Vor rund einem Jahr, am 24. Februar 2022, startete Russland einen Angriffskrieg auf die Ukraine – dem eine lange und komplexe Vorgeschichte vorausging. Seitdem sind laut UN über 8.000 Zivilist:innen sowie zigtausende Soldaten auf beiden Seiten gestorben und Millionen Menschen auf der Flucht. Ein Ende scheint nicht in Sicht. Kontrast hat mit Politik-Professor Heinz Gärtner über die Eskalation in diesem Krieg, die Rolle von Propaganda sowie über die Gefahr eines Atomkrieges und eines neuen Kalten Krieges, aber auch über die Friedensbewegung gesprochen. Er erklärt, warum seiner Meinung nach Waffenlieferungen lediglich den Status Quo einzementieren und wie Österreich mit engagierter Neutralitätspolitik zu einer Entspannung der Lage beitragen könnte.
Kontrast: Vor gut einem Jahr hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen. Was hat sich seitdem verändert?
Heinz Gärtner: Der russische Präsident Putin hat mit seinem Angriff den Krieg und die Blockteilung wieder nach Europa gebracht. Europa – und natürlich auch Österreich – sollte nicht akzeptieren, dass diese Putin’sche Realität die neue Norm wird.
Was sich verändert hat, ist eine Eskalation auf dem Schlachtfeld und eine Eskalation der Worte: Auf dem Schlachtfeld ist es zu einem Status quo gekommen. Carl von Clausewitz hat gesagt, dass es drei Möglichkeiten für einen Krieg gibt. Entweder, es kommt zu einem Friedensschluss oder einer totalen Niederwerfung des Gegners. Beides zeichnet sich nicht ab. Im dritten Fall – und diese Situation haben wir jetzt – drängt der Krieg zum Äußersten. Das kann Angriffe auf die Zivilbevölkerung oder den Einsatz von Atomwaffen bedeuten – wenn keine Bremsen mehr eingelegt werden.
Die Eskalation der Worte sieht man darin, dass es nicht mehr nur um die Souveränität der Ukraine geht, was eigentlich der Kern der Auseinandersetzung ist, sondern man spricht jetzt von Demokratie versus Autokratie, Existenz des Westens versus Existenz Russlands. Auf dieser Ebene ist es schwer zu verhandeln, weil man Ideologien und Existenzen nicht verhandeln kann.
Welche Rolle spielt Propaganda in diesem Krieg?
In jedem Krieg gibt es Propaganda. Dabei gibt es verschiedene Stufen, die durchlaufen werden. In der ersten Phase heißt es, wir ziehen in den Krieg, der bald vorbei sein wird. Da versichert man, die Soldaten werden nach kurzer Zeit wieder zuhause sein. Bald stellt sich heraus, dass das nicht der Fall ist, so wie es auch in der Ukraine passiert ist.
Dann konzentriert man sich auf kleine Schlachten, jede kleine Schlacht wird als Sieg dargestellt. Wir erinnern uns im Sommer letzten Jahres, welche großen Hoffnungen es gegeben hat, als die Ukraine gewisse Geländegewinne gemacht hat. Verluste werden dann terroristischen Gruppen zugeschrieben, wie der Wagner Gruppe auf der einen Seite oder dem Asow Regiment auf der anderen Seite. Denn man will keinesfalls die eigenen Streitkräfte oder die eigene Stärke desavouieren.
In der nächsten Stufe haben Gewalt und Feindschaft einen Punkt erreicht, wo es nur noch Dämonisierungen und keine Verhandlungsbereitschaft mehr gibt. Dann gibt es Drohungen und Lügen, die gegenseitig unterstellt werden. Wenn der Westen sagt, Russland greift die Zivilbevölkerung und zivile Infrastrukturen an, weist das Russland als Propaganda zurück. Wenn Russland mit Nuklearwaffen droht – zumindest ein bisschen – weist das der Westen als Propaganda zurück. Letztlich wird es so sein, dass keine strukturellen Analysen mehr zugelassen werden. Es gibt nur mehr das Böse auf der einen Seite und die territoriale Gier.
Auf russischer Seite hat man anfangs auch kommuniziert, dass der Krieg nur kurz dauern würde…
Putin hat seine Stärke völlig überschätzt. Er wollte in die Ukraine mit weniger als 200.000 Mann einmarschieren. Zum Vergleich: Nach Kuwait hat die USA mit Verbündeten 800.000-900.000 Soldaten geschickt, um den Irak zu vertreiben. Dabei ist Kuweit 40 Mal kleiner als die Ukraine. Putin hat wahrscheinlich gedacht, er macht es wie US-Präsident Reagan 1989 mit Panama, als die Militär-Invasion nach zwei Wochen vorbei war.
Das war also eine völlige militärische und geopolitische Fehleinschätzung, wahrscheinlich der zweitgrößte Unsinn seit dem Ende des Kalten Krieges nach der Invasion der USA im Irak. Meiner Meinung nach ist Russland in Wirklichkeit geschlagen. Sie haben nicht erreicht, was sie wollten. Statt weniger NATO gibt es jetzt mehr NATO und auch die nationale Identität der Ukraine hat Putin mit dem Krieg gestärkt.
Weil Sie Kuwait ansprechen, könnte man mit diesem historischen Beispiel auch argumentieren, dass es mehr militärische Hilfe aus dem Westen brauchen würde, um das russische Militär zurückzudrängen?
Letztlich ist die Situation militärisch unterschiedlich. In der Ukraine interveniert der Westen nicht direkt und Waffenlieferungen allein werden die besetzten Gebiete nicht befreien können, sondern zementieren den Status quo. Da gibt es Gewinne auf dem Schlachtfeld, dort und da. Man interpretiert einen Sieg auf dem Schlachtfeld gleich als Vernichtungsschlag, was nicht stimmt.
Es war natürlich notwendig und richtig, dass der Westen die Ukraine unterstützt, keine Frage. Das war ein Angriff auf die Souveränität der Ukraine. Und die Ukraine musste sich wehren und hatte auch jedes Recht dazu.
Nur haben wir jetzt eine Situation, wo die Waffenlieferungen keine Lösung mehr bringen können, sondern nur mehr einen permanenten Krieg. Wenn die Ukraine die Gebiete zurückerobern will, braucht sie Bodentruppen und zwar im Verhältnis drei zu eins zugunsten der Ukraine. Das schafft die Ukraine alleine nicht. Aber Bodentruppen wird der Westen nicht schicken, weil es sonst tatsächlich einen Weltkrieg gibt.
Also damit müssen wir rechnen, wenn es keine Verhandlungen gibt.
Wäre nicht auch eine andere mögliche Auswirkung von militärischer Hilfe, dass Russland geschlagen ist und das ein Weg zum Frieden ist?
Der letzte Rest des Donbass und der Krim – das ist für Russland tatsächlich eine Existenzfrage. Wenn Russland wirklich daraus vertrieben werden würde, dann würde Putin nicht scheuen, Nuklearwaffen einzusetzen. Das wäre ein Desaster für Europa, denn dann ist Europa faktisch ein nukleares Schlachtfeld.
Russland hat die Ukraine immer als strategisch entscheidend betrachtet, als Pufferstaat zwischen der NATO und Russland. Die Ukraine hat eine geopolitische Bedeutung, sowohl für den Westen als auch für Russland. Wenn dieser Pufferstaat weg ist und die NATO noch näher heranrückt, will sich Russland aus militärischer und politischer Sicht zumindest einen Streifen zum eigenen Territorium behalten, der eine Pufferwirkung haben kann. Putin würde wahrscheinlich im Kreml nicht überleben, wenn er die Krim preisgeben würde. Er muss ein kleines Kriegsziel vorweisen können und das werden Teile des Donbass und die Krim sein.
Wenn die These stimmt – woran ich nicht glaube -, dass die Ukraine mit Waffenlieferungen letztlich alle russischen Truppen vertreiben kann, wird Putin das Äußerste tun und sich Nuklearwaffen überlegen. Und das ist eine rote Linie, die man ziehen muss. Ebenso wie bei Bodentruppen.
Wenn die aktuelle Situation aber so ist, dass beide Seiten glauben, dass sie militärisch gewinnen können, gibt es dann überhaupt eine Möglichkeit auf Verhandlungen? Man kann sie ja dann nicht dazu zwingen, oder?
Ja, so ist es. Im März wäre da vielleicht noch eine Möglichkeit gewesen. Da ist man schon mit den Verhandlungen sehr weit gekommen, also Neutralität der Ukraine, dann Autonomie der Krim und Donezk und Lugansk. Mittlerweile hat der Krieg ein Stadium erreicht, wo Feindschaft, Gewaltsamkeit und Hass so dominieren, dass man eigentlich nicht mehr verhandeln will. Beide Seiten werfen jetzt dem Gegner vor, dass er nicht verhandeln will, obwohl man das eigentlich selber nicht mehr tun will. Wir haben eine Situation, wo der Krieg eskaliert und der Friedensschluss nicht in Sicht ist.
Das heißt, ich gehe davon aus, dass es einen sehr langen Krieg geben wird, wie wir ihn kennen von Vietnam oder Afghanistan. Und dann wird es zu einer Teilung kommen, aber nicht nur der Ukraine, sondern wir werden einen neuen Eisernen Vorhang haben, von der Arktis bis zum Schwarzen Meer, so wie wir das im Kalten Krieg kennengelernt haben.
Gleichzeitig haben über 700.000 Menschen die Petition “Manifest für den Frieden” unterschrieben. In Berlin sind über 10.000 Leute unter dem Titel “Aufstand für den Frieden” auf die Straße gegangen. Die Demonstration war umstritten, weil ihnen vorgeworfen wird, auf der Seite von Putin zu sein. Warum ist die Debatte so aufgeheizt?
Erstens sehe ich nicht, warum die Demonstration auf der Seite Putins gewesen sein soll. Sie verurteilen den Krieg und den Einmarsch Russlands. Aber es war ein Versuch, die Friedensbewegung wiederzubeleben. Was den Aufruf betrifft, muss ich sagen, halte ich deren Analyse für richtig. Nämlich dass es keine wirkliche Veränderung außer Zerstörung gibt. Das Motto der Demonstration, pro Verhandlungen, das sehe ich skeptischer. Sie wären zwar das vernünftigste, aber ich glaube, dass sie in der derzeitigen Situation nicht möglich sind.
Es ähnelt ein bisschen den Ostermarschbewegungen in den 80er Jahren. Damals gab es Demonstrationen gegen die atomaren Mittelstreckenraketen beider Seiten. Auch damals hat man gesagt, die machen ein Geschäft für die Sowjetunion. Schlussendlich hat es zum Erfolg geführt mit dem Vertrag von 1987, in dem die USA und die Sowjetunion auf diese Raketen verzichtet haben.
Weil Sie meinten, Neutralität wäre eine Option gewesen: Kann man einem Land so etwas überhaupt vorschreiben? Immerhin hat die ukrainische Bevölkerung demokratisch entschieden, dass sie NATO-Mitglied werden wollen?
Die Ukraine hätte das natürlich parlamentarisch absichern müssen. Diese Entscheidung hätte man der Ukraine nicht auferlegen können. Aber es hat dort immer ein Hin und Her gegeben. Ich bin davon ausgegangen, dass das die beste Option für die Ukraine war. Bereits vor der Übernahme der Krim 2014 habe ich darüber geschrieben, dass mit der Neutralität nach österreichischem Vorbild ein Krieg vielleicht verhindert werden könnte. Man hat es leider nicht versucht.
Aber einen Punkt möchte ich betonen: Dass die Ukraine selber entscheiden kann, das ist so ein Narrativ. Ja, jedes Land kann selbst entscheiden, welchem Bündnis es beitreten möchte. Aber man muss auch mit den Konsequenzen einer sicherheitspolitischen Entscheidungen rechnen. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) sagt auch, dass jedes Land das Recht hat, solche Entscheidungen selbst zu treffen. Aber der nächste Satz wird nicht zitiert: Dass diese sicherheitspolitische Entscheidung das sicherheitspolitische Umfeld und die Auswirkungen berücksichtigen muss.
Das beste Beispiel dafür ist die Kubakrise 1962. Natürlich hat Kuba souverän entschieden, dass sie diese sowjetischen Raketen haben möchten. Die Konsequenz war natürlich, dass die USA extrem nervös geworden sind und gesagt haben, dass das nicht geht und es fast zu einem Atomkrieg kam.
Wie schätzen Sie die Gefahr eines Atomkriegs heute ein?
Die Aufstellung von nuklearen Mittelstreckenraketen wird jetzt erlaubt, auch rechtlich. Und das wird auch passieren, in Murmansk und Kaliningrad von russischer Seite und von der NATO wahrscheinlich in Finnland und Schweden.
Ich sage nicht, dass es wahrscheinlich ist, weil es natürlich viele Mechanismen gibt, die Staaten noch davor zurückschrecken lassen, das nukleare Tabu, also Nuklearwaffen einzusetzen. Aber wenn Existenzfragen auf dem Spiel stehen? Also dann sehe ich die Gefahr schon.
Die Ausgangslage ist also denkbar schwierig. Aber wie könnte es weitergehen, welche Optionen sehen Sie?
Entweder stehen wir vor einer permanenten Teilung der Ukraine, oder es gibt eine permanente Neutralität oder einen permanenten Krieg. Das sind die drei Alternativen, die es gibt.
Wenn man davon ausgeht, dass es vielleicht nach einem langen Krieg zu einer langen Teilung kommt, so muss sich Europa überlegen, ob man diese Teilung akzeptieren will. Oder ob man sich Alternativen überlegt. Im Kalten Krieg hat es die Helsinki Schlussakte auf der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) gegeben. In diesem Dokument kam kein einziges Mal das Wort Feind, Gegner oder Konkurrent vor. Da hat man sich überlegt, dass diese Spannungen nicht weitergehen können und wir eine Entspannungspolitik brauchen. Man hat argumentiert, dass Sicherheit unteilbar ist und wir eine gemeinsame, kooperative Sicherheit brauchen. Das wäre auch heute eine mittelfristige Überlegung für Europa, um zumindest wieder die Spannungen abzubauen.
Und das zweite Modell, das man sich überlegen kann, ist der Wiener Kongress von 1815. Der bot einen Frieden, der letztlich – mit Unterbrechungen wie dem Krimkrieg und anderen – dennoch fast 100 Jahre gehalten hat. Er hat ein Mächtegleichgewicht, auch unter Beteiligung Frankreichs, hergestellt und gemeinsame Normen geschaffen, sich nicht gegenseitig anzugreifen.
Welche Rolle könnte dabei ein neutrales Land wie Österreich spielen?
Österreich hätte alle historisch symbolischen Voraussetzungen, um so einen Kongress in Wien vorzubereiten – nach dem Vorbild des Wiener Kongresses oder der Helsinki-Schlussakte. Das schließt aber ein, dass der neutrale Staat mit allen Konfliktparteien in Kontakt bleiben muss. Sonst ist so etwas nicht möglich. Das heißt nicht, dass ein neutraler Staat Genozid, schwere Menschenrechtsverletzungen und Krieg nicht verurteilen soll und kann. Aber mit einer engagierten Neutralität, wie ich es nenne, könnte und sollte Österreich Stellung zum Krieg nehmen. Das entspricht auch den aktuellen Gegebenheiten, Österreich ist ein EU-Land, wir haben vermehrten Einsatz von Friedenstruppen innerhalb der UN, EU und OSZE, sind Teil der NATO-Partnerschaft für den Frieden. Wir waren Gastgeber des Iran-Abkommens, das nur möglich war, weil Österreich neutral war. Also diese engagierte Neutralität ist das Gegenteil von einer isolationistischen Neutralität, bei der man sich aus allem heraushält.
Einmischen, so viel wie nötig und raushalten so viel wie möglich, wäre ein ganz guter Zugang. Das Raushalten ist in unserem Neutralitätsgesetz schon recht gut definiert: keinem Bündnis beitreten, keine permanenten Truppen stationieren und an keinen fremden Kriegen direkt teilnehmen.
Wenn man als Staat glaubwürdig neutral ist, die Neutralität also schon in Friedenszeiten glaubwürdig vermittelt, und gleichzeitig für andere Länder nützlich ist, also etwa Ort für Kongresse ist, stellt das auch eine ganz gute Sicherheitsgarantie für das neutrale Land dar. Insofern könnte Österreich natürlich seine Rolle durchaus wahrnehmen, wie es das auch im Kalten Krieg getan hat. Denn der KSZE-Prozess wäre ohne die Vermittlung neutraler und blockfreier Staaten wie Österreich nicht zustande gekommen.
Univ. Prof. Dr. Heinz Gärtner unterrichtet an der Universitäten Wien. Er war Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik und leitet den Beirat des International Institute for Peace (IIP). Außerdem sitzt er dem Strategie- und Sicherheitspolitischen Beirat des Österreichischen Bundesheeres vor und hatte mehrere internationale Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren u.a. an den Universitäten von Stanford, Oxford, an Johns Hopkins in Washington und in Deutschland. Er publizierte zahlreiche Bücher und Artikel zu Fragen der USA, internationaler Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle.