Wir hören schon seit vielen Wochen, dass die bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) einer „Reform“ bedarf, weil „es so nicht weiter gehen kann“. BezieherInnen der BMS werden als faul, arbeitsunwillig und in der sozialen Hängematte liegend dargestellt. Besonders Wien sei in dieser Hinsicht ein Paradies. Ich möchte mit ein paar Vorurteilen aufräumen. – Gastkommentar von Sonja Wehsely
Mythos 1: MindestsicherungsbezieherInnen machen sich in Wien ein schönes Leben
Fakt ist vielmehr, dass im Vergleich zur früheren Sozialhilfe sich Aktivierungsgrad und Wiedereingliederungsquote bei Mindestsicherungs-BezieherInnen deutlich verbessert haben. In Wien gibt es die meisten, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden, Mindestsicherungs-BezieherInnen, die wieder einen Job bekommen. Mehr als die Hälfte aller Arbeitsaufnahmen in Österreich finden in Wien statt. Das bedeutet, dass von 100 neu aufgenommenen Jobs 54 in Wien sind. Das kommt nicht von ungefähr- das Land Wien war schon immer Vorreiter bei der Wiedereingliederung von Menschen in den Arbeitsmarkt, allen voran durch die Initiierung des Projekts step2job. Der Erfolg gibt uns Recht – das Projekt wurde von mehreren anderen Bundesländern übernommen.
Mythos 2: Menschen flüchten nach Wien, um von der Mindestsicherung zu leben
Fakt ist: In Syrien herrscht ein erbarmungsloser Krieg und Menschen fliehen vor ihm und dem Terror des IS. Niemand sitzt in Aleppo im Bombenhagel lustig zusammen und studiert die Feinheiten des österreichischen Sozialgesetzes. Es ist leider auch traurige Realität, dass viele Länder Völkerrecht brechen und Flüchtlinge nicht oder nur unter menschenunwürdigen Bedingungen aufnehmen. Diesen Wettbewerb nach unten, der einer politischen Bankrotterklärung gleich kommt, macht Wien nicht mit. Es braucht konkrete Lösungen. Diese brauchen aber länger und sind nicht so spektakulär wie schnell dahin gesagte markige Sprüche. Klar ist: Australien ist kein Vorbild, das zeigen auch ganz aktuell die vom Guardian ausgewerteten Nauru-Files.
Wien geht einen anderen Weg und der heißt Integration ab dem ersten Tag. Im Rahmen des „Start Wien“-Programms werden Flüchtlinge ab Zuweisung zum Asylverfahren mit (Sprach)Kursen begleitet. So kommt es nicht zu einer unnötigen Verzögerung bei der Integration – das hilft den Flüchtlingen und der Wiener Bevölkerung, die sich das zu Recht erwartet.
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Mythos 3: Die Mindestsicherung ist eine Vollkaskoversicherung bzw. ein Grundeinkommen
Fakt ist, dass es die Mindestsicherung gibt, weil alle Mechanismen davor nicht erfolgreich gegriffen haben. Sie sichert einen Mindeststandard zum Überleben. Das ist für eine Person maximal 837,76€ und für ein Paar (zwei Personen gemeinsam) maximal 1.256,64€. Für jedes Kind gibt es zusätzlich 226,20€ in Wien. In diesen Kosten ist auch der Wohnkostenanteil enthalten.
Viele der BezieherInnen stehen dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung, in Wien sind das Zweidrittel der BezieherInnen (zum Beispiel Kinder, PensionistInnen und Menschen mit Behinderungen). Das bedeutet auch, dass die Mindestsicherung keine Vollkasko-Versicherung ist. Das würde bedeuten, dass man erst einzahlen muss, um nachher etwas aus dem Topf zu bekommen. So funktioniert zum Beispiel die Arbeitslosenversicherung. Die Mindestsicherung ist aber ein soziales Netz, das allen Anspruchsberechtigten zur Verfügung steht, also auch z.B. Kindern, die noch nicht eingezahlt haben.
Mythos 4: Die meisten BezieherInnen leben ausschließlich von der Mindestsicherung
Fakt ist, dass in Wien lediglich 9,9% der BezieherInnen VollbezieherInnen sind. Das bedeutet, dass sie die volle Höhe der Mindestsicherung erhalten, weil sie keine andere Form von Einkünften haben. Über drei Viertel der BezieherInnen erhalten hingegen Ergänzungsleistungen. Das heißt, dass sie nicht den Maximalbetrag der Mindestsicherung bekommen, sondern einen zusätzlichen Betrag, der ihre Existenz sichert. Das sind PensionistInnen, BezieherInnen von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe, aber auch Teilzeitbeschäftigte, die so wenig bezahlt bekommen, dass ihr Einkommen unter dem Wert der Mindestsicherung liegt. Die restlichen 12,7% beziehen sich auf Mietbeihilfe, Dauerleistung und Hilfe in besonderen Lebenslagen.
Wien hat damit die geringste Anzahl an VollbezieherInnen, in Salzburg sind etwa 43%, in Niederösterreich 25% der MindestsicherungsbezieherInnen VollbezieherInnen.
Wien ist stolz auf sein dichtes soziales Netz. Das verheimlichen wir nicht und wir verwehren Anspruchsberechtigten auch nicht durch Schikanen den Zugang zu Leistungen auf die es einen Rechtsanspruch gibt. Seriöse Sozialpolitik zeichnet sich dadurch aus, dass sie Sozialleistungen nicht mit Kategorien wie „Scham“ oder sozialer Exklusion behaftet.
Wir bekennen uns auch dazu, dass wir überall dort, wo Steuergeld fließt genau hinschauen und Missbrauch sanktionieren. Das ist ein selbstverständliches Vorgehen. Seriöse Sozialpolitik ist aber auch tunlichst darauf bedacht nicht wegen einiger negativer Ausnahmen eine große, heterogene und sozial gebeutelte Gruppe wie MindestsicherungsempfängerInnen zu diskreditieren.
Hinzu kommt, dass sich gerade eine Wirtschaftskrise immer deutlich an einem Zuwachs von EmpfängerInnen von Sozialleistungen ablesen lässt. Das ist auch genau der Grund warum wir überhaupt ein Sozialsystem haben und warum gerade die Sozialdemokratie in schwierigen Zeiten immer für einen Ausbau gekämpft hat. Weil viele Leute durch eine Verkettung vieler unglücklicher Umstände plötzlich vor dem Nichts sehen. Als Gesellschaft haben wir uns dazu entschlossen diese Menschen nicht verhungern zu lassen, sondern sie zu unterstützen. Das ist der Kern sozialdemokratischer Politik.
Trotz all dieser widrigen Umstände macht das Sozialhilfebudget (Anm.: Mindestsicherung, Wohnbeihilfe, Heizkostenzuschuss, Hilfe für Notfälle etc.) in Wien rund 544 Millionen Euro aus, das sind rund 4,2% des Gesamtbudgets. Österreichweit werden für die Mindestsicherung 0,2% des BIP aufgewendet, das sind 670 Millionen Euro. Zum Vergleich: Für Pflege geben wir in Wien zum Beispiel 900 Millionen Euro aus. (Was ich natürlich für gut und richtig halte). Die Landwirtschaftsförderung in ganz Österreich, die nicht medial zur Debatte steht, beträgt sogar fast das Dreifache mit 1,9 Milliarden Euro.
Mythos 6: Wien verwehrt sich gegen Änderungen und Reformen
Fakt ist, Wien verwehrt sich gegen Änderungen, die einer Kürzung gleichkommen. Für Diskussionen zu Verbesserungen und der Stärkung von Arbeitsanreizen stehen wir immer zu Verfügung. Eine Deckelung, wie von der ÖVP vorgeschlagen, trifft vor allem AlleinerzieherInnen und Familien ab zwei Kindern. Das sind zwei Gruppen, die wir als Sozialdemokratie aber besonders schützen wollen. Warum die selbst ernannte Familienpartei ÖVP keine Empathie für arme Familie aufbringen kann, das müssen sich ihre FunktionärInnen selbst überlegen. Eine Deckelung straft zudem Menschen, die gar nicht sofort in den Arbeitsprozess eingliederbar sind, also zum Beispiel Menschen mit Behinderungen.
Aus meiner Sicht müssen wir über andere Reformen reden. Dazu gehört etwa die Neugestaltung des Einkommenfreibetrags als Anreiz einer Beschäftigung nachzugehen. Dazu gehört auch der verstärkte Einsatz von Sachleistungen. Damit sind nicht Lebensmittelmarken gemeint, sondern zum Beispiel die Übernahme der Miete oder der Stromkosten, damit diese zuverlässig bezahlt werden.
Ein dritter Vorschlag ist passive in aktive Mittel umzuwandeln, wie wir dies beim Projekt „Back to the Future“ tun. Bei diesem bieten wir jungen BMS-BezieherInnen Beschäftigung, um sie so wieder in den regulären Arbeitsmarkt einzugliedern.
Mythos 7: Wir müssen bei den Ärmsten sparen, um den Sozialstaat zu retten
Ein Sozialstaat hat die Aufgabe Menschen vor dem Nichts zu bewahren. Er ist eine große Errungenschaft der ArbeiterInnenbewegung und ihrer Parteien. Diese Errungenschaft gilt es zu verteidigen. Denn eine Erosion des Sozialstaates bedeutet Massenverelendung, Ghettobildung, Kriminalität und damit einen großen gesellschaftlichen Rückschritt.
Wenn wir über die Mindestsicherung reden, dann reden wir von Menschen, die durch alle sozialen Netze davor durchgefallen sind. Das macht niemand zum Spaß und niemand ist gerne in so einer Situation. Die Gründe sind sehr unterschiedlich und das soziale Stigma ist leider immer noch da. Dass diese Gruppe von Menschen an den medialen Pranger gestellt wird, noch dazu von Menschen, die nicht wissen was soziale Not bedeutet, halte ich für unerträglich. Eine sachliche Debatte über Ausgestaltung und Veränderung ist wichtig und es gibt immer Aspekte, die man besser machen kann. Ein Treten von oben nach unten ist nichts anderes als das Aufkünden des sozialen Friedens. Denn während hier der Teufel an die Wand gemalt wird, wird über viel höhere Summen geschwiegen. Ich möchte an die Bankenrettung erinnern, die bis jetzt 7,3 Milliarden Steuergeld gekostet hat. Hier zeigen sich die Relationen. Dieses Geld wurde nach weniger Diskussion bereitgestellt, während MindestsicherungsbezieherInnen immer wieder jeder Euro neidig gemacht wird. Zumal wir uns nach wie vor leisten, keine Erbschafts- und Vermögenssteuern zu implementieren.
Doch hier geht es auch um etwas Anderes und das bereitet mir Sorgen. Denn in ihrem Sozialneid auf die Ärmsten präsentieren sich ÖVP und FPÖ in trauter Zweisamkeit. Dieses Duo hat schon einmal den Sozialstaat an den Ruin gebracht und wir sehen was dort passiert, wo sie an der Macht sind: Es werden Ängste geschürt, Sozialleistungen (vor allem jene die Frauen betreffen) werden gekürzt und für die schnelle Stimmungsmache werden Gesetze beschlossen, die nur darauf abzielen mit einer rassistischen Debatte ein paar Punkte zu machen. ÖVP und FPÖ versuchen nun sich an Wien abzuarbeiten und haben sich dafür die schwächste Gruppe als Sündenböcke gesucht: Arme Menschen.
Dies ist ein gefährlicher und falscher Weg, den ich als Sozialdemokratin sicher nicht mitgehen möchte. Ich plädiere für einen Sozialstaat, auf den sich Menschen in schwierigen Situationen verlassen können. Denn wenn man Menschen die Furcht nimmt, komplett abzurutschen, dann ist dies der wichtigste Schritt dafür, dass sie ihre Energie in Arbeitssuche und Weiterbildung investieren können.