Fast jeder hat eine Meinung zur Homo-Ehe, zum Kopftuchverbot oder zum FPÖ-Akademikerball. Das Feld der Wirtschaftspolitik wird dagegen gerne ExpertInnen überlassen. Gerade sozial eingestellte Menschen beklagen oftmals Ungleichverteilung und Armut, sie meiden aber die wirtschaftspolitische Diskussion, die notwendig wäre, um diese Probleme anzupacken.
Gerade aktuell: Viele Menschen befürworten (völlig zu Recht) den Mindestlohn, damit alle von ihren Einkommen leben können (Vermeidung von working poor). Doch was erwidert man, wenn wirtschaftlich versiert behauptet wird, Mindestlöhne würden gerade im Niedriglohnsektor Jobs vernichten und so die Lage der Betroffenen noch weiter verschlechtern? Da wirkt auf einmal die Gegnerschaft zum Mindestlohn von Vertretern der Wirtschaftskammer oder der liberalen Ökonomin sozialer als das eigene Dafür-Sein. Will man dann nicht sofort den Rückzug antreten, müssen wirtschaftspolitische Fragestellungen eine Angelegenheit von jeder und jedem sein.
Die Bedeutung der sozialen Frage
Alle gesellschaftlichen Kämpfe sind bedeutend, es muss nur eines klar sein: Ökonomische Ungleichheit und existenzielle Unsicherheit sind ein idealer Nährboden für Nationalismus, Frauenfeindlichkeit, Rassismus und Homophobie. Wenn ökonomische, soziale und demokratische Teilhabemöglichkeiten für ganze gesellschaftliche Gruppen bröckeln, dann stehen Demokratie und Rechtsstaat, dann steht überhaupt unsere hoch zivilisierte Gesellschaft auf der Kippe. Wir erleben derzeit in den USA, in Europa und auch in Österreich, was für desaströse politische Folgen das haben kann. Soziale Teilhabe ist nicht wichtiger als andere politische Fragen, aber sie ist eine notwendige Voraussetzung, um in anderen Bereichen überhaupt gesellschaftlichen Fortschritt erreichen zu können.
Die soziale Frage ist bei weitem nicht alles, aber ohne die soziale Frage ist alles nichts.
Die soziale Frage als Alleinstellungsmerkmal
Es gibt NGOs für die Rechte von MigrantInnen und die Gleichstellung von Homosexuellen, für die Interessen von Flüchtlingen und die Gleichbehandlung der Frauen, für die Zähmung von Globalisierung und Finanzwirtschaft, für Umwelt- und Tierschutz sowie für die generellen Menschenrechte. Es gibt keine NGO für Wirtschafts- und Sozialpolitik, dieser Aspekt bleibt die Kernaufgabe der Arbeiternehmerbewegung.
Während Gewerkschaften und Kammern diese Aufgabe zweifellos wahrnehmen, ist in der Sozialdemokratie, dem politischen Arm der Arbeitnehmerbewegung, ein Trend festzustellen: Die soziale Frage, die alte Kernkompetenz der Sozialdemokratie, spielt für viele dort nur noch eine zweitrangige Rolle. So wichtig all die gesellschaftspolitischen Anliegen auch sind, für die sich viele in der SPÖ aktiv einsetzen, eines darf nicht übersehen werden:
Das Stellen der sozialen Frage ist das Alleinstellungsmerkmal der Sozialdemokratie. Wenn die SPÖ die soziale Frage nicht stellt, wird es niemand anderer mit der annähernd gleichen Vehemenz tun. Im Gegenteil, politische Gruppierungen werden das Vakuum nützen, um die politische Diskussion in destruktive Fahrwasser zu lenken.
Daraus ergibt sich auch noch eine wichtige strategische Lehre: Wenn der SPÖ in diesem Punkt keine Kompetenz zugetraut wird, bleibt sie eine Mittelpartei und wird den Wiederaufstieg zur Volkspartei niemals schaffen.
Wie ist das also mit dem Mindestlohn?
Es ist enorm wichtig, dass Menschen in der Sozialdemokratie wirtschaftspolitische Fragestellungen in den Vordergrund stellen. Wie ist das also beispielsweise mit dem Mindestlohn, den die Bundesregierung im Sommer auf 1.500 festsetzen möchte? Wir müssen dazu zwei Argumentationslinien unterscheiden: Theoretische Argumente einerseits und reale Erfahrungen, die anderswo gemacht wurden, andererseits.
Wichtige theoretische Argumente lauten:
- Jede bezahlte Arbeit ist so viel wert, dass man bei 40 Wochenstunden davon leben können muss.
- Es fallen weniger Sozialausgaben an, wenn Menschen von ihrer Arbeit leben können. Viele Teilzeitbeschäftigte im Niedriglohnsektor stocken ihr Einkommen z.B. mittels Mindestsicherung auf.
- Der Anreiz zur Arbeit ist höher, wenn der Unterschied zwischen Mindestsicherung und Arbeitseinkommen wächst.
- Der Mindestlohn stärkt die Kaufkraft und kann so über mehr Konsum die Wirtschaft sogar ankurbeln.
Diese Überlegungen sind richtig, reichen aber nicht aus, um die eingangs erwähnte Behauptung des „Jobkillers Mindestlohn“ zu widerlegen. Dazu ist es am besten, reale Beispiele aus anderen Ländern heranzuziehen.
Wichtige Erfahrungen kommen z.B. aus Großbritannien, wo der Mindestlohn 1999 unter der Regierung Blair eingeführt und jährlich stärker als die Durchschnittseinkommen erhöht wurde. Das hat (neben anderen Maßnahmen) nicht nur die Armutsquote leicht verringert, auch die Arbeitslosigkeit sank in den folgenden fünf Jahren kontinuierlich von 6% auf 4,7%.
Eine andere wichtige Erfahrung ist die Einführung des Mindestlohns in Deutschland zum 1.1.2015 – der größte Erfolg der aktuellen SPD-Regierungsbeteiligung. Eine groß angelegte Studie der Bundesagentur für Arbeit kommt zu dem Ergebnis, dass es bisher „kaum Hinweise auf nennenswerte Beschäftigungsverluste infolge des gesetzlichen Mindestlohns“ gibt. Das sozialpolitische Ziel wurde erreicht: In zahlreichen Niedriglohnsektoren hat der Mindestlohn zu erheblichen Lohnsteigerungen geführt.
Ein vernünftiger Mindestlohn – egal, ob über Kollektivverträge oder gesetzlich geregelt – ist eine essentielle Maßnahme, um der Unsicherheit menschlicher Existenz entgegenzutreten. Er ist eine verlässliche Untergrenze, die das Leben für alle Betroffenen kalkulierbarer macht. Er raubt damit der Welt ein Stück jener Schicksalhaftigkeit, gegen die die Sozialdemokratie seit 150 Jahren zu Felde zieht. Der Mindestlohn ist ein Beweis für die Gestaltbarkeit der Welt im Sinne universeller Werte wie Gerechtigkeit. Jede gestalterische Maßnahme gegen die Verunsicherung entzieht einer Politik der Angst den Nährboden.
Ab jetzt regelmäßig: Kolumne “Die soziale Frage”
Um der Bedeutung sozialer Fragen wie jener nach dem Mindestlohn gerecht zu werden, starte ich die regelmäßige Kontrast-Blog-Kolumne “Die Soziale Frage”. Ich freue mich auf den Austausch und hoffe, sie trägt kräftig zur wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussion unter sozial eingestellt Menschen bei.
Die Soziale Frage ist so alt wie der Mensch Geld (in früheren Zeiten Edelmetallgeld) benutzt. Und solange niemand wusste, wie die aus der Geldbenutzung resultierende, systemische Ungerechtigkeit der Zinsumverteilung von der Arbeit zum Besitz zu überwinden ist, musste diese “Mutter aller Zivilisationsprobleme” aus dem Begriffsvermögen des arbeitenden Volkes ausgeblendet werden, damit das, was sich heute “moderne Zivilisation” nennt, überhaupt entstehen konnte.
Das – und nichts anderes – war (und ist noch) der eigentliche Zweck der Religion, die vom Wahnsinn mit Methode zum Wahnsinn ohne Methode (Cargo-Kult um die Heilige Schrift) mutierte:
http://opium-des-volkes.blogspot.de/2018/01/religion-oder-leben.html