Tunesien gilt als das geglückte Beispiel des arabischen Frühlings: Demokratische Wahlen, Meinungsfreiheit und eine fast säkulare Verfassung. Seit der Revolution wird offen über Politik debattiert, diskutiert und erbittert gestritten. Die Zivilgesellschaft und die Gewerkschaft sind sehr aktiv und wenn etwas nicht gefällt, wird demonstriert. Zum Anlass des 8-jährigen Jubiläums der Jasminrevolution hat Kontrast.at mit der tunesischen Journalistin Malek Lakhal gesprochen. Matthias Mayer und Carla Schück aus Tunis.
Lakhal hat über die heutige Lage in Tunesien, soziale Probleme und Medien gesprochen. Sie schreibt für das vielfach ausgezeichnete Onlinemedium Nawaat, das 2004 gegründet wurde und bis 2011 verboten war.
kontrast: Wie kann man Tunesien heute 8 Jahre nach dem arabischen Frühling beschreiben?
Lakhal: Die Lage in Tunesien ist komplex, natürlich hat sich viel geändert seit dem Ende der Diktatur 2011, aber man kann sagen, dass wir uns heute in einer Phase der wirtschaftlichen Gegenrevolution befinden. Politisch hat es einen sehr klaren Bruch mit der Ära Ben Ali gegeben. Doch wirtschaftliche hat sich wenig getan. Darunter leiden vor allem die ärmeren Schichten der Bevölkerung.
kontrast: Sie sprechen die wirtschaftliche Situation an. Hat sich wirklich nichts seit Ben Ali geändert?
Lakhal: Ben Ali hatte ein vollkommen neoliberales System installiert. Aber er war klug genug, gewisse Abfederungsmaßnahmen einzuführen. Das heißt, trotz der äußerst markt-liberalen Logik hat der Staat vor 2011 mit einer Art sozialen Airbag für Ausgleich gesorgt. Es wurden zum Beispiel Solidaritätskassen eingeführt und unzählige schlecht-bezahlte öffentliche Stellen geschaffen, um die ärmeren Schichten ruhig zu halten. Das war natürlich keine nachhaltige Lösung, aber heute ist die Lage noch komplizierter: das neoliberale System ist geblieben, aber für die Ausgleichsmaßnahmen hat der Staat aufgrund seiner Verschuldung kein Geld mehr. Das heißt, wir sind in demselben neoliberalen Regime, wenn nicht sogar einen Schritt weiter: Länder wie die USA oder die EU drängen auf mehr Freihandel, was negative Auswirkungen auf die ohnehin fragile tunesische Wirtschaft hat.
Auf der einen Seite finanziert die EU zwar Programme zur Förderung der Zivilgesellschaft, aber im Hinterkopf haben sie das Freihandelsabkommen. Das Motto ist: „wir geben euch Geld, also macht, was wir wollen.“ Das wird schwerwiegende Konsequenzen für die tunesische Wirtschaft haben, und dieser Schutzmechanismus für die sozial Schwächsten ist schlicht weggefallen. Wir befinden uns daher in einem neoliberalen Kontext ohne jeglichen Airbag. Das führt zu wachsenden sozioökonomischen Ungleichheiten, und wir sehen auch den Niedergang der Mittelklasse, die sich gerade auflöst.
kontrast: Wie ist das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und der Regierung?
Lakhal: Sehen Sie, 2011 sind die Menschen aufgestanden und sie haben Ben Ali aus dem Amt und aus dem Land gejagt. Aber die Macht der Bevölkerung nimmt ab. Es gibt kaum noch Druck von der Straße. Die Macht liegt nicht innerhalb des Landes. Die Politik hört nur auf das was im Ausland gesagt und gefordert wird.
Statt auf die Interessen der Bevölkerung im Auge zu haben, wird nur darauf geschaut, was ausländische Partner wie der Internationale Währungsfonds oder die Weltbank wollen. Die Menschen schauen durch die Finger.
Die Politik macht sich abhängig von externer Expertise und folgt einer Logik der Technokratie, aber sie hat den Bezug zur Bevölkerung verloren. Das ist doch absurd, wir haben ein demokratisches System erkämpft und jetzt ist es, als ob die Bevölkerung zum Zuschauer degradiert wurde und ergeben auf ihr Schicksal wartet.
kontrast: Ist diese Abhängigkeit von internationalen Institutionen oder anderen Ländern wirklich neu?
Lakhal: Das stimmt, es ist ein alter Mechanismus in Tunesien. Wir waren immer vom Ausland abhängig. Diktatur ignorierte die Bevölkerung und sie von der unterdrückt lassen und damit für Ruhe gesorgt. Das hat sich mit der Revolution geändert, die Menschen haben sich aufgelehnt und der Diktatur gezeigt, dass sie bereit sind für Wandel zu kämpfen. Und auch heuer werden die Menschen am 14. Jänner [dem Jahrestag der Revolution] auf die Straße gehen und gegen die soziale Ungerechtigkeit protestieren. Aber die Leute resignieren auch und jene, die an der Macht sind, haben keine Angst mehr vor der Kraft der Bevölkerung. Das ist ein großer Rückschritt. Mit der Gewerkschaft gibt es in Tunesien zwar eine starke Bewegung, die sich für soziale Themen stark macht, aber sie tragen durch ihre beständige Bereitschaft zum Verhandeln den Status quo mit. Sie sind keine Kraft, die sich für einen wirklichen wirtschaftlichen Wandel einsetzen.
Die Politiker selbst leben in ihrer eigenen völlig getrennten Welt und treffen irgendwelche Botschafter von reichen Staaten, die als Geldgeber auftreten, während aber die ärmsten Teile der Bevölkerung, verzeihen Sie den Ausdruck, die Krot schlucken müssen.
kontrast: Eine Sache, die sich seit 2011 geändert hat, ist das mehr Menschen die Möglichkeit haben an öffentlichen Debatten teilzunehmen. Gelang es den Medien, eine kritische Öffentlichkeit aufzubauen?
Lakhal: Die Medien werden nicht mehr zensiert, das stimmt. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Qualität der Medien gut ist. Der Großteil der Medien ist in den Händen von großen Konzernen oder sogar von reichen Einzelpersonen. Natürlich werden sie dazu verwendet ihre Interessen durchzusetzen. Es gibt nur wenige Medien, die unabhängig von diesen tunesischen Machtspielen agieren können. Ich zähle dazu zum Beispiel Nawaat, der Blog, für den ich tätig bin, und Inkyfada, ein Blog für Investigativ-Journalismus. Das sind Vereine, die aber von ausländischen Geldgebern abhängig sind. Das heißt, wir müssen uns bewusst sein, dass auch wir nicht ganz unabhängig sind. Aber zumindest sind wir aber kein Spielball innertunesischer Interessen. Und wir versuchen neue Wege der Finanzierung zu finden, um unsere Unabhängigkeit zu stärken.
Der “Arabische Frühling” wurde von äußeren Kräften finanziert und unterstützt, um ein neoliberales Wirtschaftsmodell vollständig durchsetzen zu können und eine bequeme Ausgangsstellung für den Krieg gegen Libyen zu schaffen.
Die Menschen in Libyen, die zu Recht für mehr Rechte und Freiheiten demonstrierten, spielten dabei überhaupt keine Rolle.
Weil der Westen in Tunesien bekommen hat, was er wollte, werden weitere Erhebungen und Demonstrationen nicht mehr erfolgreich sein, denn sie werden nicht nur keinerlei Unterstützung mehr erhalten, sondern massiv von äußeren Kräften bekämpft werden.