Ungarns Präsident Victor Orbán hat sich zu Beginn der Corona-Krise per Sondervollmacht berechtigt, ohne das Parlament zu regieren. Nun rudert er zurück. EU-weit baute sich Druck gegen sein Vorgehen auf. Trotzdem setzte er inzwischen mehr als 100 Sonder-Erlässe um – am Parlament vorbei. Diese beschneiden nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern auch den Datenschutz. Bleiben die nun bestehen? Und welche Strategie verfolgte der Regierungschef mit der Sondervollmacht?
Bei einer Pressekonferenz letzten Freitag erklärte Viktor Orbán beinahe beiläufig, dass er seine Regierungsvollmacht nicht mehr nutzen wird und der Ausnahmezustand ausläuft. Durch die Sondervollmacht vom 30. März war Orbán weder an bestehende Gesetze noch an eine zeitliche Begrenzung gebunden. Das kam einem Ende der Demokratie in Ungarn gleich und sorgte international für massive Kritik: Vom Europarat, dem Europaparlament und der EU-Kommission. Nun wird Orbán die Vollmacht zurücknehmen und attackiert seine Kritiker: Er gebe “jedem die Chance, sich bei Ungarn für die unwahren Anschuldigungen zu entschuldigen”, so Orbán.
Ist damit die autoritäre Wende in Ungarn beendet? Rechtsexperten und Politologen sind der Ansicht, Orbán habe diese extra-Machtbefugnisse jetzt gar nicht mehr nötig. Orbans Partei FIDESZ hält ohnehin eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament und hat viele umstrittene Sondererlässe bereits durchgebracht.
Politische Machtdemonstration und Taktik
Orbáns Vorgehen war jedenfalls eine geschickte Machtdemonstration: Die ungarische Opposition wäre bestimmt bereit gewesen, eine Sondervollmacht für Orbán auf begrenzte Zeit mitzutragen. Aber durch sein Vorgehen, sich auf unbefristete Zeit zu bevollmächtigen, zwang er die Opposition in eine Parlamentsabstimmung. Dadurch schaffte er es, die Opposition so darzustellen, als würde sie die Bekämpfung der Pandemie behindern.
„Der alte Politfuchs hat seine Gegner damit ins Eck vaterlandsloser Saboteure des Kampfs gegen die Pandemie gestellt.”, erklärt der Politologe Gábor Török.
„Wenn nun diese umstrittenen Sondervollmächte aufgrund der massiven internationalen Kritik ein Ende finden, ist das zwar wichtig, aber die ungarische Demokratie wurde schwer beschädigt.“, sagt SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath.
Demokratie schwer beschädigt: Über 100 Erlässe
Während der beiden Monate hat Orbán nämlich umfassend von seiner Macht Gebrauch gemacht: Die Opposition spricht von über 100 Erlässen. So hat er etwa den Datenschutz, die Informationspflichten von Behörden und die Arbeitnehmerrechte ausgehebelt.
Weniger Arbeit heißt weniger Geld
Arbeitgeber und Arbeitnehmer dürfen in Verträgen nun von sämtlichen Bestimmungen abweichen – also vom ungarischen Arbeitsgesetzbuch. Im Konkretfall darf der Arbeitgeber nun etwa die Arbeitszeit des Arbeitnehmers ohne dessen Zustimmung ändern – und das ganz kurzfristig, die Mitteilungsfrist wurde nämlich auch außer Kraft gesetzt. In Ungarn gibt es allerdings keine Modelle zur Kurzarbeit oder vergleichbare Ausgleichszahlungen: Weniger Arbeit heißt weniger Geld. Auch darf der Arbeitgeber jederzeit ohne Zustimmung des Arbeitnehmers Home-Office anordnen, oder dessen Gesundheit überprüfen lassen, was einen starken Eingriff in dessen Privatsphäre darstellt.
Aber auch die Tätigkeit der Justiz, sowie die Meinungs- und Pressefreiheit wurden massiv eingeschränkt.
Meinungsfreiheit: Krankenhauspersonal fürchtet Polizei
Besonders heikel sei etwa das ungarische Fake-News Gesetz: Nicht nur Falschmelder werden gestraft, sondern auch alle Meinungsäußerungen, die “die Bevölkerung verunsichern.” Dieses Gesetz kann als „Gummi-Paragraph“ bezeichnet werden: Also ein Paragraph der so breit formuliert ist, dass man ihn je nach Bedarf auslegen kann.
Damit kann die ungarische Regierung potenziell jeden mundtot machen: Journalisten und Opposition, aber auch Bürgerinnen und Bürger. Das geht bereits so weit, dass sich etwa Krankenhausmitarbeiter immer weniger trauen würden, Missständen bei der Corona-Bekämpfung öffentlich zu machen, wie der Standard berichtete.
Demo-Verbot: 2.000 Euro Strafe für Hupkonzert
In Ungarn ist das Versammlungsrecht schon vor Corona eingeschränkt worden – die Polizei konnte Versammlungen ohne triftigen Grund seit 2018 verbieten. Unter dem Mantel der Corona-Krise kam nun auch ein neues ungarisches Demonstrationsverbot. Momentan dürfen zwar Strandbäder zwar besucht werden, aber Demonstrationen sind verboten.
Um die Gesundheit geht es nicht: Selbst Demonstrationen, bei denen alle in ihren Autos sitzen, sind verboten. Einem Pensionisten kam dies teuer: Er musste ganze 400 Euro Strafe zahlen, weil er eine Europa-Fahne aus seinem Auto wehen ließ. Geldstrafen gab es auch bei einer Hupkonzert-Demo: Und das mit bis zu 2.000 Euro pro Person.
Datenschutz: Zugriff auf alle persönlichen Daten
Auch setzte Orbán die EU-Datenschutzregeln weitgehend außer Kraft. Die ungarische Oppositionspolitikerin Bernadett Szél erklärt: Mit der Verordnung könne die Regierung „unter dem Vorwand der Epidemiesituation auf alle unsere persönlichen Daten zugreifen (…).“
Fragwürdige Verstaatlichungen: Karton- und “Babyfabriken”
Außerdem kam es zu Erlässen, die keinen ersichtlichen Zusammenhang mit der Pandemie haben: So etwa die Verstaatlichung eines Kartonherstellers „quasi über Nacht.“
„Das sind alles so Verordnungen, wo sich viele Kritiker fragen: Ja was soll das?“
Auch kaufte der ungarische Staat von Orbáns Schulfreund Lörinc Mészáros ein Energieunternehmen. Er gilt als einer der reichsten Ungarn, das verkaufte Unternehmen habe allerdings ein fehlerhaftes Kraftwerk und der Staat habe dafür viel zu viel bezahlt. Schichtet Orbán in der Corona-Krise Staatsgelder auf die Konten der ungarischen Elite um? Eine Überprüfung für die Rechtmäßigkeit staatlicher Käufe muss in Ungarn erst im Nachhinein stattfinden. Da es laut Gesetz aber keine Frist dafür gibt, bleibt diese Frage wohl offen.
Bereits vor Corona sorgten ungarische Verstaatlichungen für Schlagzeilen, wie etwa die von sechs Kinderwunschkliniken. Dahinter könnte wiederum politisches Kalkül mit anti-migrationspolitischen Zielen stecken: Orbán wolle keine Zuwanderung, sondern dass ungarische Paare mehr Babys bekommen.
Ungarn ist größter EU-Nettoempfänger
All diese Entwicklungen erscheinen umso drängender, wenn man bedenkt, dass Ungarn (gemeinsam mit Polen) der größte Nettoempfänger in der EU ist. Es bekommt also die meisten Fördergelder, handelt aber nicht im Einklang mit den europäischen Werten wie etwa der Wahrung der Menschenwürde, Gleichheit und Demokratie.
In der EU denkt man daher darüber nach, Gelder in Zukunft an Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen: Die Corona-Hilfspakete, die gerade auf europäischer Ebene diskutiert werden, sollen eine solche Vorgabe beinhalten.
Sonderverbote könnten neue Normalität werden
Orbáns Ermächtigungsgesetz soll nun schrittweise aufgehoben werden: Auch die Verfolgung der Verbreitung von Fake-News soll in Zukunft nur mehr mit Sonderbefugnis angewandt werden können. Unklar bleibt aber, ob die über 100 Erlässe weiter bestehen bleiben. Peter Kreko, Direktor des Budapester Instituts Political Capital erwartet, dass nun zahlreiche Elemente der bisherigen Notstandsgesetzgebung Eingang in das “normale” Rechtssystem finden. Die Rede ist da unter anderem vom umfassenden Demonstrationsverbot oder der Aufweichung des Datenschutzes.