Vor etwa 50 Jahren stand die Stadt Bilbao im Baskenland in Nordspanien vor dem Nichts. Heute steht Bilbao international für städtischen Aufschwung. Der Schlüssel zum Erfolg: Zusammenarbeit der politischen Verantwortungsträger und Einbeziehung der Bevölkerung. Hat Bilbao die Erfolgszutaten für ein Europa nach der Corona-Krise?
Bilbao galt in den 1970ern als das Zentrum der Produktion für Schiffe, Maschinen und Stahl. Die Umwelt war durch die Schwerindustrie massiv zerstört. Dazu kam der erste große Schock der Ölkrise 1973, der den Wirtschaftsmotor der Region zum Erliegen brachte. Die Arbeitslosigkeit stieg bis Mitte der 1980er Jahre auf 25%. Die Hälfte aller Jugendlichen hatte weder Arbeit noch Lehrstelle. In Massen verließen die Bewohner die Gegend. Mit einer verheerenden Flut im Jahr 1983, die das historische Stadtzentrum komplett verwüstete, stand die Stadt vor dem Ende.
Heute sieht jedoch alles anders aus: Aus einer der am stärksten verschmutzen Städte der ganzen EU mit 50% Jugendarbeitslosigkeit wurde Bilbao zu einer sauberen, lebendigen und wohlhabenden Stadt. Wie konnte das passieren? Hat Bilbao die Erfolgszutaten für ein Europa nach der Corona-Krise?
Wende am Tiefpunkt
Die Flut gab den Anstoß für einen echten, nachhaltigen Wandel. Den Beteiligten war klar, dass ein echter Neuanfang nur möglich war, wenn alle an einem Strang zogen. Politischer Konsens sollte zur grundlegenden Umgestaltung führen. So wurde der „strategische Plan für die Wiederbelebung der Metropole Bilbao” von mehreren Parteien vereinbart und 1991 in Angriff genommen.
20-Jahres-Vision und Bürgerbeteiligung
Die Vision zur Umgestaltung wurde auf 20 Jahre angelegt. Und: Man band von Anfang an die EinwohnerInnen in den Wiederaufbau der Stadt mit ein. So wurden zum Beispiel Ideen zur Wiederbelebung von öffentlichem Land zuerst ausgestellt und präsentiert. So informierte man die Bevölkerung über alle Veränderungen vorab und holte sie damit an Bord.
Alle an Bord holen
Doch diese langfristige Strategie funktionierte nur, weil neben den verschiedenen Regierungsebenen und Behörden auch VertreterInnen der Gewerkschaft mit am Tisch saßen. Alle kamen in einem Sonderausschuss namens „Bilbao Ria 2000“ zusammen, und gründeten zudem eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die die Planung und das gesamte Projekt als eine Art Kontrollorgan überwachte.
Durch diese außerordentlichen Schritte hatten alle Beteiligten, die ja das gleiche Ziel hatten – nämlich die Stadt vor dem Ruin zu retten – auch eine gemeinsame Vorgehensweise. Entscheidungen wurden im Konsens getroffen, und so wurde die Schwerindustrie aus dem Herzen der Stadt verbannt, der Hafen weiter draußen auf dem Meer wieder aufgebaut und so die Modernisierung der Schifffahrtsindustrie vorangetrieben.
Der Bilbao-Effekt
Das Ergebnis: ein neues Stadtzentrum, mehr öffentlicher Raum und verbesserte Infrastruktur. Die Projekte, wie der Bau eines modernen, öffentlichen U-Bahn-Netzes und eines großen Konferenzzentrums und der Wiederaufbau des Fußballstadiums erhöhten die Lebensqualität massiv und schufen gleichzeitig neue Arbeitsplätze. Außerdem zog man mit dem Guggenheim-Museum Bilbao auch internationale Gäste an, wovon die Tourismusbranche profitierte. So entstand etwa auch die Bezeichnung Guggenheim-Effekt oder Bilbao-Effekt für die gezielte Aufwertung von Orten durch spektakuläre Bauten.
Die Stadtplanung verbesserte auch den Verkehr um und in der Stadt. Durch neue Brücken verband man zuvor getrennte Stadtviertel miteinander. In Folge stieg der Wert des Eigentums für alle EinwohnerInnen. In diesem Prozess des Aufbruchs konnte die gesamt Bevölkerung Platz finden und profitiere gemeinsam davon.
Was können wir jetzt von Bilbao lernen?
In Bilbao ging man schrittweise vor: Man bewältige Hindernisse, sobald sie auftraten, und stellte gleichzeitig sicher, dass die vereinbarten Pläne auf 20 Jahre in vollem Umfang umgesetzt werden. Ist der Erfolg ein Glücksfall oder ein regionales Spezifikum? Oder kann Europa hier etwas für den Wiederaufbau nach der Corona-Krise lernen?
Zuerst muss sich die Politik klar über das Ausmaß der Krise sein. Erst daraus kann sie den Handlungsbedarf ableiten. PolitikerInnen müssen Verantwortung – ownership – übernehmen, und das am besten über parteipolitische Grenzen hinweg. Gleichzeitig bleiben sie aber den BürgerInnen direkt rechenschaftspflichtig. Sie sind immerhin gewählte VertrerInnen des Volkes.
Sie brauchen eine gemeinsame Vision, um den Prozess zu definieren und dafür wiederum einen öffentlichen Konsens zu gewinnen. Konsens ist der notwendige Schlüssel, um die Umwälzungen, die der Übergang kosten wird, zu ermöglichen.
Hier sind wir alle gefragt: Wie wollen wir unsere Zukunft gestalten? Und vor allem: Welche Strukturen sind wichtig, um zukünftige Krisen zu überstehen? Im Fall von Corona sind etwa staatliche, gut ausgebaute Gesundheitssysteme und ein starker Sozialstaat das Um und Auf, um die schlimmsten Auswirkungen auf die Gesellschaft abzufedern.
Außerdem muss die Finanzierung des Übergangs gesichert sein. Europaweit sind also gemeinsame längerfristige Finanzierungsansätze gefordert. In Bilbao kamen damals die unterschiedlichen Parteien zusammen – für Europa ist nun die EU wichtiger denn je. Sie muss die Koordination und die politische Führung übernehmen. Einzelne Nationalstaaten werden weder die akute Bewältigung der Pandemie noch die Zeit nach der Krise alleine bewältigen können.
„In dieser Zeit der Krise stehen wir vor zwei besonders wichtigen Entscheidungen. Die erste ist die zwischen totalitärer Überwachung und dem empowerment der BürgerInnen. Die zweite ist die zwischen nationalistischer Isolation und globaler Solidarität“, so der israelische Historiker und Autor Yuval Noah Harari
Gemeinsam sind wir stark
Wenn wir uns für nationalstaatliche Isolation entscheiden, wird dies nicht nur die Krise verlängern, sondern in Zukunft wahrscheinlich noch schlimmere Katastrophen verursachen, meint etwa der Historiker Yuval Noah Harari. Fakt ist: Das Coronavirus macht vor geographischen Grenzen keinen Halt, und fordert so europäischen Zusammenhalt mehr denn je.
„Wäre es also nicht ein riesengroßer Gewinn für alle, wenn wir die derzeitige Krise nutzen, um ein solidarisches und gerechtes Europa für alle zu gestalten?“, fragt auch SPÖ EU-Delegationsleiter Andreas Schieder.
Was in Bilbao möglich war – politische Machbarkeit eines umfassenden Wandels durch Zusammenarbeit und Konsens – kann Europa erst recht mit vereinten Kräften schaffen. Dafür sind aber alle zur konstruktiven Zusammenarbeit aufgerufen. Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Synergien. Es ist wohl kein Zufall, dass der Zuspruch zum Rechtspopulismus europaweit ausgerechnet jetzt geringer wird.
Europäische Solidarität: „Covid-19 ist ein Naturereignis“
Der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker bezeichnete Corona als „nicht nur eine Erkrankung“, sondern als ein „Naturereignis.“ So befürwortet auch Schieder, dass in Zukunft „auch Pandemien wie Covid-19 als Naturkatastrophe“ zählen sollen – dies sei eine wichtige Notfallmaßnahme, um Hilfsgelder des EU-Solidaritätsfonds auszahlen zu können. „Mehr europäische Solidarität muss die Antwort auf das Virus sein, das sich nicht an Grenzen hält. Freie Mittel müssen schnell und unbürokratisch für die EU-Staaten verfügbar sein“, so Schieder weiter.
Corona ist auch der Weckruf an jeden einzelnen von uns, jetzt mitzuverändern.
Der Sturm wird vorüberziehen. Wir sollten uns jetzt nicht nur fragen, wie wir die unmittelbare Bedrohung überwinden können, sondern auch, welche Art von Welt wir bewohnen werden, wenn der Sturm vorbei ist.
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