Menschen sterben. Die humanitiäre Krise an der türkisch-griechischen Grenze eskaliert. In Syrien wird die Zivilbevölkerung bombardiert, in der Türkei setzen anti-syrische Pogrome ein und auf den griechischen Inseln wüten rechtsextreme Mobs gegen Flüchtlinge. Die internationale Gemeinschaft stellt Hilfsgelder auf. Bundeskanzler Kurz verspricht 3 Mio. Euro für Hilfe vor Ort. Ein Witz: Das 10 mal größere Deutschland zahlt 300 mal soviel: 1 Milliarde Euro.
Was passiert jetzt mit den Flüchtlingen aus Syrien, die nach Griechenland kommen?
Die türkischen Behörden haben den sogenannten Türkei-Deal mit der EU aufgekündigt und schicken seit Freitag Flüchtlinge nach Griechenland: Sie organisieren Busse an die Grenze. In der Türkei werden syrische Flüchtlinge und syrische Geschäfte von rechten Mobs rund um die faschistische, türkisch-nationalistische Organisation “Graue Wölfe” attackiert – eine Art Pogrom, sagt der Politikwissenschafter und Nahost-Experte Thomas Schmidinger. Politische Beobachter vermuten hinter den Angriffen auf Syrer zum Teil auch eine staatliche Koordinierung.
Doch auch Griechenlands rechtskonservative Regierung will die syrischen Flüchtlinge nicht aufnehmen. Sie setzt Tränengas und Munition ein und hat das Asylrecht ausgesetzt – ein grundlegendes Menschenrecht, das als Lehre aus dem Holocaust beschlossen wurde. Derzeit lässt die EU Menschen nicht nur sterben, wie es im Mittelmeer seit Monaten passiert, sondern trägt aktiv dazu bei, dass sie sterben.
Das Vorgehen kostete bereits Menschenleben: Am Montagvormittag ist ein Kleinkind ertrunken als ein Schlauchboot vor der Küste Lesbos unterging – das Boot kam mit 48 Geflüchteten aus der Türkei. Ein 22-Jähriger Syrer soll am Montag an der Grenze von der griechischen Grenzwache erschossen worden sein.
Dazu kommt, dass in den griechischen Häfen Rechtsextreme eine Pogrom-Stimmung erzeugen und die griechische Polizei nicht einzugreifen scheint: Hunderte Rechtsextreme versammeln sich, um Boote am Anlegen zu hindern. Rechte Mobs rufen “Geht zurück in die Türkei” und bewerfen auf die Ankommenden mit Gegenständen. Der Spiegel berichtet von einem Mob, der die griechische Nationalhymne singt und mit Ästen an der Küste Straßensperren errichtet.
“Von der Polizei war nirgendwo etwas zu sehen. Der Staat kümmert sich nicht und überlässt den Rechten das Feld”, berichtet der Videojournalist Michael Trammer “Hier braut sich gerade ein Pogrom zusammen.”
Trammer wurde von einem rechtsextremen Mob selbst attackiert. Er kam mit einer Platzwunde davon, seine Kamera landete im Meer.
In der Nacht auf Montag ist ein Erstaufnahmezentrum angezündet worden. “Die Situation auf Lesbos hat sich in den letzten Tagen extrem zugespitzt. Als heute eines der Boote anlegen wollte, standen etwa hundert Menschen am Hafen, haben „Geht zurück in die Türkei“ gebrüllt und die Menschen mit Gegenständen beworfen. Einige haben das Boot immer wieder aufs Meer hinausgestoßen. Es waren Kinder an Bord, die geweint haben. Die Küstenwache hat sich nicht blicken lassen.” so Trammer gegenüber dem Tagesspiegel.
Der ÖVP-Gemeinderat und frühere ÖVP-Wien Chef Manfred Juraczka freut sich indes darüber, dass die linke Syriza abgewählt wurde und die rechtskonservative Nea Dimokratia nun an der Macht ist.
„Unser aller Ziel muss es sein, die Menschen nicht mehr durch Europa durch zu winken, sondern an der Außengrenze anzuhalten”, sagt Österreichs Außenminister Karl Nehammer. Aber was heißt das? „
Sie müssen jene Politiker, die sagen, sie werden niemanden durchwinken und die Grenzen mit Gewalt schließen, fragen, wie sie das machen wollen, wenn Boote mit hunderten Flüchtenden auf griechische Inseln zufahren. Wie wollen sie diese Menschen stoppen?” fragt der Migrationsforscher und Architekt des Türkei-Deals Gerald Knaus im Kurier, und erklärt: „Man darf auf Asylsuchende nicht schießen. Dafür gibt es keine Rechtsgrundlage.“
Eher Gefängnisse: Die Situation in den griechischen Lagern
Die Situation in den Flüchtlingslagern auf griechischen Inseln wie Lesbos ist schon länger katastrophal. Moria ist das größte Flüchtlingslager Europas, dort leben mittlerweile 21.000 Menschen – ausgelegt war es einst für 3.000. Auf Lesbos leben auch 8.000 Flüchtlingskinder – für sie gibt es weder Ärzte, noch Schulen oder genügend sauberes Wasser.
Die Lager dort sind eher Gefängnisse als Flüchtlingsunterkünfte. Die Menschen werden absichtlich schlecht behandelt. Solche Bedingungen wären leicht vermeidbar, aber die „Hölle von Moria“ ist Absicht – sie soll Flüchtlinge vor Europa abschrecken, sagen Helfer und Griechen. Letzte Woche hat das Profil berichtet, dass es keine Ärzte für schwerkranke Kinder gibt und die Polizei bei Protesten mit Tränengas gegen Kleinkinder und Alte vorgeht.
“Man hat Menschen dort monatelang unter erbärmlichen Umständen festgehalten, es gab keine Asylverfahren mehr. Dort explodiert die Situation, und die griechische Polizei verliert die Kontrolle. Das ist eine Katastrophe für Griechenland und für die Flüchtlinge und für Europa und für das globale System des Flüchtlingsschutzes.“ sagt der Migrationsexperte Knaus.
Seit die rechtskonservative Nea Dimokratia letzten Juli die Regierung übernommen hat, hat sich die Situation in den Flüchtlingslagern dramatisch verschlechtert. Die Regierung verweigert Flüchtlingskindern und unbegleiteten Minderjährigen eine Sozialversicherungsnummer – sie haben damit weder ein Recht auf medizinische Versorgung noch auf einen Schulbesuch.
Griechenland hat die anderen EU-Staaten aufgerufen, zumindest minderjährige Migranten aus den Lagern in der Ägäis aufzunehmen. “Es kann nicht sein, dass ein Land sich weigert, 50 oder 100 Kinder aufzunehmen”, sagte Regierungschef Kyriakos Mitsotakis. Doch kein EU-Regierungschef fühlt sich verantwortlich. Die humanitäre Krise in griechischen Flüchtlingslagern war lange absehbar – und hätte leicht verhindert werden können.
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Warum schickt Erdogan die Flüchtlinge in die EU?
Die Türkei, unter Erdogan, hat rund 3,7 Millionen Syrer aufgenommen, die vor dem Krieg in ihrer Heimat geflohen sind. Die türkische Regierung befürchtet jetzt einen neuen Zustrom von Flüchtlingen aus Idlib, wo mehr als zwei Millionen Flüchtlinge leben.
Seit 2016 gibt es den EU-Migrationsdeal mit der Türkei: Die Türkei bekommt Geld von der EU, das direkt in die Betreuung von Flüchtlingen fließt. Dafür lässt die Türkei keine Flüchtlinge in die EU durch. Umgekehrt hat sich die EU auch verpflichtet, der Türkei einige Flüchtlinge abzunehmen – also einen kleinen Anteil zu übernehmen. Aber das hat die EU nie wirklich geschafft. Für viele Flüchtlinge wird immer klarer, dass sie weder in ihr Land zurück können, noch eine Lebensperspektive in der Türkei haben.
Letztes Jahr haben es rund 73.000 Migranten illegal aus der Türkei nach Griechenland geschafft, wie das Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) angibt. Erdogan drohte bereits Ende letzten Jahres, das Flüchtlingsabkommen aufzukündigen und mehr Flüchtlinge aus Syrien nach Europa durchzulassen. In den letzten Tagen kam es nun offenbar zu organisierten Flüchtlingstransporten an die griechisch-türkische Grenze. So will Erdogan die EU unter Druck setzen.
Was kann Europa machen und was braucht es jetzt?
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Erstens: Eine sofortige echte Waffenruhe in Idlib
Alle Angriffe auf zivile Ziele und die Zivilbevölkerung müssen gestoppt werden. Internationale UN-Truppen sollen das überwachen, das fordert der SPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament Andreas Schieder.
Am 5. März scheint es eine von der Türkei und Russland ausgehandelte Waffenruhe für die syrische Provinz Idlib. Die scheint auch weitgehend zu halten, wie Aktivisten und Oppositionsvertreter berichten. Wenn die Waffenruhe hält und Russland seinen Einfluss auf die Regierung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad durchsetzt, können Hilfsorganisationen den Menschen in Idlib tatsächlich helfen. Die Vereinten Nationen beginnen jetzt mit beiden Seiten Gespräche, wie diese Hilfe umgesetzt werden kann.
Zweitens: Echte Hilfe vor Ort
Die finanziellen Ausstattung der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR würde bei der Hilfe vor Ort viel bringen. Tatsache ist aber: Die österreichische Bundesregierung hat 2020 bislang nur 23.000 Euro ausgegeben. Im März 2020 verspricht Bundeskanzler Kurz 3 Mio. Euro für Hilfe vor Ort. Doch das ist Ein Witz: Das 10 mal größere Deutschland zahlt 300 mal soviel: 1 Milliarde Euro. Auch ein anderer Vergleich muss erlaubt sein – für seine Eigenwerbung budgetierte Kurz als Bundeskanzler 2018 noch 30 Mio. Euro. Immerhin das zehnfache.
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Was es jetzt nicht braucht, ist die alte Selbstinszenierung der Rechtsnationalisten, wie die von Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz. Der hat bisher jede vernünftige gemeinsame Maßnahme in der EU blockiert und die Mittel für Hilfe vor Ort in Wirklichkeit gekürzt.
Drittens: Gesamteuropäische Lösungen statt der Inszenierung durch Nationalisten
Das Blockieren und Verschleppen eines effektiven Europäischen Flüchtlingssystems rächt sich jetzt:
„Wer sich in der Vergangenheit dafür interessiert hat, wusste das dieses Problem kommt. Leider hat auch die Österreichische Bundesregierung weggeschaut.” sagt der Politikwissenschafter Schmidinger.
Europa müsse die Flüchtenden aus Syrien aufnehmen solange das noch kontrolliert geht, sagt Schmidinger. In einem zweiten Schritt muss man schauen: “Wer qualifiziert sich für Asyl? Wer für vorläufiges Bleiberecht? Und wer hat überhaupt kein Recht hier zu sein und ist womöglich sogar gefährlich?”. Denn wenn das System einmal zusammengebrochen ist, umso schwerer ist es, echte Flüchtlinge von Jihadisten zu unterscheiden. “Das ist im Sicherheitsinteresse Europas.”, stellt Schmidinger fest.
Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) hat im Unterschied zu Sebastian Kurz mehrere Vorschläge zur aktuellen humanitären Krise gemacht. Soforthilfe für die Krisenregion im Nordwesten Syriens und Schaffung menschenwürdiger Bedingungen für die Migranten auf den griechischen Inseln. “Wenn das nicht gelingt, sind wir dafür, Frauen und Kinder herauszuholen”, sagt Kogler.
Was das Abkommen mit der Türkei betrifft, sprach sich Kogler für die Fortsetzung aus. Auch die SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner verlangte die Einberufung eines EU-Sondergipfels und die Verlängerung des EU-Türkei-Deals. Seit dem letzten Türkei-Deal habe man sich “zurückgelehnt” und Symbolpolitik betrieben.
Doch auch in anderen Bereichen müsste Europa gemeinsam agieren: Ein einheitliches europäisches Asylrecht und eine rasche Einigungen über EU-Mittel statt gegenseitiger nationaler Vetos brächten uns einen Schritt voran.