Die Schweiz hat sieben Jahre lang über ein Rahmenabkommen verhandelt, dass die politischen und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den EU-Ländern und der Schweiz regeln soll. Doch die EU-Kommission war nicht bereit, die hohen Arbeitsstandards für Arbeitskräfte aus dem EU-Ausland zu akzeptieren – und traf sich dabei mit den konservativen Kräften in der Schweiz, wie der Schweizer SP-Vorsitzende Cédric Wermuth sagt. Ohne Lohnschutz lehnten Sozialdemokraten und Gewerkschaften das Rahmenabkommen ab.
Über Jahrzehnte sei es üblich gewesen in der Schweiz, dass Marktöffnungen für Unternehmen durch Lohnschutz und andere soziale Maßnahmen abgefedert wurden, erzählt der Schweizer SP-Vorsitzende Cédric Wermuth im Interview mit Kontrast. Aber: “Wie überall aber haben auch bei uns gewisse Fraktionen des Kapitals den Klassenkampf von oben intensiviert in den letzten Jahren. Sie greifen die Arbeitsbedingungen, das Steuerrecht und eben auch den Lohnschutz frontal an.”
Wermuth ist enttäuscht, dass das Rahmenabkommen gescheitert ist und betont seine pro-europäische Haltung: Es gebe nicht nur Marktöffnung oder Nationalismus, wie das Liberale in Politik und Medien gerne darstellen. Wemuth will etwa die Beiträge der Schweiz zum Kohäsionsfonds erhöhen und sich an den Wiederaufbau-Programmen der EU beteiligen. Von der EU-Kommission wünscht er sich, dass sie ihre dogmatische Haltung zum Lohnschutz aufgibt und den Weg für ein soziales Europa öffnet.
Ende Mai hat die Schweiz die Verhandlungen mit der EU über den Abschluss eines institutionellen Rahmenabkommens abgebrochen. Insgesamt 7 Jahre wurde verhandelt. Was war der Grund für den Abbruch?
Wermuth: Für uns ist das sehr enttäuschend, dass nach 7 Jahren Verhandlungen nichts rausgeschaut hat. Die Gründe für den Abbruch sind mannigfach. Aus sozialdemokratischer Sicht war das Problem die drohende Liberalisierung des öffentlichen Sektors und vor allem der Lohnschutz, den der liberale Außenminister Ignazio Cassis aufgegeben hat bei den Verhandlungen. Die bürgerliche Seite wiederum war nicht bereit, den Menschen aus der EU den gleichen Zugang zu den Sozialwerken zu gewähren. Der FDP-Außenminister hat sich in den Verhandlungen einseitig auf die Anliegen der Rechtspopulisten konzentriert und auf deren Zustimmung gesetzt.
Die Beziehung zwischen der Schweiz und der EU ist seit Jahren erodiert, die EU entwickelt ihr Recht weiter und die Schweiz übernimmt das nur selektiv. Das Rahmenabkommen hätte das zwar geändert, aber die vorgeschlagenen Lösungen im Rahmenabkommen wären demokratiepolitisch auch für uns schwierig gewesen. Wenn das EU-Recht ohne unsere Mitsprache gemacht wird, von der Schweiz aber fast automatisch übernommen und vom Europäischen Gerichtshof beurteilt würde, wo wären dann da die demokratische Mitsprache?
Warum ist die Schweiz eigentlich kein EU-Mitglied?
Wermuth: Seit die Schweizerinnen und Schweizer 1992 gegen den EWR-Beitritt stimmten, wird die Beziehung zwischen der Schweiz und der EU in über 100 bilateralen Verträgen geregelt. Man kann sagen: Die Schweiz leistet wenig Beiträge und kriegt dafür einen großzügigen Marktzugang. Der innenpolitische Deal war: Marktöffnung gegen Lohnschutz, den Ausbau des Sozialstaates und Arbeitsmarktkontrolle. Das hat lange für beide Seiten ziemlich gut funktioniert.
Inzwischen verfolgen aber große Teile der bürgerlichen Kräfte eine Singapur-Strategie. Das heißt, man versucht als Regulierungs- und Steueroase eine Nische für Konzerne und Superreiche anzubieten. Sie meinen, dieses Abseitsstehen von der Europäischen Union macht unsere Stärke aus. Das sieht man zum Beispiel in der Steuerdumping-Politik der Schweiz.
Ich persönlich bin überzeugt, dass es keine andere linke Perspektive gibt als die EU demokratie- und sozialpolitisch grundlegend zu reformieren. Und ja, da gibt es enorme Probleme. Aber die Zustimmung in der Schweizer Bevölkerung für einen allfälligen Beitritt ist erodiert, auch in der Linken – nach der Finanzkrise, der Griechenlandkrise und der Flüchtlingskrise. Da hat die EU viel an Rückhalt verloren. Leider zu Recht. Darum ist für die SP heute auch klar, dass der Beitritt kein Selbstzweck wäre. Es müsste das Land in der EU sozialpolitische weiterbringen.
Der Abbruch gilt als Erfolg der Rechtspopulisten, aber auch den Sozialdemokraten wird ein Anti-EU-Kurs vorgeworfen…
Wermuth: Die Wirtschaftselite und die Konservativen wollen um jeden Preis eine neoliberale Integration in die EU.
Leider haben sie es geschafft, die öffentliche Debatte auf eine Entweder-Oder-Logik zu verengen: Es gibt nur die radikale Marktöffnung und wenn man die ablehnt, ist man ein Nationalist.
Es ist wichtig, dass die Linke in Europa das durchschaut. Ein funktionierender Lohnschutz ist keine nationalistische Position. Das ist eine Position, für die Gewerkschaften und linke Parteien in ganz Europa kämpfen. Wir stehen auch in Absprache mit Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien in der EU und kämpfen gemeinsam für ein soziales Europa. Und es gibt jetzt ja auch in der EU einige, wenn auch zaghafte Ansätze, die soziale Säule zu stärken und entsandte Arbeiter:innen besser abzusichern. Das begrüßen wir sehr.
Es ist wichtig zu verstehen, woher unsere Position kommt. In der Schweiz sind die Lohnschutzmaßnahmen an die Personenfreizügigkeit gekoppelt. Fällt das eine, dann fällt das andere. Wir verteidigen den Lohnschutz gerade aus einer pro-europäisch Haltung. Die Schweiz hatte lange ein sehr diskriminierendes Ausländerrecht. Arbeiter:innen aus anderen Ländern waren praktisch rechtlos. Lange gab es auch in den Gewerkschaften zumindest latent fremdenfeindliche Haltungen. Mit dem Personenfreizügigkeit ist es gelungen, diese Haltung aufzubrechen. Das heutige System schützt nicht nur einheimische Arbeiter:innen, sondern alle Lohnabhängigen, die in der Schweiz arbeiten. Niemand soll in der Schweiz ausgebeutet werden.
Das ist der Grund, warum ich die harte Position der EU-Kommission zum Lohnschutz nie verstanden habe. Das System schützt gerade auch Europäer:innen davor, auf dem Schweizer Arbeitsmarkt ausgebeutet zu werden. Der EU ist wichtig, dass es im freien Warenverkehr zu keiner Diskriminierung von Waren aus der EU kommt. Das verstehen wir. Aber es geht nicht, dass die Dienstleistungsfreiheit wichtiger ist als der Lohnschutz.
Worum geht es genau beim Lohnschutz?
Wermuth: Das Lohnniveau in der Schweiz ist hoch und das System der so genannten Flankierenden Massnahmen im Bereich Lohnschutz sorgt dafür, dass es in der Schweiz keinen Niedriglohnsektor gibt wie in anderen europäischen Ländern wie Deutschland oder Frankreich. Der Schutz von Löhnen und Arbeitsbedingungen wird sozialpartnerschaftlich sichergestellt, das heißt von den Wirschaftsverbänden, den Gewerkschaften und dem Staat zusammen. Das Kontrollniveau ist im Vergleich zum Umland sehr hoch, die je nach Branche geschuldeten Kautionen schützen vor Dumpingangeboten. Zudem wurde die Allgemeinverbindlichkeit der Gesamtarbeitsverträge (aka Tarifverträge) vereinfacht und neue Instrumente eingeführt.
Im Ergebnis sind wir eines der ganz wenigen Ländern in Europa, das in den letzten zwanzig Jahren die branchenweiten Tarifverträge ausgeweitet hat.
Vor den Verhandlungen hat die Regierung gemeinsam mit den Parteien und den Sozialpartnern rote Linien definiert, der Lohnschutz war eine davon. Doch der liberale Außenminister hat den Lohnschutz in den Verhandlungen zuletzt aufgegeben Das erklärte Ziel war, sich aus der “Geiselhaft” der Linken zu befreien, zu deutsch: Endlich den lästigen Lohnschutz loswerden und die bürgerliche Singapur-Strategie durchzusetzen …
Warum?
Wermuth: Wie gesagt, die Gewerkschaften haben an Gewicht gewonnen, auch politisch. Das passt dem Kapital halt nicht. Aber der Lohnschutz ist ein Fundament für die Annäherung der Schweiz an die EU. Das ist der Grund, warum es überhaupt eine politische Mehrheit für die Annäherung an die EU gibt. Die Schweiz ist ja sehr direktdemokratisch. Jeder Vertrag, der am Lohnschutz etwas ändern möchte, muss durch eine Volksabstimmung, genauso wie jeder neue Vertrag mit der EU. Das hat den Kompromiss zwischen der Sozialdemokratie und den Liberalen ermöglicht: Marktöffnung gegen mehr Lohnschutz und mehr Sozialstaat. Man kann sagen: Die Annäherungs-Dividende wurde relativ gerecht verteilt.
Wie überall aber haben auch bei uns gewisse Fraktionen des Kapitals den Klassenkampf von oben intensiviert in den letzten Jahren. Sie greifen die Arbeitsbedingungen, das Steuerrecht und eben auch den Lohnschutz frontal an.
Worum ging es bei der Liberalisierung des öffentlichen Sektors?
Wermuth: In der Schweiz sind viele Grundgüter nach wie vor Teil des Service public (dem Schweizer öffentlichen Sektor) oder zumindest stark reguliert. Zum Beispiel die Bahn (komplett staatlich), die Post (Briefmonopol), aber auch Wasser, Strom, Gesundheit. Die entsprechenden Passagen im Rahmenabkommen waren unklar. Es war offen, ob die Schweiz strengere Regeln zu den staatlichen Beihilfen hätte übernehmen müssen, was einer faktischen Liberalisierung gleichkommen wäre, ohne jegliche Begleitmaßnahmen. Das wäre für uns inakzeptabel. Die Frage wurde aber offenbar nicht mal mehr abschließend geklärt.
Wie geht es jetzt weiter?
Wermuth: Wir haben gerade letzten Samstag eine gemeinsame Erklärung mit der SPÖ, der SPD, dem PSF und den italienischen Demokraten verabschiedete (LINK). Sie unterstützen uns in zwei Dingen. Erstens muss der Schweizerische Bundesrat jetzt die Europapolitik seinerseits deblockieren. Die Schweiz schuldet der Union Beiträge an den Kohäsionsfonds, die wir seit Jahren zurückhalten. Dabei ist der Schweizer Beitrag lächerlich tief. Gerade angesichts der Covid-Krise sollten wir diese Gelder endlich freigeben und auch erhöhen. Zweitens fordern wir die EU-Kommission und den Bundesrat auf, Gespräch aufzunehmen über offene Dossiers, an denen beide ein vitales Interesse haben. Dazu gehören verschiedene Abkommen im Bereich Forschung, Marktzugängen, Bildung, etc.
Es macht keinen Sinn, sich jetzt gegenseitig lange zu blockieren. Darüber hinaus sollten wir in den wichtigen Fragen unserer Zeit kooperieren. Wir wollen, dass die Schweiz mitmacht beim Green Deal, der Finanzierung der Recovery Programme und der globalen Mindeststeuer. Die Sozialdemokrat:innen in den Nachbarländern verstehen das übrigens bestens, wir sind sehr dankbar über diesen Support und die enge Zusammenarbeit. So war Evelyne Regener (Europaabgeordnete der SPÖ) gerade vergangenes Wochenende bei uns zu diesem Thema. Und drittens muss die Debatte über eine langfristige Lösung wieder aufgenommen werden. Wir haben als Sozialdemkrat:innen bereits eine Lösung vorgeschlagen: Die Schweiz soll die Unionsbürgerrichtline der EU ohne weitere Opposition übernehmen, dafür kommt die EU der Schweiz beim Lohnschutz entgegen. Hier erwarten wir, dass sich die Kommission von ihrer doch sehr dogmatischen Position löst und fortschrittliche europäische Lösungen präsentiert.
Als SP Schweiz haben wir übrigens auch entschieden, unsere europapolitischen Grundlagen zu überprüfen. Wir werden 2022 an einem Parteitag unsere Position schärfen und aktualisieren.
Cédric Wermuth ist seit Oktober 2020 Co-Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz – gemeinsam mit Mattea Meyer.