Bildung

Chaotische Schulschließungen: Bildungsminister Faßmann sieht sich nicht zuständig

Werden die Schulen bald geschlossen? Eine breite Allianz von Eltern, Lehrer, Schüler, Arbeitnehmervertreter und Wirtschaftskämmerer sind dagegen. Der Bildungsminister Faßmann beschwichtigt nach dem Ministerrat – und kündigt eine Entscheidung für Freitag an. Die könnte bereits ab Montag gelten. Das wäre für die Kinder, denen der Anschluss jetzt schon schwerfällt, eine Katastrophe. Eine Studie rechnet mit Einkommensverlusten von bis zu 4 Prozent für die Schüler im Laufe ihres gesamten Lebens. Und es fehlt an Vorbereitungen der Regierung.

Die Coronakrise führte zur größten Bildungsunterbrechung der Geschichte: Die Vereinten Nationen schätzen, dass weltweit rund 95 Prozent der Schüler von Schulschließungen betroffen waren. Der Lockdown im Frühjahr führte in Österreich zu Schulschließungen. Aber auch im Herbst mussten viele Klassen in Quarantäne, und ganze Schulen hatten zwischenzeitlich geschlossen. Homeschooling steht also nach wie vor Cluster-bedingt auf der Tagesordnung vieler Schüler, Lehrer und Eltern. Seit Tagen diskutiert das Land darüber, ob verschärfte Lockdown-Maßnahmen erneute Schulschließungen mit sich bringen. Zwei Drittel der Eltern, die Opposition, Schülervertreter, Gewerkschaft und Wirtschaftsverbünde sind dagegen, ebenso Wissenschafter und Kinderärzte. Trotzdem schließt die Regierung einen erneuten Schul-Shutdown nicht aus. Druck kommt, so heißt es, vor allem aus dem Bundeskanzleramt und dem Gesundheitsministerium.

Faßmann kündigt Ankündigung für Freitag an

Für ÖVP-Bildungsminister Heinz Faßmann sind Schulschließungen für Zehn- bis 14-Jährigen denkbar – derzeit haben bereits die  Oberstufen Fernunterricht. Auch ein „Ausdünnen“ der Klassen, gestaffelter Schulbeginn oder verstärkter Mund-Nasen-Schutz sind mögliche Maßnahmen. „Das ist alles Teil eines derzeitigen Diskussionsprozesses“, so der Minister.

Faßmann schloss noch am Mittwoch nicht aus, dass ab Montag Schulen geschlossen werden. Eine Entscheidung wolle er am Freitag präsentieren. Ob es sich dabei um zwei Wochen oder zwei Monate handelt, könne er nicht abschätzen.

„Das ist nicht meine Entscheidung alleine. Aber ich würde dafür plädieren, dass wir eine gewisse Vorbereitungszeit brauchen, sowohl im Sinne der Eltern als auch im Sinne des Bildungssystems“, sagt der Bildungsminister. Eine Absage an Homeschooling sieht anders aus.

Doch an Vorbereitung für eine zweite Fernlehre-Phase fehlt es. Immer noch haben fast 40.000 Schüler keine Laptops. Die Lehrer wurden auch in den Sommerferien nicht mit Fortbildungen oder Materialien zur Digitalisierung unterstützt.

Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) will sich bei der Pressekonferenz nach dem Ministerrat nicht festlegen.

Zahlen zeigen: Schließungen bringen wenig

Die Gesundheitsagenutr AGES vermeldete für die zweite Novemberwoche den geringsten Anstieg aller Infektionen bei den Unter-14-Jährigen. Bei den Zehn- bis 14-Jährigen haben sich die Zahlen zwar von 98 auf 1.173 verzehnfacht, wesentlich höher war der Anstieg aber etwa bei den 35- bis 39-Jährigen, wo die Infektionen sich von 157 auf 3.182 verzwanzigfacht haben. „Die am wenigsten betroffene Population ist die der Unter-14-Jährigen. Da ist die Frage dann schon: Wie sinnvoll ist es, genau dort anzusetzen, wenn dort die allerwenigsten Fälle stattfinden?“, kommentiert Volker Strenger von der Grazer Uni-Klinik für Kinder und Jugendheilkunde die Entwicklungen. Und: „Es gibt derzeit keinen Hinweis, dass die Umstellung auf Distance Learning etwas bringt.“ Zahlen aus Salzburg und Tirol ergeben, dass der Anteil der Oberstufenschüler seit dem erneuten Fernunterricht unter allen Covid-19-Fällen zwar zurückgegangen ist, allerdings weniger stark als der Anteil der 10- bis 14-Jährigen, die weiterhin zur Schule gingen.

Die Vereinigung der Kinderärzte ruft zur Abwägung der Folgen: Die Schließung von Bildungseinrichtungen hätte nicht nur gravierende Folgen für die Ausbildung, sondern auch „weitreichende Auswirkungen auf das soziale, psychische und geistige Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen“, so die ÖGKJ. Außerdem erinnerten sie an die Herausforderungen, vor denen die meist berufstätigen Erziehungsberechtigten stünden.

Wissenschaft ist sich uneinig

Eine Gruppe österreichischer Wissenschafter sieht das anders und verlangte vergangene Woche, die Schulen und Kindergärten so schnell wie möglich zu schließen. Schulen seien keine „besonders sichere Orte“. Die Schulen hätten „ganz sicher ein(en) signifikanten Beitrag“ zur Explosion der Fallzahlen, die Schließung sei „eine der effektivsten Einzelmaßnahmen überhaupt.“ Österreichische Studien, die das Gegenteil besagen, seien „methodisch falsch bzw. überholt“.

„Auch wenn alle großen Nachteile der Schulschließungen berücksichtigt werden, wiegt die Katastrophe der Überlastung der Spitäler schwerer. Alle, die jetzt gegen Schulschließung reden, müssen dazusagen, dass sie damit für Triage spätestens ab 18. November sind“, warnt die Gruppe aus Wittgenstein-Preisträgern.

Dem widersprachen viele Experten, unter anderem die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ). Sie spricht sich gegen Distance-Learning und stattdessen für bessere Präventionsmaßnahmen aus. Darunter fallen eine Erhöhung der Mindestabstände, Plexiglas-Wände, vermehrtes Maskentragen und flexiblere Schulstart- und -endzeiten.

Verteilen Kinder das Virus? Die Wissenschaft ist sich nicht einig.

Eine Studie des englischen Gesundheitswesens NHS ergab, dass Kinder für ihre Familienmitglieder kein Risiko darstellten. Im Gegenteil: Erwachsene im erwerbsfähigen Alter, die mit Kindern von 0 bis 11 Jahren leben, haben im Vergleich zu jenen ohne Kinder ein geringeres Risiko, an Corona zu sterben. Im Vergleich zwischen normalem Schulbetrieb und Homeschooling gab es keine Unterschiede.

Schulen sind immer noch nicht vorbereitet

Gegen die Schulschließung kam auch Widerstand von aus der Opposition: Die roten Landeschefs forderten gemeinsam mit Parteichefin Rendi-Wagner, die Schulen und Kindergärten offen zu lassen. Die Neos starteten eine Petition für offene Schulen. Beide Parteien fordern sind sich einig, dass der Bildungsminister die Digitalisierung verschlafen hat.

Noch immer fast 40.000 Schüler ohne Laptop

Auch auf eine Teststrategie für Schulen pocht die Opposition schon seit Monaten vergeblich. „Wir sehen in den Analysen der AGES, dass meist Pädagogen das Infektionsgeschehen an Schulen auslösen, daher müssen wir sie flächendeckend und engmaschig testen“, fordert SPÖ-Bildungssprecherin Sonja Hammerschmid. Was für die Hotellerie seit Monaten möglich ist, dürfe den Schulen nicht verwehrt bleiben.

Tausende Laptops fehlen bei den Schülern, noch nicht mal alle Lehrer haben einen adäquaten Online-Zugang, wie Schüler im Ö1-„Morgenjournal“ am Montag berichten. „Die Lehrer kennen sich jetzt einigermaßen gut aus, dass sie Arbeitsaufträge in die Chats schicken und Konferenzen starten können“, erzählt Alexander, ein Schüler aus Wien. Wenn seine Lehrer über das Schulinternet unterrichten wollen, fällt der Unterricht wegen Verbindungsschwierigkeiten oft aus.

Lisa, die seit Schulbeginn aus Vorsicht zu Hause mitlernt, informierte man erst nach Wochen darüber, dass sie selbst dafür verantwortlich sei, sich Stoff und Aufgaben zu besorgen. Immer noch weigern sich einige Lehrer schlicht, ihren Unterricht online abzuhalten. Stattdessen lassen sie ihren Oberstufen-Klassen Übungen, wie etwa die Zusammenfassung von Schulbuch-Kapiteln, zukommen. Lehrer sind lediglich verpflichtet, in ihren Stunden für die Klasse „ansprechbar“ zu sein, erklärt Direktorin Regina Niedermayer. Sie pocht auf Unterstützung der Regierung: Nicht nur Schüler, auch Lehrer warten immer noch auf Laptops, die Schulserver sind veraltet. Informationen bekamen die Direktionen zuerst über Pressekonferenzen und die Medien. Ein Info-Mail mit konkreten kam nach Mitternacht mit Lockdown-Informationen für den kommenden Tag.

Verluste bei Schülern größer als befürchtet

Dabei zeigen Studien, dass man gar nicht gut genug vorbereitet sein kann, um Kinder und Jugendliche vor den Schäden zu bewahren. Das Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München warnte vor späteren Einkommensverlusten bei Schülern, deren Schulen in der Coronakrise lange geschlossen waren.

„Geht etwa ein Drittel eines Schuljahres verloren, so geht dies über das gesamte Berufsleben gerechnet im Durchschnitt mit rund drei bis vier Prozent geringerem Erwerbseinkommen einher“, so die Prognose.

Sogar in den Niederlanden, einem Vorzeigeland in Sachen Digitalisierung mit weltweit höchsten Internetzugangsraten und einem kurzen Lockdown von acht Wochen, reißt das Homeschooling Löcher in die Bildungslaufbahnen. Die Ergebnisse einer drei Studie der Universität Oxford zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler im Onlineunterricht „wenig bis nichts“ gelernt haben.

„Für Kinder aus benachteiligten Verhältnissen waren die Auswirkungen noch verheerender“, besagt die Studie. Hatten die Eltern keine Hochschulausbildung, war der Wissensverlust bis zu 50 Prozent stärker.

Risikogruppen schützen statt Schulen sperren

Kinder sind unbestritten ein Faktor in der Ansteckungskette. Sie können sich bei ihren Lehrern anstecken und die Ansteckung im Freundeskreis und im Familienverband weiter tragen. Aber: „Kinder verdienen unseren besonderen Schutz. Bei Kindern geht es nicht nur um die Gesundheit – da sind sie kaum betroffen – ich muss die Bildungskarriere und die Chancengerechtigkeit in die Waagschale legen, und die ökonomische Entwicklung von einem Kind“, mahnt Dr. Christoph Wenisch im Interview mit Corinna Milborn.

Der Primar der Infektiologie im Kaiser-Franz-Josef-Spital in Wien war schon im ersten Lockdown gegen Schulschließungen. Denn Kinder hätten mit wenigen Ausnahmen auch bei einer Infektion keine aktive Covid-Erkrankung. Kinder würden „nur draufzahlen wenn man ihnen Bildung, Schule und soziales Leben wegnimmt“, so der Chefarzt. Andere Maßnahmen sieht er als weitaus wichtiger, zum Beispiel aktive Kommunikation mit der Risikogruppe. Sie sollen immer eine FFP2-Maske aufsetzen, Gespräche unter 15 Minuten und immer zwei Meter Abstand halten. Er spricht sich auch für die kostenlose Versorgung mit FFP2-Masken aus. Ältere und kranke Menschen zu schützen, würde Krankenhäuser weitaus mehr entlasten als Schulschließungen, da die Angehörigen der Risikogruppen diejenigen sind, die die Intensivbetten brauchen.

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Hermann Guuger jun
Hermann Guuger jun
13. November 2020 22:10

Wenn ich das alles richtig verstanden habe, was ich heute Abend gelesen habe, braucht es noch ganz schnell ein Gutachten, dass die Schließung der Schulen wirklich notwendwendig ist. Toll. Toll, Toll
Unser Kurzer wird doch seiner einen Kumpel finden der ihm das liefert. Ansonsten kann er ja noch Herrn Benko fragen. Wir mir nur noch schlecht.

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