ihrer familiären Umgebung zu ermöglichen. In ihrer Vorreiter-Rolle wollen die Universitätsklinik der MedUni Wien und die Psychosozialen Dienste in Wien Kinder und Jugendliche zu Hause betreuen – in einem stationären oder tagesklinisch vergleichbaren Ausmaß. Nicht die Kinder und Jugendlichen gehen in die Ambulanz, sondern die Ambulanz kommt zu ihnen nach Hause.

Psychotherapeutische Behandlung: ein Privileg?

Neben dem dringenden Bedarf an Klinikplätzen, wird auch der Ruf nach mehr Kassentherapieplätzen in den Arztpraxen immer lauter. Wer körperlich krank ist, geht zur Ärztin und steckt die e-Card. Im Fall von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen gestaltet sich die Situation schon bei der Ärztesuche schwierig. Wer beispielsweise im Burgenland oder in der Steiermark eine kinderpsychiatrische Kassenordination sucht, wird nicht fündig. In Gesamtösterreich wurden bis 2019 lediglich 36 Prozent der notwendigen Kassenplätze geschaffen.

Die Gründe dafür sind vielfältig: zu wenig Ausbildungsplätze, unattraktive Verträge und eine hohe Patientenanzahl. Ausgebildete Fachärztinnen und Fachärzte werden daher oft Privatärzte. Die Leidtragenden sind Kinder und Jugendliche, deren Eltern sich die Behandlung in einer Wahlarztpraxis nicht leisten können. Wenn in der Corona-Krise das Einkommen der Eltern auch noch weg bricht, verschärft sich die Situation weiter. Wer sich eine Behandlung nicht privat finanzieren kann, bleibt auf der Strecke.

Die österreichische Gesundheitskasse hat in den kommenden drei Jahren eine Erhöhung der allgemeinen Kassentherapieplätze um ein Drittel – also rund 20.000 Plätze – angekündigt. Das dauert aber zu lange. Die dramatischen Berichte von erkrankten Kindern und Jugendlichen erfordern schnelleres Handeln. Wenn psychische Erkrankungen nicht behandelt werden, kann das zu erheblichen Folgen und Benachteiligungen im späteren Leben führen, wie Dr. Klaus Vavrik, der Leiter des Sozialpädiatrischen Ambulatoriums in Wien Favoriten, betont:

„Ein unbehandeltes Entwicklungsdefizit kann oft schwere Störungen in das ganze Leben hinein bedeuten.“

Nach wie vor ist die Schule der Ort, an dem der Großteil der Kinder und Jugendlichen gut erreicht werden kann. Schulen bieten den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, sich niederschwellig und außerhalb ihres familiären Umfelds mit Problemen an SchulpsychologInnen oder SozialarbeiterInnen zu wenden. Die Wiener Stadtregierung hat sich in ihrem Regierungsprogramm zu einer „massiven Aufstockung“ der schulpsychologischen Betreuung verpflichtet. SPÖ und Neos fordern von der Regierung für ganz Österreich weit mehr Schulpsychologinnen.

Anzeichen für psychische Erkrankungen

Kinder und Jugendliche leiden sehr stark unter der durch Corona bedingten Situation. Die Schule verlangt mehr Selbstorganisation, zuhause ist der Raum oft enger, Betreuungsangebote fehlen. Und der Lockdown führt partiell zu einer stärkeren Isolation. Weder Erwachsene, noch Kinder und Jugendliche sollen mit ihren seelischen Bedürfnissen allein gelassen werden. Im Zweifelsfall empfiehlt sich immer die Kontaktaufnahme zur Unterstützung!

Mehr Infos und Helplines, auch in den Bundesländern, gibt es auf der Seite der ÖGKJP (Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie)

Folgende Symptome müssen nicht, aber können Anzeichen einer psychischen Erkrankung sein:

  • Ängstlichkeit, Rückzug oder Panikattacken
  • Aggressives Verhalten
  • Zwangshandlungen
  • Muskelzucken, Blinzeln, Grimassieren, Laute ausstoßen
  • Extremer Gewichtsverlust, extreme Gewichtszunahme
  • Antriebslosigkeit, Interessenlosigkeit
  • Plötzlich verändertes Konsumverhalten
  • Suchtverhalten (Handy, Videospiele, Internet)
  • Hyperaktivität, Rastlosigkeit
  • Mangelnde Aufmerksamkeit
  • Selbstverletzendes (autoaggressives) Verhalten
  • Schweigen (Mutismus)
  • Exzessives Nicht-Einhalten von Regeln
  • Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Resignation

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