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Großbritannien: 120.000 Todesfälle mehr seit Kürzungspolitik

Großbritannien: 120.000 Todesfälle mehr seit Kürzungspolitik

Kontrast Redaktion Kontrast Redaktion
in Gesundheit, Wirtschaft und Finanzen
Lesezeit:4 Minuten
20. November 2017
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120.000 Todesfälle soll es in Großbritannien aufgrund der Kürzungspolitik der Konservativen Regierung bereits gegeben haben – sagt eine aktuelle Studie. Die Autoren sprechen sogar von „ökonomischem Mord“ .

Kürzungen im Sozial- und im Gesundheitsbereich haben schwerwiegende Folgen – aber wie schwer diese wiegen, erstaunt selbst Experten. 2015 stellte man fest, dass sich in England und Wales seit 2010 die Mortalitätsrate um mehr als 5% erhöht hatte.

Die Steigerung war zu groß, um zufällig zu sein. Daher machten sich die Forscher der Universität Oxford und der London School of Hygiene and Tropical Medicine auf die Suche nach den Hintergründen. Und fanden sie in der Kürzungspolitik der konservativen Regierung.

Aufgefallen war ihnen, dass die Sterberate bis 2010 ständig gesunken ist, aber dann plötzlich hochging und sich weiters sogar beschleunigte. Statistische Analysen zeigten: Ursache konnten weder Grippeepidemien oder Infektionen sein. Ein auffallender statistischer Zusammenhang zeigte sich aber zwischen der Zunahme der Sterberate und den Einsparungen im Sozial- und Gesundheitsbereich.

Die Zerstörung des Sozialstaats

2010 bildeten die Konservativen und die Liberaldemokraten in England eine Koalition. Sie nahm sich das Ziel, Ausgaben zu senken und Sozialleistungen zu kürzen. Sie warnten vor dem drohenden Untergang, wenn England sein Defizit nicht bis 2015 abbaut. Massive Kürzungen waren die Folge, Sparwelle folgte auf Sparwelle: Das Wohngeld wurde gekürzt und gleichzeitig der öffentliche Wohnbau drastisch hinuntergefahren, enorme Kürzungen gab es bei der Arbeitslosenunterstützung und der Unterstützung von Menschen mit Behinderung.

Statt dem Defizit sank aber nur der Lebensstandard der Menschen: Unter der Rechtsregierung hat England mehr Schulden angehäuft als unter jeder Labour Regierung zuvor.

„Austeritätspolitik steigert weder das Wachstum, noch senkt es die Defizite – das ist mittlerweile klar. Austerität ist eine schlechte Wirtschaftspolitik, aber gute Klassenpolitik. Sie hat ein öffentliches Gesundheitsdesaster verursacht. Es ist keine Übertreibung, wenn wir von ökonomischem Mord sprechen“, so Professor Lawrence King von der Cambridge University.  

Weniger Pflege, schlechteres Essen und mehr Stress kosten das Leben

Die Lebenserwartung für 65-Jährige ist um 21 Tage gesunken, die von 75-Jährigen um ganze 40 Tage. Die Studie spricht von 45.000 zusätzlichen Todesfälle in den ersten vier Jahren der konservativen Kürzungspolitik (2010-2014). Aufbauend auf diesen Daten sind es bis heute etwa 120.000 Todesfälle, bis 2020 droht die Zahl auf 200.000 hochzuschnellen.

Das sind ganze 100 Tote pro Tag, die es ohne die Kürzungen der Ausgaben nicht geben würde.

Die Mehrheit der Betroffenen sind Menschen, die Sozialleistungen erhalten. Ihnen fehlt das Geld, normal zu essen oder Pflege in Anspruch zu nehmen. Schlechte Jobs mit hohem Arbeitsdruck und Stress steigern die Wahrscheinlichkeit von Herzinfarkten. Die Gesundheitspolitik der Konservativen schwächt das öffentliche Gesundheitssystem und hat ein Zwei-Klassen-Gesundheitssystem etabliert. Aber auch der Abbau von Krankenpflegern könnte für 10 Prozent der zusätzlichen Todesfälle verantwortlich sein.

Der Studienmitautor Mahiben Maruthappu erklärt etwa, dass mit zunehmender Arbeitslosigkeit auch die Sterberate bei Krebskranken steigt. Ein funktionierendes öffentliches Gesundheitssystem könnte vor diesem Effekt schützen. Da die konservative Sparpolitik aber die Gesundheitsversorgung drastisch zusammengekürzt hat, steigt die Sterberate.

Mittlerweile ist die konservative Regierung von ihrem Sparkurs abgekehrt und hat sowohl Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor als auch eine Aufstockung der Sozialausgaben um 1,3 Milliarden Pfund angekündigt. Die Studienautoren gehen aber davon aus, dass es 25 Milliarden Pfund bräuchte, um die Todesraten wieder auf das Niveau vor 2010 zurückzubringen.

Wie Staaten mit Krisen umgehen, entscheidet über Lebenserwartung

Wie die Zerstörung von Sozialsystemen das Leben vieler Menschen vorzeitig beendet, konnte man bereits in den frühen 1990ern sehen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion brach Russlands Wirtschaft zusammen. Armut und Arbeitslosigkeit grassierten und die Lebenserwartung sank. Aber nicht alle ehemaligen realsozialistischen Staaten hatten derart massive Probleme. Es waren vor allem Russland, Kasachstan und die baltischen Staaten, die auf eine kapitalistische Schocktherapie setzten – und infolge mit einer massiven Zunahme von Selbstmorden, Herzattacken und Todesfällen im Zusammenhang mit Alkohol zu kämpfen hatten. Polen oder Slowenien haben mehr Rücksicht auf das Sozialsystem genommen – und waren mit derartigen Folgen nicht konfrontiert.

Ähnliches ließ sich auch in Thailand, Indonesien und Malaysia beobachten: 1997 setzten Thailand und Indonesien auf Befehl des Internationalen Währungsfonds (IWF) ein strenges Sparprogramm um. Malaysia wehrte sich erfolgreich dagegen. Mit dem Effekt, dass die Lebenserwartung in Malaysia stabil blieb, während sie in Thailand und Indonesien rapide sank. 2012 entschuldigte sich der IWF für seine Politik.

Das zeigt auch der Vergleich zwischen Griechenland und Island: Island stand wirtschaftlich ähnlich schlecht da wie Griechenland, die rot-rot-grüne Regierung reagierte aber auf die Krise mit mehr sozialer Gerechtigkeit: Sie führte eine Reichensteuer ein, verschärfte die Progression bei der Einkommensteuer, setzte auf Kapitalverkehrskontrollen und kürzte weder Sozial- noch Gesundheitsleistungen: Gesundheitszustand und Lebenserwartung veränderten sich nicht. In Griechenland dagegen führten die massiven Kürzungen zu einer humanitären Krisen: Die Zahl der Selbstmorde nahm um 45 Prozent zu, die Säuglingssterblichkeit um 43 Prozent und die Lebenserwartung ist um ganze zwei Jahre gesunken.

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3 Comments
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Deppe
Deppe
23. November 2017 16:15

Bitte seien Sie so freundlich, die PrimärQuelle(n) zu nennen resp. mitzuteilen.

Danke!

Deppe

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Nemeskal Günther
Nemeskal Günther
22. November 2017 12:45

Interessant, dass die Studie mit dem Brexit zusammenfällt. In Griechenland müssen das ja dann Millionen sein!!

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Bernhard Kellner
Bernhard Kellner
20. November 2017 21:14

Erschütternder Artikel – nicht, weil er von etwas völlig Neuem berichten würde, sondern im Gegenteil, weil es im Grunde eh alle wissen. Es wird keine Ausnahmesituation geschildert, sondern nur derzeitige europäische Normalität.
Die Leute sind gezwungen, ein ganzes Leben so zu führen, wie wenn man mit einem schrottreifen Wagen gerade noch die nächste Ortschaft erreichen möchte: jeden Tag dasselbe ‚gerade-noch-einmal-geschafft‘. Gesund kann das auf die Dauer nicht sein.
In Europa grassieren zwei zynische Glaubensrichtungen: der gnadenlose Neoliberalismus und der rückwärts gewandte identitäre Religionsersatz. In Ö haben die beiden jetzt zusammengefunden. Die Prognose ist nicht günstig.

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