Als Wilhelmine Goldmann ihren Vater anlässlich des 50. Jahrestages der Februarkämpfe 1934 in seinem Heimatort Traisen weinen sieht, weiß sie: Sie will die Geschichte ihrer Eltern aufschreiben. Wie sie die Widerstandskämpfe und ihre Niederschlagung durch das Dollfuß-Regime erlebt haben – und sie will beantworten, wie es überhaupt soweit kommen konnte, dass kurze Zeit nach der Geburtsstunde der österreichischen Demokratie diese so gewaltvoll zerstört wurde. “Rote Banditen” ist ein Buch über eine Familiengeschichte, aber auch über die sozialen Verhältnisse der 1920er und 1930er Jahre. Wir haben die Autorin zum Gespräch getroffen.
Sozialdemokrat:innen haben den Arbeiter:innen in Traisen Bildung und Kultur gebracht – die Austrofaschisten haben die Bücher verbrannt
Kontrast: Frau Goldmann, in Ihrem Buch „Rote Banditen“ beschreiben Sie die Vor- und Nachgeschichte der Februarkämpfe 1934 in Österreich. Es ist einerseits die Geschichte Ihrer Familie, vor allem Ihrer Eltern, aber auch die Geschichte einer Gesellschaft. Was hat Sie bewegt, zu diesem frühen Zeitpunkt über das Wirken Ihrer Eltern vor 90 Jahren zu schreiben? Vielleicht können Sie auch zu Beginn erzählen, wer Ihre Eltern waren und wo sie aktiv waren!
Wilhelmine Goldmann: Der Zeitpunkt war eigentlich Zufall (lacht). Ich habe schon vor längerer Zeit begonnen, zu recherchieren und an dem Buch zu schreiben. Über Jahre hinweg. Und dann ist es immer später geworden. Da sich jetzt der Februar 1934 zum 90. Mal jährt, hat es sich natürlich angeboten, das zu einem Ende zu bringen. Ich wollte natürlich die Geschichte meiner Eltern schreiben und ihnen eine Art Denkmal setzen, weil sie zwei außergewöhnliche Menschen waren und weil ihre Geschichte symptomatisch ist für eine bestimmte Schicht der Sozialdemokratie in dieser Zeit. Mich hat interessiert: Wie ist es zu den Ereignissen im Februar 1934 überhaupt gekommen? Warum hat mein friedliebender Vater ein Gewehr in die Hand genommen? Warum haben die Christlich-Sozialen die Sozialdemokraten derart gehasst, dass sie sie auslöschen wollten? Diesen Fragen wollte ich nachgehen. Zudem wollte ich über die Lebensverhältnisse dieser Zeit generell schreiben. Mir war lang nicht bewusst, in welchen elenden Verhältnissen meine Eltern und ihre Geschwister aufgewachsen sind. Es war mir ein Anliegen, auch das zu vermitteln, weil das heute, glaube ich, nicht viele Menschen wissen.
Sie haben erklärt, Ihnen ging es auch darum, die Lebensumstände dieser Zeit aufzuzeigen. Wie waren die denn? Und was hieß das fürs gesellschaftliche Klima?
Goldmann: Es herrschte ungeheure Armut und Hunger in den proletarischen Familien. Die Geschichte meiner Eltern spielte sich in einem Industrieort ab, im Traisental. Traisen war wegen der Arbeiterschaft sozialdemokratisch eingestellt. Für meine Eltern, vor allem meinen Vater, war die Sozialdemokratie etwas ganz Wichtiges. Für meinen Vater war es die große Liebe seines Lebens, kann man sagen (lacht). Mit 13 Jahren ist er bei einer Jugendorganisation Mitglied geworden, mit 15 ist er der Partei beigetreten. Das war noch vor dem Ersten Weltkrieg. Die Sozialdemokratie hat sich bemüht, Bildung und Kultur in diesen Ort zu bringen. Sie hatten eine Theatergruppe, ein Orchester, einen Chor und haben alle möglichen Stücke aufgeführt, darunter Bertolt Brecht und Gerhard Hauptmann. Mein Vater hat Referenten eingeladen und die haben Vorträge gehalten – in der Bibliothek, die er dort eingerichtet hat. Die Vorträge waren nicht nur von Politikern, sondern auch Fachexperten. Das war Bildung für die Arbeiter und Arbeiterinnen. Ein Freund meines Vaters hat mir mal gesagt: Ein Buch in der Hand zu halten und lesen zu können, das war ein ungeheures Glücksgefühl. Im 1934er Jahr wurde die Bibliothek leider zerstört. Viele wissen das ja nicht, aber auch die Austrofaschisten haben Bücher verbrannt…
Das demokratische Verständnis für Koalitionen war in den 1920ern noch nicht so ausgeprägt – die Fronten zwischen den Lagern verhärteten sich zunehmend
Bei den „großen Ereignissen“ der Zwischenkriegszeit hat man oft Aufmärsche und Tumulte in Städten im Kopf. Wie waren denn die 1920er und frühen 1930er in den ländlichen Gegenden?
Goldmann: Man kann sich das so vorstellen, dass im Ort unten die Proletarier gewohnt haben, die dann in der Fabrik gearbeitet haben. Die Bauern rundherum waren auf den Hügeln. Die Bauern waren aber auch Kleinbauern, keine Großbauern. Mein Vater hatte als Bürgermeister sehr guten Kontakt zu den einzelnen Bauern. Er hat dort auch immer Most und Schnaps getrunken, er kam ja selbst aus bäuerlichen Verhältnissen. Seine Mutter war eine Bauerntochter aus dem Mühlviertel und er hatte also eine sehr gute Beziehung zu der Landbevölkerung. Aber natürlich waren die Bauern überwiegend katholisch und daher auch ÖVP-Wähler. Aber, es war nie so ein krasser Gegensatz zwischen den Arbeiter:innen und den Bauern dort.
Die Sozialdemokratie war von 1918 bis 1920 in der Regierung und hat in dieser kurzen Zeit vieles umgesetzt. Aber 1920, sagen Sie, hat die Partei ihren ersten großen, historischen Fehler in der Demokratie begangen – der folgenschwer war. Was war aus Ihrer Sicht dieser Fehler?
Goldmann: 1920 bei der Nationalratswahl kam die Sozialdemokratie auf 36 Prozent der Stimmen. Die Christlichsozialen hatten 42 Prozent. 1919 war das eben noch in etwa umgekehrt.
Damals war, so meine ich, das demokratische Empfinden noch nicht so entwickelt. Weil beide Parteien der Meinung waren, man muss allein eine Mehrheit haben, um regieren zu können. Koalitionen waren damals nicht so im Bewusstsein.
Im Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei gab es nun hitzige Diskussionen, ob man in der Regierung mitarbeiten möchte oder nicht. Und Otto Bauers Linie hat sich durchgesetzt. Er war der Meinung, die Rolle der Sozialdemokratie ist in der Opposition. Man soll sich aus der Regierung zurückziehen. Das halte ich nach wie vor für einen groben Fehler.
Was die Sozialdemokratie binnen weniger Jahre für die Arbeiter:innen geschafften hat, wollten die Christlich-Sozialen wieder zerstören
In dieser kurzen Zeit, 1918 bis 1920, hat die sozialdemokratisch geführte Regierung Dinge umgesetzt, die bis heute wirkmächtig sind: den Achtstundentag, die Gründung der Arbeiterkammer, die Schaffung der Arbeitslosenversicherung… Wie kam es, dass die Sozialdemokratie nach 1920 derart in die Defensive geraten ist?
Goldmann: Genau das ist die Frage, die ich mir auch gestellt habe. Ich glaube, dass die Bürgerlichen während dieser Koalitionsregierung diese Reformen nur mitgetragen haben, weil sie mussten. Weil der Druck der Straße so stark war und der Sozialminister Hanusch sich zwischen den Fronten aufgerieben hat. Also auf der einen Seite haben ihm Kriegswaisen und Kriegerwitwen die Tür eingerannt. Er stand unter ungeheurem Druck der revolutionären Massen. Und auf der anderen Seite standen die Bürgerlichen, die das alles nicht wollten. Nur gab es keine andere Möglichkeit als diese Arbeiter-Wohlfahrtsgesetze durch das Parlament zu bringen.
Die Christlich-Sozialen haben da mitgemacht, weil es nicht anders gegangen wäre. Die wollten schlicht keine kommunistische Revolution. Aber Arbeiterwohlfahrt? Natürlich wollten die sowas nicht. Die haben es nicht ertragen, dass sich da Interessen der Arbeiter durchgesetzt haben. Ignaz Seipel (u.a. Bundeskanzler für die Christlich-Sozialen) hat selbst wortwörtlich gesagt, er will den „Revolutionsschutt“ wegräumen. Das ist ihnen vorerst aber nicht gelungen, weil die Sozialdemokraten bei den Wahlen die stärkste Partei waren und im Parlament eine wichtige Rolle gespielt haben. Darum wollten die Christlich-Sozialen das Parlament ausschalten, denn das war ihnen lästig.
Goldmann: “Das Gegeneinander war eine Klassenfrage” – das Rote Wien war den Faschisten in ganz Europa ein Dorn im Auge
Dieser tiefsitzende Hass auf die Sozialdemokratie verwundert ja trotzdem, wenn man bedenkt, dass beide bzw. alle Lager nur wenige Jahre zuvor gemeinsam an Fronten im Ersten Weltkrieg gekämpft haben.
Goldmann: Dieses Gegeneinander war nun mal eine sehr klare Klassenfrage. Die Bürgerlichen wurden unterstützt von der Industrie. Der Industriearbeiterschaft höhere Löhne und mehr Sozialleistungen zu geben, bedeutete für sie, den Unternehmen etwas wegzunehmen. Was man aber dennoch, trotz der aufgeheizten Stimmung, mitbedenken sollte, ist, dass es trotzdem immer eine Gesprächsbasis auf politischer Ebene gab.
Es gab einzelne Arbeitervertreter in den christlich-sozialen Reihen, es gab echte Demokraten unter den Christlich-Sozialen. Es gab eine Gesprächsbasis bis zuletzt, bis noch zum Jänner 1934. Und es gab Vertreter in den Reihen, die versucht haben, einen Zusammenstoß zu verhindern. Es waren aber die sehr radikalen Heimwehren, die auf die Vernichtung der Sozialdemokratie gedrängt haben. Letztendlich hat Dollfuß befohlen, das Rote Wien zu beseitigen. Das war den Faschisten in ganz Europa ein Dorn im Auge.
Sie schreiben in Bezug auf Ihren Vater in der Zeit als sich alles Richtung Februarkämpfe zuspitzt, dass es verblüffend ist, dass Pazifisten und Pazifistinnen 1934 doch bereit waren, ein Gewehr gegen die Austrofaschisten in die Hand zu nehmen. Wie kam es dazu?
Goldmann: Die Aggression ging ja ganz klar von der Heimwehr aus. Die hat sich bewaffnet. Es war ja so: Soldaten sind nach dem Ersten Weltkrieg nach Hause geströmt, sind in ihre Dörfer gegangen und haben ihre Waffen aber behalten. Die haben sich vor der „roten Gefahr“ gefürchtet und dann mitunter die Heimwehren gegründet. Dort haben sie sich radikalisiert und immer wieder Attentate verübt. Auf der anderen Seite wurde dann der Schutzbund gegründet, sozusagen als Gegenwehr. Die Sozialdemokratie war auf Verteidigung ausgerichtet, nicht auf Angriff.
Gleichzeitig hat Otto Bauer sehr radikale Reden gehalten, hat davon gesprochen, die Arbeiterinnen und Arbeiter auch mit der Waffe zu verteidigen. Aber auch er wollte keinen offenen Kampf.
Die Aufmärsche des Schutzbundes sollten in der Öffentlichkeit Macht demonstrieren. Aber ehrlicherweise muss man sagen: Diese Macht hatten sie nicht. Sie wollten zeigen, dass sie stark sind, damit sich die Gegenseite fürchtet. Die hat sich halt nicht gefürchtet, sondern angegriffen.
Februar 1934: Sozialdemokratie und Gewerkschaften waren geschwächt, der Aufstand schlecht vorbereitet
Beim Blick in die Vergangenheit denkt man sich oft, dieser Aufstand – oder Widerstand – der Sozialdemokratie wäre gut geplant und vorbereitet gewesen. Liest man Ihre Schilderungen, zeichnet sich ein anderes Bild.
Goldmann: In Wahrheit war der Schutzbund völlig desorganisiert, als es um die Kämpfe im Februar 1934 ging. Man muss aber dazu sagen, dass schon viel früher viele Schutzbündler verhaftet worden sind. Also gar nicht mehr mitmachen konnten. Es wurden schon Waffen konfisziert etc. Das heißt, der Schutzbund wurde schon von den Austrofaschisten geschwächt. Er war auch seit dem Jahr 1933 verboten. Viele Funktionäre waren wohl unsicher, ob sie sich für diese Kampfhandlungen hergeben wollen oder können.
Die Kommunikation, das kann man sagen, hat nicht funktioniert. Nicht zwischen Linz und St. Pölten, nicht in der Steiermark… In Wien war es etwas anders.
Ihre Eltern haben in den Folgetagen dieses „Bürgerkrieges“ Genossen und Freunde verloren. Wie hat sich das auf das Leben Ihrer Eltern in den Jahren danach ausgewirkt?
Goldmann: Für meinen Vater war das ein sehr traumatisches Erlebnis. Er wurde ja selbst inhaftiert und zwei seiner Genossen, seiner Freunde, wurden im Gefängnishof erhängt. Wie sehr ihn das erschüttert haben muss, habe ich erst sehr spät erkannt. Konkret zum 50. Jahrestag der Februarkämpfe im Jahr 1984. Da wurde mein Vater als Referent von der Ortspartei der SPÖ in Traisen eingeladen. Das war sehr emotional für ihn. Als Bürgermeister hat er auch durchgesetzt, dass es eine Rauchenbergergasse (benannt nach Viktor Rauchenberger, Anmk. der Redaktion) und eine Hoisgasse (benannt nach Johann Hois, Anmk. der Redaktion) im Ort gibt. Damit diesen beiden ermordeten Schutzbündlern ein Denkmal gesetzt wird, wie er es damals versprochen hatte.
“Meine Eltern wollten nicht mit uns Kindern über diese Jahre sprechen”
Wie haben die Erfahrungen, die Ihre Eltern in den 1930ern und danach gemacht haben, Ihre Kindheit und Ihre Erziehung beeinflusst?
Goldmann: Meine Eltern haben über diese Jahre überhaupt nicht geredet. Wenn wir gefragt haben, hat mein Vater geantwortet: ‚Jede Generation muss ihre eigenen Erfahrungen machen‘. Der Einzige, der ein bisschen darüber geredet hat, war ein Freund meines Vaters. Der war Kommunist und hat mehrere Konzentrationslager überlebt, war Spanienkämpfer und sozialdemokratischer Gemeinderat in Dresden. Von dem haben wir ein bisschen über diese Zeit, über die Zusammenkünfte, die sie in der Wohnung meiner Eltern hatten, erfahren. Aber sonst nichts.
Ich glaube, nach dem Zweiten Weltkrieg war die Situation für meine Eltern eine völlig andere als davor. Mein Vater hatte eine feste Anstellung in der Gebietskrankenkasse. Meine Mutter hat in einem Industriebetrieb Karriere gemacht. Ihnen ging es finanziell gut. Sie konnten sich ein Grundstück kaufen, ein Haus bauen. Ihnen war wichtig, dass wir moralisch einwandfrei sind und dass wir die bestmögliche Bildung vermittelt bekommen. Deshalb wurden meine Schwester und ich auf ein Internat geschickt mit der besten Schule, die möglich war. Soziale Gerechtigkeit, dass wir die hochhalten, das war ihnen auch wichtig, ja. Aber dass wir etwas aus ihrer Vergangenheit gelernt hätten, das wäre nicht möglich gewesen.
Goldmann: Die ÖVP macht heute den gleichen Fehler wie die Christlich-Sozialen in den 1930ern: Man treibt den Rechten Menschen in die Arme
Seit 1934 sind 90 Jahre vergangen. Haben wir als Gesellschaft aus diesem Teil unserer Geschichte gelernt? Oder sehen Sie Parallelen? Die Verrohung hat sich ja in den 1920ern gesteigert, jetzt haben wir die 2020er Jahre.
Goldmann: Ich mache mir durchaus Sorgen, täglich mehr, um ehrlich zu sein. Wenn man sich ansieht, wie rechte Demonstrationen ablaufen, wie aggressiv es zugeht, diese aufgeheizte Stimmung – die Intoleranz, die zunimmt.
Was mich auch sehr beunruhigt, ist, dass die ÖVP im Grunde den gleichen Fehler macht wie die Christlich-Sozialen in den 1930er Jahren. Man macht eine Politik, die den Rechten nutzt. Man koaliert heute problemlos mit der Kickl-FPÖ.
Man treibt immer mehr Menschen dieser FPÖ in die Arme. In Deutschland dasselbe: Die CDU arbeitet mit der AfD zusammen.
Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste, um gegen diese Tendenzen anzukämpfen – und diese Verrohung zu stoppen?
Goldmann: Ich glaube, man kann und muss aus der Geschichte lernen. Ich sehe nur nicht, dass das passiert. Es wäre wünschenswert, wenn es zwischen ÖVP und SPÖ wieder eine Verständigung gibt. So ein gewisses respektvolles Miteinander wäre sinnvoll. Beide Seiten sollten ihre Geschichte aufrollen, Fehler suchen und daraus Ableitungen treffen. Ich habe meine Zweifel, dass das passiert. Auf größerer Ebene fehlt mir das Rezept.
Wilhelmine Goldmann (Jg. 1948) war viele Jahre Mitarbeiterin der Arbeiterkammer und danach Managerin in der ÖIAG, bei der Postbus und in der ÖBB Personenverkehr AG. Mit „Rote Banditen“ hat sie ein Stück sozialdemokratische Familiengeschichte veröffentlicht. Sie zeichnet die großen Entwicklungslinien einer politischen und gesellschaftlichen Bewegung anhand der eigenen familiären Wurzeln nach.
Symposium 10./11.02.204 in Wien
12. Februar: Tag des Aufstands gegen den Austrofaschismus https://www.buendnis1202.at/