In einer Welt, die zunehmend von geopolitischen Spannungen und der Klimakrise geprägt ist, steht Europa vor einer doppelten Herausforderung: Wie kann die EU den Klimaschutz weiter intensivieren und gleichzeitig ihre Sicherheit gewährleisten? Diese Frage erfordert nicht nur eine kluge Politik, sondern auch den Einsatz wirksamer Mechanismen, die beide Ziele in Einklang bringen. Der Balanceakt ist komplex, aber auch eine große Chance für Europa, sich als eigenständiger und starker Akteur auf der globalen Bühne zu behaupten. Ein Gastbeitrag von David Steiner.
Die Abkehr vom Klimaschutz
Über Jahre hinweg war Europa Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel. Initiativen wie der “Green Deal” sollten den Kontinent zum ersten klimaneutralen Wirtschaftsraum machen. Doch angesichts neuer sicherheitspolitischer Realitäten haben sich die Prioritäten verschoben. In der neuen “Strategischen Agenda” der EU für die Jahre 2024 bis 2029 stehen Themen wie Sicherheit, Verteidigung und Resilienz im Vordergrund. Der “Green Deal” und andere klimapolitische Maßnahmen scheinen an Bedeutung verloren zu haben. Diese Verschiebung ist eine Reaktion auf die veränderten geopolitischen Bedingungen, insbesondere den Krieg in der Ukraine. [1, 2]
Umweltgruppen zeigen sich enttäuscht über die neue Richtung, da der Klimaschutz nicht mehr als vorrangiges Ziel benannt wird. Stattdessen liegt der Fokus nun auf der Sicherheit der Mitgliedstaaten und der Stärkung der EU-Außengrenzen. Dies könnte langfristig die Klimaziele der EU gefährden, obwohl die Herausforderung des Klimawandels weiterhin existenziell bleibt.
Der Inflation Reduction Act: Eine neue Herausforderung für Europa
Im Gegensatz zu Europa nutzen die USA die gegenwärtige geopolitische Lage, um ihre Wirtschaft zu stärken. Der Inflation Reduction Act (IRA) hat eine Vielzahl von Anreizen für ausländische Unternehmen geschaffen, in den USA zu investieren. Insbesondere Unternehmen aus Deutschland und Bayern ziehen aufgrund von steuerlichen Vorteilen und einfacheren Antragsverfahren in Betracht, neue Investitionen in den USA zu tätigen. [3, 4]
Diese amerikanische Strategie hat eine doppelte Wirkung: Einerseits wird die Rüstungsindustrie durch den Ukraine-Konflikt gestärkt, andererseits fließen erhebliche Mittel in den Klimaschutz. So sichern sich die USA nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern auch eine Führungsrolle in der globalen Klimapolitik.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits Maßnahmen vorgestellt, die als Reaktion auf den IRA dienen sollen. Diese Vorschläge, die unter anderem eine Lockerung der Beihilfevorschriften und die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren beinhalten, zeigen, dass Europa gewillt ist, seine wirtschaftliche und industrielle Basis zu stärken. Gleichzeitig dürfen diese wirtschaftlichen Maßnahmen jedoch nicht auf Kosten des Klimaschutzes gehen. [5]
Die transatlantischen Beziehungen: Europas Eigenständigkeit im Fokus
Die zunehmende Isolationstendenz der USA, die durch die möglichen Wahlsiege von Donald Trump und J.D. Vance weiter verstärkt werden könnte, wirft ernsthafte Fragen über die zukünftige Sicherheit und Stabilität Europas auf. Vance, bekannt für seine scharfe Kritik an der europäischen Politik, insbesondere an Deutschland, fordert eine radikale Neuorientierung der transatlantischen Beziehungen. Er wirft Europa, und besonders Deutschland, vor, durch eine „lächerliche“ grüne Energiepolitik und eine schwache Verteidigungskapazität die eigene Wirtschaft zu deindustrialisieren und die Abhängigkeit von importierter Energie und militärischer Stärke zu verstärken.
Die Kritik von Vance an Deutschland und anderen europäischen Ländern, sich auf „geliehene militärische Stärke“ zu verlassen und gleichzeitig eine ineffiziente grüne Energiepolitik zu verfolgen, unterstreicht die Notwendigkeit, dass Europa seine Abhängigkeiten überdenkt und eine souveräne, nachhaltige und sicherheitspolitisch ausgewogene Strategie entwickelt. Europa sollte sich nicht als Marionette der USA behandeln lassen, sondern selbstbewusst und unabhängig seine Interessen vertreten und dabei eine stabile, friedliche und wohlhabende Zukunft für den Kontinent sichern. [6]
Energieabhängigkeit und geopolitische Risiken: Die Lehren aus der Vergangenheit
Die Energiekrise, die durch den Ukraine-Konflikt ausgelöst wurde, hat Europa die Risiken einer einseitigen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen schmerzhaft vor Augen geführt. Jahrzehntelang war Russland ein verlässlicher Energielieferant, und die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Europa und Russland waren eng. Doch die geopolitische Realität hat sich geändert, und Europa muss nun lernen, ohne diese Abhängigkeit auszukommen.
Ein zentraler Mechanismus, um diese Herausforderung zu bewältigen, ist die Diversifizierung der Energiequellen. Europa muss verstärkt auf erneuerbare Energien setzen und seine Infrastruktur so ausbauen, dass sie weniger anfällig für externe Schocks ist.
Die Förderung von Wind- und Solarenergie, gekoppelt mit dem Ausbau von Energiespeichern und smarter Netzinfrastruktur, könnte Europa nicht nur unabhängiger machen, sondern wieder als Vorreiter im globalen Klimaschutz positionieren. [7]
Die Effektivität der Sanktionen und Europas Position
Europa hat auf den Ukraine-Konflikt mit einer Reihe von Wirtschaftssanktionen reagiert, die darauf abzielten, die russische Wirtschaft zu schwächen und die Finanzierung des Krieges zu erschweren. Zu den Maßnahmen gehörten der Ausschluss mehrerer russischer Banken aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT und Beschränkungen auf Energieexporte. Der Effekt dieser Sanktionen war jedoch gemischt. Während der russische BIP-Rückgang im Jahr 2022 deutlich spürbar war, wurde der erhoffte Zusammenbruch der russischen Wirtschaft nicht erreicht. Russland konnte dank gestiegener Energiepreise und einer Umorientierung seiner Exporte auf neue Märkte wie China und Indien viele der negativen Folgen abmildern. [8]
Trotz anfänglicher Prognosen eines dramatischen Einbruchs der Wirtschaft wurde laut Weltbank für 2023 sogar ein leichtes Wachstum von etwa 2,6 % erzielt. [9] Zudem gibt es Berichte über Unternehmen, die trotz der Sanktionen weiterhin Geschäfte mit Russland machen, was die Effektivität der Maßnahmen untergräbt. Dies zeigt die Schwierigkeit, eine kohärente und durchsetzbare Sanktionspolitik zu entwickeln [10]. Des Weiteren haben die Sanktionen unerwünschte Nebenwirkungen in Europa ausgelöst, insbesondere in Form von steigenden Energiepreisen und Inflation, was die einheitliche europäische Position schwächt. Insgesamt haben die Sanktionen nicht den erhofften Druck auf Russland ausgeübt, während sie gleichzeitig die europäische Wirtschaft belasten. Europa steht daher vor der Herausforderung, seine Sanktionsstrategie zu überdenken und effektivere Wege zu finden, ohne die eigenen Interessen zu gefährden.
Regionale Wertschöpfung und wirtschaftliche Unabhängigkeit
Neben der Energiepolitik muss Europa auch seine wirtschaftliche Basis stärken, indem es die regionale Wertschöpfung innerhalb der EU fördert. Die Corona-Pandemie und die jüngsten geopolitischen Spannungen haben gezeigt, wie verletzlich globale Lieferketten sein können.
Eine stärkere Konzentration auf europäische Produktionsketten würde nicht nur Arbeitsplätze in der Region sichern, sondern auch die Resilienz der europäischen Wirtschaft erhöhen. Die Stärkung der regionalen Wertschöpfung bedeutet, dass Europa strategische Industrien, wie die Produktion von Halbleitern, Batterien und erneuerbaren Energien, im eigenen Haus fördern sollte.
Investitionen in diese Sektoren könnten durch öffentliche Mittel und steuerliche Anreize unterstützt werden, um sicherzustellen, dass Europa in diesen zukunftsträchtigen Industrien eine führende Rolle einnimmt. Gleichzeitig muss die EU darauf achten, dass auch kleinere Mitgliedsstaaten von diesen Investitionen profitieren, um ein wirtschaftliches Ungleichgewicht innerhalb der Union zu vermeiden. [11]
Strategische Autonomie und Unabhängigkeit von Großmächten
Um seine Interessen zu wahren, muss Europa seine strategische Autonomie weiterentwickeln. Die geopolitischen Umbrüche der letzten Jahre, insbesondere der wachsende Einfluss Chinas und die zunehmend protektionistische Wirtschaftspolitik der USA, haben gezeigt, dass Europa nicht als „Marionette“ fremder Mächte agieren darf. Stattdessen muss die EU in der Lage sein, eigenständige Entscheidungen zu treffen, die sowohl im Interesse des Klimaschutzes als auch der Sicherheit liegen.
Europa sollte seine Rolle in der globalen Sicherheitsarchitektur neu definieren, indem es sich als Vermittler im Ukraine-Konflikt positioniert. Anstatt nur Milliarden in Waffen und militärische Unterstützung zu investieren, könnte Europa auch eine Führungsrolle bei den Friedensverhandlungen übernehmen und aktiv daran arbeiten, den Konflikt zu beenden. Ein solches Engagement würde nicht nur das Leiden und die Zerstörung verringern, sondern auch den Weg für eine Wiederherstellung diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen ebnen. [12]
Fazit: Europas Weg zu einer eigenständigen Zukunft
Europa steht vor einer historischen Aufgabe: Den Klimaschutz voranzutreiben und gleichzeitig seine Sicherheit in einer unberechenbaren Welt zu gewährleisten. Diese Herausforderung erfordert Mut, Entschlossenheit und eine klare strategische Ausrichtung. Die EU hat die Möglichkeit, sich als führende Kraft in der globalen Klimapolitik zu positionieren und gleichzeitig ihre wirtschaftliche und sicherheitspolitische Unabhängigkeit zu festigen.
Die aktuellen geopolitischen Entwicklungen, insbesondere der Konflikt in der Ukraine und die wirtschaftlichen Spannungen mit den USA, zeigen, wie wichtig es ist, dass Europa seine eigene Agenda verfolgt.
Diese Agenda muss den Schutz des Planeten und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger Europas in den Mittelpunkt stellen. Durch eine kluge Kombination aus Investitionen, regulatorischen Anreizen und einer strategischen Autonomie kann Europa als gestärkter Akteur auf der internationalen Bühne hervortreten.
Referenzen
1. Strategische Agenda 2024-2029
https://www.consilium.europa.eu/de/european-council/strategic-agenda-2024-2029/
2. Krieg statt Klima: Strategiewechsel in der EU-Politik
https://www.kettner-edelmetalle.at/news/krieg-statt-klima-strategiewechsel-in-der-eu-politik-19-04-2024
3. Inflation Reduction Act Guidebook
https://www.whitehouse.gov/cleanenergy/inflation-reduction-act-guidebook/
4. Standortdebatte: Warum es bayerische Firmen in die USA zieht
https://www.merkur.de/wirtschaft/usa-abwanderung-ira-inflation-reduction-act-foerderung-solar-windkraft-92984361.html
5. Von der Leyen stellt im Europaparlament den Industrieplan des Green Deal vor
https://germany.representation.ec.europa.eu/news/von-der-leyen-stellt-im-europaparlament-den-industrieplan-des-green-deal-vor-2023-01-18_de
6. Sie deindustrialisieren Ihr eigenes Land
https://www.welt.de/politik/ausland/article252565148/J-D-Vance-Sie-deindustrialisieren-Ihr-eigenes-Land-sagte-Trumps-Vize-ueber-Deutschland.html
7. Im Eiltempo zur Energieunabhängigkeit
https://www.bmwk-energiewende.de/EWD/Redaktion/Newsletter/2022/05/Meldung/news2.html
8. Transatlantic Coordination on Russian Sanctions
https://www.american.edu/sis/centers/transatlantic-policy/policy-briefs/20231027-transatlantic-coordination-on-russian-sanctions.cfm
9. World Bank raises forecast for growth in Russia’s GDP to 2.6% in 2023, confirms outlook for 2024 and 2025
https://interfax.com/newsroom/top-stories/98211/
10. The disillusionment and hope of Western sanctions against Russia: https://www.gisreportsonline.com/r/disillusionment-russia-sanctions/
11 Five key action areas to put Europe’s energy transition on a more orderly path
https://www.mckinsey.com/capabilities/sustainability/our-insights/five-key-action-areas-to-put-europes-energy-transition-on-a-more-orderly-path
12 Europe and Germany in China-US Rivalry
https://thediplomat.com/2023/05/europe-and-germany-in-china-us-rivalry/