Kindererziehung, Krankenpflege, Betreuung von Älteren. Diese Arbeiten sind grundlegend für unser Zusammenleben. Dennoch werden sie oft schlecht oder gar nicht bezahlt und genießen wenig Ansehen. Das trifft vor allem Frauen und besonders migrantische Frauen. Die Arbeitswissenschaftlerin Gabriele Winker fordert, dass wir menschliche Bedürfnisse und nicht Profite ins Zentrum stellen. Ein erster Schritt in diese Richtung: Die 30 Stunden Woche.
Kontrast: Sich umeinander zu kümmern, Sorge für andere zu tragen – das ist so etwas wie ein Grundbedürfnis des Menschen. Dennoch wird die Arbeit mit Kindern, Alten und Kranken viel schlechter bewertet als die Arbeit in der Industrie oder an Computern. Warum ist das so?
Winker: Sorgearbeit wird seit Jahrhunderten stereotyp Frauen zugeschrieben. Sie führen den größten Teil dieser notwendigen Arbeit auch heute noch in Familien aus – unentlohnt. Auch die beruflich ausgeübte Sorgearbeit als Pflegerin oder Erzieherin leisten meist Frauen. Diese Arbeit gilt allerdings als wenig qualifiziert, weil auch in Familien Menschen gepflegt oder Kinder erzogen werden. Und die Arbeit wird vergleichsweise schlecht bezahlt.
Der Staat oder die Sozialversicherungen sparen damit auf Kosten derjenigen, die für andere Menschen lebenswichtige Arbeit übernehmen. Auch Industrieunternehmen können so höhere Profite erzielen: Denn weniger Ausgaben im sozialen Bereich senken Steuern und Sozialabgaben für Unternehmen.
Winker: Auf der einen Seite droht der Pflegenotstand, auf der anderen Seite sind Gehalt und Arbeitsbedingungen recht schlecht. Warum interessiert es uns so wenig, wer sich um nahe Angehörige kümmert, die alt oder krank werden und Hilfe brauchen?
Winker: Sehr viele Menschen haben ein großes Interesse an guter Pflege im Krankenhaus oder im Seniorenheim. Es wünschen sich auch viele Menschen gut ausgestattete Kindergärten mit hoch qualifizierten Erziehern und Erzieherinnen. Auch die Medien berichten sehr ausführlich über Pflegenotstand und fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten.
Wer sich um fehlende Ressourcen in Pflege- und Erziehungs-Bereichen nicht kümmert, sind allerdings Arbeitgebervertreter. Die wehren sich gegen steigende Kosten.
Und auch die allermeisten Politiker und Politikerinnen sind nicht bereit, sich mit der Wirtschaft anzulegen. Denn selbstverständlich sind für bessere Pflege oder Kinderbetreuung zusätzliche Ressourcen notwendig.Insgesamt müsste in jedem hoch entwickelten Land die Sozialquote, also die Ausgaben für den Sozialbereich, deutlich steigen. Denn zwar lassen sich Autos und Industriegüter immer schneller fertigen, die Sorgearbeit ist dagegen nicht ohne Qualitätsverlust rationalisierbar.
Kontrast: Die meisten Menschen hätten gerne mehr Zeit für ihre Kinder, ihre Großeltern oder um sich um einen depressiven Freund zu kümmern. Sie müssen aber auch Geld verdienen, lange arbeiten und Überstunden leisten. Was sagt das über eine Gesellschaft, wenn kaum mehr Zeit und Kraft bleibt, um füreinander da zu sein?
Winker: Das bedeutet, dass unsere neoliberal ausgerichtete Gesellschaft große strukturelle Probleme hat. Im Zentrum der Wirtschaft steht nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Vielmehr geht es darum, möglichst viele Arbeitskräfte möglichst lange und kostengünstig am Arbeitsplatz einzusetzen. Das lässt die Profite der Unternehmen sprudeln. Darauf ist ein kapitalistisches Wirtschaftssystem ausgerichtet und es gibt noch viel zu wenige Menschen, die dieser von Renditen getriebenen Ökonomie Einhalt gebieten.
Das kann sich erst ändern, wenn all die vielen, die sich um Kinder, ältere und kranke Menschen kümmern und dafür mehr Zeit benötigen, lautstark dafür eintreten. Wenn die fordern, dass mehr in den Sozial- und Gesundheitsbereich investiert wird.
Da Gesundheit, Pflege und Soziales primär staatliche Ausgaben sind, ist es mehr als überfällig, dafür Reiche deutlich stärker zu besteuern als dies bisher der Fall ist.
Kontrast: In Hamburg hat die Pflege-Gewerkschaft einen Einstiegsgehalt von 3.000 Euro erkämpft – ist das mal ein Anfang, um Pflegearbeit höher zu schätzen?
Winker: In der Tat gibt es – nicht zuletzt aufgrund der Proteste vieler Sorgearbeitender – für 2.000 Beschäftige des Hamburger Pflegeheimbetreibers Pflegen und Wohnen GmbH einen Tarifabschluss, durch den Pflegefachkräfte ab dem Jahr 2021 in der Eingangsstufe etwas mehr als 3.000 Euro brutto zur Verfügung haben. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat diesen Haustarifvertrag durchgesetzt. Das ist die zweitgrößte Gewerkschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).
Deutlich schlechter entlohnt werden allerdings Pflegehilfskräfte. Außerdem ist die Mehrheit der Beschäftigten in der Altenhilfe Teilzeit beschäftigt. Vor allem auch, weil ein Vollzeitjob unter den Bedingungen der Personalknappheit kaum auf Dauer durchzuhalten ist. Aber nach wie vor sind in Hamburg noch über 71 Prozent der Beschäftigten in der Altenhilfe nicht tarifgebunden entlohnt – sie verdienen weniger. Im Juli 2019 hat selbst der deutsche Gesundheitsminister Spahn von der CDU darauf hingewiesen, dass gerade in der Altenpflege in Deutschland zigtausende Pflegefachkräfte zum Teil deutlich weniger als 2.500 Euro brutto verdienen.
Kontrast: Das klassische Familienernährer-Modell gibt es nicht mehr. Heute gehen Frauen arbeiten, die Anforderungen an Kindererziehung und Haushaltsführung sind aber nicht gesunken. Und Frauen leisten immer noch 70 Prozent dieser Arbeit. Wie soll sich das ausgehen?
Winker: Das kann nicht aufgehen. Viele Menschen, insbesondere Frauen, geraten an die Grenzen ihrer Kräfte. Sie erleben, wie die Anforderungen von Beruf, Haushalt und die Sorge für Kinder und unterstützungsbedürftige Erwachsene zu wenig Zeit für Selbstsorge und Muße lassen. Die andauernde Überlastung ohne Erholungspausen führt zu Erschöpfung bis hin zu psychischen Erkrankungen. Ebenso bleiben wichtige Bedürfnisse von Kindern oder kranken Menschen unerfüllt, die auf Sorge angewiesen sind.
Häufig geben sich die Sorgearbeitenden selbst die Schuld für all den Stress. Was als individuelles Versagen wahrgenommen wird, ist allerdings die Folge politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen. Durch Privatisierungen und staatliche Kürzungen bei der Gesundheit, in der Altenpflege und bei der Bildung wird mehr Sorgearbeit in die Familien verlagert. Gleichzeitig sind aber mehr Frauen berufstätig und die beruflichen Arbeitszeiten werden flexibilisiert. Das ist die alltägliche Überbeanspruchung und hier wird eine systemische Unfähigkeit des Kapitalismus deutlich: Er kann nicht in ausreichendem Maß in Bereiche investieren, die nicht direkt zu mehr Profit führen. Deswegen ist ein grundlegender Perspektivwechsel notwendig. In der Strategie der Care Revolution stehen die entlohnte und die familiäre Sorgearbeit im Zentrum gesellschaftlicher Veränderung.
Ziel ist eine solidarische Gesellschaft, die nicht mehr Profitmaximierung, sondern menschliche Bedürfnisse ins Zentrum stellt.
Kontrast: Kinder erst spät abends abholen, keine Zeit zum Kochen, für Ausflüge oder Schularbeiten zu haben – all das wird oft als persönliches Scheitern erlebt. Aber wie gut kann man alleine oder zu zweit überhaupt ein Kind groß ziehen, wenn man 8-10 Stunden täglich arbeitet? Und ist die einzige Wahl, dass einer (meist die Frau) auf ein Vollzeiteinkommen und berufliche Chancen verzichtet?
Winker: Nein, selbstverständlich könnten wir auch heute bereits eine andere Gesellschaft gestalten. Wir könnten die Erwerbsarbeitszeit radikal verkürzen. Alle hätten dann eine kurze Vollzeit von 30 Stunden mit Langzeitkonten: In bestimmten Lebenssituationen kann man dann länger und in anderen kürzer arbeiten – im Durchschnitt aber nicht mehr als die 30 Stunden Woche.
Zumindest wer schlecht verdient, müsste einen Lohnausgleich für die verkürzte Arbeit bekommen. Auch das Arbeitstempo und die Intensität dürfen nicht erhöht werden, damit nicht auch bei einer 30-Stunden-Woche alle kaputt sind. Wenn wir die Arbeitszeit so reduzieren, müssten wir auch über den Stellenwert einzelner Wirtschaftsbereiche diskutieren: Von welche Gütern wollen wir weniger produzieren, wenn das Arbeitsvolumen sinkt? Und wie wollen wir das Gesundheits- und Bildungswesen dennoch ausbauen?
Kontrast: Oft wird das Problem auch weiter gegeben: Wer es sich leisten kann, zahlt eine schlecht bezahlte Migrantin als Putzfrau oder Pflegerin für alte Menschen. Ist Pflege, Betreuung und Sorge nur mit Hilfe von Ausbeutung möglich?
Winker: Selbst wenn sich Menschen entscheiden, eine Migrantin für die Pflege eines Angehörigen einzustellen, muss die ja nicht völlig irregulär beschäftigt werden, wie das heute häufig der Fall ist. Die Politik könnte von heute auf morgen beschließen, dass unsere Arbeitszeitregelungen auch für die überwiegend migrantischen Haushaltsarbeiterinnen in Privathaushalten gelten und alle Verstöße dagegen ahnden. Realistisch ist das wohl nur unter dem Druck einer starken sozialen Care-Bewegung.
Zweitens müssten wir die Pflegepauschalen deutlich erhöhen: Alle Menschen, die zu Pflege bereit sind, müssen finanziell so unterstützt werden, dass sie nicht in Armut geraten. Egal ob sie Angehörige oder Freunde pflegen oder als Haushaltsarbeiterin beschäftigt sind. Dazu brauchen wir eine Pflegevollversicherung, die wie bei der Krankenkasse alle Pflegekosten trägt. Außerdem müssen Pflegezeiten bei der Rente besser berücksichtigt werden. Schön wären auch Mehr-Generationenhäuser oder Nachbarschaftszentren, wo Personen Hilfe erfahren, die Unterstützung brauchen.
Wenn alle erwerbsfähigen Personen nur noch 30 Stunden pro Woche erwerbstätig sind, gibt es für alle Menschen mehr Zeit für ehrenamtliche Tätigkeiten.
Wenn allerdings eine Gesellschaft weiter nicht bereit ist, die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, löst sie ihren Pflegenotstand auf dem Rücken anderer, nämlich vor allem auf dem Rücken migrantischer Frauen. Die können sich wegen schwierigen Lebensbedingungen in ihrem Heimatland nicht gegen völlig unangemessene Arbeitsbedingungen wehren. Ein solches Verhalten ist rassistisch und wir alle sind solange daran beteiligt, wie wir diese besonders krasse Ausbeutung von Migrantinnen nicht gestoppt haben.
Kontrast: Welche Alternativen gibt es und was können wir dafür tun?
Winker: Wir müssen menschliche Bedürfnisse und die Sorge füreinander ins Zentrum der Politik stellen – nicht Kürzungen und Profitmaximierung. Als wir 2014 im deutschsprachigen Raum das Netzwerk Care Revolution gegründet haben, wollten wir die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für entlohnte und unentlohnte Sorgearbeit grundlegend verbessern. In diesem Netzwerk haben sich mehr als 80 Initiativen und Einzelpersonen aus Deutschland, der Schweiz und auch ein paar wenige aus Österreich zusammengeschlossen.
Das Netzwerk Care Revolution setzt sich dafür ein, dass Care-Beschäftige wie Pflegekräfte oder Erzieherinnen besser entlohnt werden und dass es mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen gibt. Ebenso wichtig ist uns, die unentlohnten Sorgearbeitenden in den Familien zu entlasten.
Darüber hinaus ist wichtig, die Vollzeit-Lohnarbeit auf 30 Stunden Woche zu verkürzen. Nur so haben alle Menschen genug Zeit, um ohne Stress und Überforderung Sorgeaufgaben zu übernehmen. Gleichzeitig sollten auch Gemeinschaftsprojekte wie Mehrgenerationenhäuser oder Nachbarschaftstreffs mehr Unterstützung aus Steuergeld bekommen, denn dort kümmern sich Menschen solidarisch umeinander. Und wir müssen auch demokratische Strukturen aufbauen: Alle sollen über die Bedingungen der Sorgearbeit mitentscheiden und so zu gelingenden Sorgebeziehungen beitragen. Dies ließe sich beispielsweise durch Runde Tische oder Care-Räte vor Ort umsetzen. Denn über ihren Unterstützungsbedarf wissen am besten Menschen Bescheid, die viel Sorgearbeit leisten oder viel Sorgebedarf haben.
Dr. Gabriele Winker ist Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der TU Hamburg und Mitbegründerin des Netzwerks Care Revolution. Sie schrieb das Buch „Care Revolution“, das zum Preis von 11,99 Euro auch in Österreich über den Buchhandel zu beziehen ist.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen als Grundsicherung wäre auch höchst notwendig damit mehr Menschen aus dem künstlich geschaffenen Hamsterrad ausbrechen können!
Bei dem technischen Fortschritt den wir schon haben, wäre wohl auch eine weitere Reduktion der notwendigen Lohnarbeit möglich. Zur Rettung des einzig uns bekannten bewohnbaren Planeten vor der weiteren Zerstörung sogar notwendig. Bei den alten Griechen zählten Sport und Philosophie zu den erstrebenswerten Tätigkeiten und nicht das Konsumieren von technischen Ramsch, der möglichst schnell kaputt geht, damit wir wegen dem Wachstumszwang des Kapitalismus wieder neuen Ramsch kaufen.
Paul Lafargues Klassiker “Die Pflicht zur Faulheit” ist aktueller denn je!
beim Ehrenamt gibt es meiner Meinung nach folgendes Problem: Der Staat nimmt in manchen Bereichen das EA als Kosteneinsparung, siehe Rotes Kreuz, Freiwillige Feuerwehr
S.g.Fr. Dr. Winkler!
Bei aller Liebe aber ….
Wer gibt Ihnen die Garantie, dass die Personen die nun nur 30 h arbeiten die Pflege und die angeführten sozialen Aufgaben übernehmen? Nicht alle Personen sind auch für diesen Pflegeberuf geeignet. Wäre es nicht vernünftiger die Pflege in professionelle Händen zu geben und der Staat übernimmt teilweise die Kosten ( mit zusätzlicher Pflegeversicherung). Dass natürlich das Pflegepersonal (wie auch die Krankenschwestern) besser entlohnt gehörten ist natürlich richtig.