Der neue Präsident von Brasilien ist offen rassistisch, frauenfeindlich und homophob. Er verharmlost die brasilianische Militärdiktatur, spricht sich für Folter und die Verfolgung von politischen Gegner aus. Warum haben Millionen von Brasilianern dennoch Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt?
In den letzten Wochen wurde ich oft gefragt, wie es sein kann, dass Millionen von Brasilianern, die unter den sozialistischen Regierungen der Präsidenten Lula und Dilma einen nie dagewesenen wirtschaftlichen Aufstieg erfahren haben, nun einen offen anti-sozialistischen und zudem homophoben, rassistischen, frauenfeindlichen Typen wählen, der sich für Folter, politische Ermordungen und eine Militärdiktatur ausspricht. Ein Typ, der im Vergleich Trump fast wie einen seriösen, verantwortungsvollen Politiker aussehen lässt?
Nun, für viele wie mich, die wir seit vielen Jahren in Brasilien leben, kommt diese Entwicklung auch als ein Schock – aber nicht wirklich überraschend.
Der Versuch einer Erklärung:
Die kurze Antwort
Die Brasilianer sind zurecht tief verärgert über die korrupte politische Klasse, die sich seit jeher schamlos an der öffentlichen Kasse bereichert, während gleichzeitig die schlimmste Rezession der Geschichte des Landes zu Massenarbeitslosigkeit, Krise und Kriminalität führt. Bolsonaro, der nie an einer Regierung beteiligt gewesen war, wurde als der einzige saubere Kandidat gesehen, der auch willens ist, mit eiserner Hand die endlosen Korruptionsskandale und die ausufernde Straßenkriminalität zu bekämpfen. Dass er offen homophob, rassistisch, frauenfeindlich, Befürworter einer Militärintervention ist und zur Tötung politischer Gegner aufruft, wird entweder als weniger wichtig gesehen oder aktiv von der evangelikalen Bevölkerung unterstützt. Die ungebildeten Massen waren auch leichte Beute für die unzähligen und absurdesten Falschmeldungen einer nie dagewesenen Hetz-Kampagne gegen alles „Linke“, vor allem via WhatsApp. Und eine rassistische, ausbeuterische und überhebliche Oberschicht ist ohnehin auf Rache aus gegen die ehemals linken Regierungen und ihre Anhänger.
Die lange Antwort
Millionen von Menschen schafften es vor kaum einem Jahrzehnt, dank der Sozialpolitik des sozialistischen Präsidenten Lula da Silva, aus der Armut. Doch nun wählten sie einen reaktionären Linken-Hasser an die Macht, dessen erschreckende, hasserfüllte und gewaltbereite Aussagen an die Zeit der “Kommunistenverfolgungen” eines McCarthy in den USA oder an die 20er- und 30er-Jahren in Österreich erinnern. Was vor wenigen Wochen in der Wahl des Jair Bolsonaro zum Präsidenten gipfelte, ist aber nur der Abschluss einer politischen Konter-Revolution, die vor zwei Jahren begann und nun das Land zurück in die dunkelsten Zeiten seiner Geschichte zu katapultieren droht.
Historischer und politischer Hintergrund
Im Jahr 1964 wurde ein moderater linker Präsident durch einen Militärputsch abgesetzt – mit der offenen Unterstützung
der USA. Die darauf folgende brutale Militärdiktatur dauerte zwei Jahrzehnte, war aber zeitweise im Volk sehr populär, dank des wirtschaftlichen Booms während der 70er-Jahre. Absolute Presse-Zensur, Verschleppung, Folter und Tötungen politischer Gegner waren jedoch allgemeine Praxis. Als dann in den 80ern die Wirtschaft nicht mehr so rund lief, übergaben die Generäle freiwillig das Land wieder an die zivilen Politiker. 1985 übernahm ein gewisser José Sarney die Präsidentschaft, für fünf Jahre. Rückblickend ein schlechtes Omen für die neue Demokratie, denn er wurde einer der korruptesten Politiker des Landes, dessen Karriere als “Pate“ der politischen Mafia bis heute andauert. Sein Nachfolger war nicht besser: Präsident Collor de Mello war schon zu Amtszeiten derart unverschämt korrupt, dass er 1992 seinen Posten durch ein Amtsenthebungsverfahren verlor – was ihn aber nicht daran hindert, bis heute einflussreicher Senator zu sein.
Schließlich – nach vier Anläufen – übernahm am 1. Jänner 2003 der beliebte Gewerkschaftsführer und Mitbegründer der Arbeiterpartei (PT) Lula da Silva das Präsidentenamt. In einem Land, das wie zu Kolonialzeiten nur von ein paar konservativen Oligarchenfamilien kontrolliert wird, kam das einem politischen Erdbeben gleich. Durch Lulas Sozialprogramme wurde er noch populärer und 2006 wiedergewählt, seine Kanzlerin und Schützling Dilma Rousseff wurde 2010 als erste Frau ins Präsidentenamt gewählt. Das Land boomte und wurde international als neue Wirtschaftsmacht gefeiert und als Vorbild gehandelt, wie man erfolgreich die Armut bekämpft. Olympiade und Fußball-WM sollten die goldenen Jahre krönen. Dilma wurde 2014 knapp aber doch wiedergewählt, der vierte Wahlerfolg der Arbeiterpartei in Folge.
Doch nur zwei Jahre später wurde sie aufgrund eines politischen Verrates ihrer konservativen Koalitionspartner des Amtes enthoben und ihr neoliberaler Vize Michel Temer übernahm die Präsidentschaft. Wegen einer langen Reihe von Korruptionsvorwürfen gegen ihn selbst, konnte Temer aber 2018 gar nicht selbst zur (Wieder)Wahl antreten. Gleichzeitig sitzt der nach wie vor beliebte Ex-Präsident Lula seinerseits wegen (dubiosen bzw. nicht bewiesenen) Korruptionsvorwürfen im Gefängnis und konnte auch nicht zur Wahl antreten – die er, Umfragen zufolge, gewonnen hätte.
All das ebnete den Weg für einen weitgehend unbekannten Politiker aus Rio de Janeiro mit monströsen Ansichten, einen gewissen Jair Bolsonaro, der es schaffte, innerhalb eines Jahres vom bedeutungslosen Hinterbänkler zum Präsidenten zu werden, von einer Null-Nummer zu einem Politiker von (zweifelhaften) Weltruhm.
Wirtschaftliche und politische Krise
Während der Lula/Dilma Jahre erlebte Brasilien einen wirtschaftlichen Boom, der das Land als neue Wirtschaftsmacht in die weltweiten Schlagzeilen brachte. Lula/Dilma nutzten die gute wirtschaftliche Lage für groß angelegte Sozialprogramme, die dazu führten, dass rund 50 Millionen Menschen (von 220 Millionen Einwohnern) aus totaler Armut zu bescheidenen Wohlstand kamen. Lula und Dilma brachten auch einige sozio-ökonomische Reformen auf den Weg, z.B. die berühmte Stärkung der Rechte der Hausangestellten. In anderen Bereichen jedoch kam es zu keinen Verbesserungen (z.B. Landreform, Umweltschutz). Am desaströsesten wirkte sich aber aus, dass die Wirtschaftspolitik nicht nachhaltig war und als die brasilianische Wirtschaft ab 2014 in die Krise schlitterte, waren die meisten der Errungenschaften schnell wieder verloren. Brasilien erlitt eine massive Rezession, Arbeitslosigkeit, Armut und in deren Folge Kriminalität schossen in ungeahnte Höhen. Nach dem gefeierten Höhenflug kam der ungebremste Absturz.
Während die Bevölkerung unter den Folgen der Wirtschaftskrise litt, kamen gleichzeitig Korruptionsskandale eines nie gesehenen Ausmaßes an die Öffentlichkeit. Sogar für ein korruptionserfahrenes Land wie Brasilien waren die Skandale, die die „Operation Auto-Wäsche“ (“lava jato”) ans Licht förderte, unfassbar. Grund dafür, dass die Justiz erstmals in der Geschichte des Landes ungehindert ermitteln konnte, und Dutzende von hohen Politikern hinter Gitter brachte, war die historische Entscheidung Präsidentin Dilmas, nicht in die Ermittlungen einzugreifen, sondern die Entpolitisierung der Justiz voranzutreiben. Es ist eine traurige Ironie der Geschichte, dass genau diese demokratiepolitisch erfreuliche Maßnahme letztlich zu ihrem eigenen Sturz führte und ihren Mentor Lula ins Gefängnis brachte.
Die zuvor noch gefeierte Arbeiterpartei PT, die einst als „saubere“ und anti-korruptions-Partei angetreten war, war nun selbst in die Korruptionsfalle geraten. Zwar stellte die PT die Präsidentschaft, aber um eine regierungsfähige Mehrheit im über 30 Parteien umfassenden Parlament zustande zu bringen, mussten sowohl Lula als auch Dilma weitgreifende und z.T. absurde Koalitionen mit bis zu einem Dutzend Parteien eingehen. Das macht das Regieren zu einer komplizierten Kunst und man kann der PT zugute halten, dass ihr bei vielen Themen die Hände gebunden waren. So kam es schon in der ersten Amtszeit Lulas zum ersten, großen Korruptionsskandal, als offenbar wurde, dass die PT Abgeordnetenstimmen anderer Parteien regelrecht gekauft hatte, um ihre Gesetze durchs Parlament zu bringen („Mensalão“). Das saubere Image war dahin, und trotzdem schaffte es Lula nicht, ein paar andere zentrale Reformen anzugehen. Obwohl ein jahrzehntelanges Wahlkampfthema Lulas, gab es unter seiner Präsidentschaft nie den Versuch einer Landreform, sodass ganze Regionen des Landes auch heute noch von Großgrundbesitzern und der mächtigen Agrarlobby kontrolliert werden; es gab auch nie eine ernsthafte Aufarbeitung der Militärdiktatur (anders als in den Nachbarländern Brasiliens, wie Chile oder Argentinien); es gab auch keine grundlegende Verbesserung des katastrophal schlechten Schulsystems; es gab keine Politik gegen die Ausbreitung der verbrecherischen, ultra-konservativen, homophoben und rassistischen evangelikalen Kirchen. Und am wichtigsten, es gab eben keinen Kampf der PT-Regierungen gegen die allgegenwärtige Korruption. Stattdessen versank die Partei selber im Sumpf und ließ es zu, dass unter ihrer Präsidentschaft das größte, den ganzen Kontinent umspannende industrie-politische Korruptionsnetzwerk gesponnen wurde, das die Welt je gesehen hat. Wie ein Bumerang kamen nun all diese Verfehlungen zurück und trafen die PT hart. Es gab dem politischen Gegner alle Argumente in die Hand, die PT regelrecht zu verteufeln.
Korruption und Kriminalität
Die wichtigsten Motive, warum Brasilianer Bolsonaro wählten, sind politische Korruption und die ausufernde, lebensgefährdente Kriminalität auf den Straßen.
Wie bereits erwähnt, war Brasilien immer schon ein zutiefst korruptes Land, in für europäische Standards unvorstellbaren Ausmaß. Die politische Klasse ist tatsächlich eine schamlose Bande von Kriminellen, die ihre öffentlichen Ämter für endlose persönliche Bereicherung nutzen. Das Volk war gewohnt, diese Tatsache mehr oder weniger achselzuckend zur Kenntnis zu nehmen, am besten in einem oft zitiertem Sprichwort zusammengefasst: “Rouba, mas faz” – Er stiehlt zwar, aber er macht auch was.
Diese fatalistische Einstellung hat sich aber in den letzten Jahren dramatisch geändert, im Zuge der Aufdeckungen der „Auto-Wäsche“-Skandale rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras, dem Bau-Konzern Odebrecht und dem Fleischriesen JBS. Die mafiösen Absprachen zwischen Politikern und den Industriekapitänen waren von einer nie dagewesen Dimension, und reichten bis in die höchsten Ämter gleich mehrerer Regierungen in Südamerika. Die Schmiergeldzahlungen waren derart hoch, dass die Petrobras – immerhin eine der größten Ölfirmen weltweit – fast in den Bankrott getrieben wurde; und die IT-Abteilung von Odebrecht hatte gar ein eigenes Computerprogramm entwickelt, um den Überblick über die Schmiergeldzahlungen an hunderte (!) von Politikern zu behalten. All dies wucherte unter den Regierungen von Lula und Dilma, Helden der Linken.
Die Enthüllungen kamen zur selben Zeit, wie die heftige Rezession, die ab ca. 2014 das Land erschütterte. Millionen von Arbeitern verloren ihre Jobs und ihren eben erst erreichten bescheidenen Wohlstand, und in der Folge wuchs die Straßenkriminalität auch für brasilianische Verhältnisse ins unermessliche. Doch plötzlich waren Politiker nicht mehr immun und die Gefängnisse füllten sich neuerdings mit Dutzenden von prominenten Abgeordneten, Senatoren, Gouverneure, ja sogar der Parlamentspräsident und legendäre Strippenzieher Eduardo Cunha landete im Häfen. Dies ermutigte die Menschen, plötzlich schien es, als könnte sich etwas zum Positiven verändern. Es kam zu den ersten politischen Massendemonstrationen in der Geschichte des modernen Brasiliens, gegen die nun ungeliebte Präsidentin Dilma, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurde. Das folgende Amtsenthebungsverfahren, obwohl eigentlich nichts anderes ein politischer Putsch ihrer Koalitionspartner, erweckte endgültig die Massen. Seit diesem Moment spricht das Land von nichts anderem mehr, als von der Korruption und der nicht enden wollenden Wirtschaftskrise. Nichtmal die Fußball-WM erregt heutzutage die Brasilianer mehr so, wie die Politik.
Plötzlich wurde Lulas Arbeiterpartei PT für alles und jedes verantwortlich gemacht, von der miesen Wirtschaftslage bis zur Korruption. Der Hass gegen den einst so beliebten Lula und seiner PT nahm hysterische Ausmaße an, und dies nicht nur bei der weißen Mittel- und Oberschicht, die die PT ohnehin immer schon verabscheuten, sondern auch bei den ärmeren Klassen, die eigentlich unter den Sozialprogrammen der PT Regierungen profitiert hatten. Obwohl Dutzende andere Parteien genauso und mit mehr Politikern im Korruptionsnetz verwickelt sind (inklusive der aktuelle Präsident Temer), schaffte es die konservative Elite, im Verband mit einer voreingenommenen Justiz und der sich ausschließlich in privaten Händen befindenden, konservativen Medien, die nationale Schulddebatte wie mit einem Laser auf Lula und die PT zu richten. Die waren nun Schuld an allem. Immerhin, sie stellten 14 Jahre lang die Präsidentschaft.
Bolsonaro wird als der einzige wirklich saubere Politiker angesehen. Er ist zwar seit fast 30 Jahren Kongressabgeordneter, war aber immer ein obskurer Hinterbänkler einer unwichtigen Mini-Partei. Da er nie auch nur in die Nähe einer Regierung kam, nehmen die Menschen an, dass er quasi automatisch nicht korrupt ist. Es wird ihm auch abgenommen, wenn er sagt, dass er mit eiserner Faust gegen die politische Korruption vorgehen wird. Wer sonst könnte das, wenn nicht ein Außenseiter, wie er. Bolsonaro, der Ex-Militär, betont auch, dass er ebenso hart gegen die allgegenwärtige Straßenkriminalität vorgehen wird. Kaum ein Brasilianer wurde in den letzten Jahren nicht schon Opfer eines bewaffneten Raubüberfalls. Bolsonaros Rezept gegen die Banden ist denkbar einfach: erschießt die Diebe. “Ein Polizist, der nicht tötet, ist kein Polizist”. Bolsonaros militärische Herkunft verleiht ihm Glaubwürdigkeit. Schon lange vor seinem rasanten Aufstieg, wurde der Ruf im Volk nach einer Militärintervention immer lauter, das Militär als einzige integre Institution im Land gesehen, die den korrupten Politikern das Handwerk legen kann. Bolsonaro wird als der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt bejubelt.
Bildungslosigkeit
Für viele ausländische Beobachter sind die Brasilianer das wohl ungebildetste und kindlich-naivste Volk Südamerikas. Zu warnen, Bolsonaro sei ein Faschist, nutzt nichts, denn sie wissen nicht, was ein Faschist ist.
Das öffentliche Schulsystem ist eine Katastrophe, auch nach drei-einhalb PT-Regierungen. Die Schülerinnen und Schüler verlassen nach acht Jahren die Schule, aber sie können kaum lesen und schreiben, beherrschen weder die Grundrechnungsarten, noch haben sie eine rudimentäre Allgemeinbildung. Nichtmal die eigenen Geschichte wird ausgiebig gelehrt, die Militärdiktatur nicht behandelt und die prä-kolumbianische indigene Vergangenheit des Kontinents kaum erwähnt. Die Kinder sind außerstande, Brasiliens Nachbarländer zu nennen.
Bis vor kurzem haben sich die brasilianischen Massen auch kaum für Politik interessiert. Während in den spanischen Ländern Lateinamerikas stets ein hohes politisches Bewusstsein herrschte und der Besucher bei jeder Taxifahrt in enthusiastische Debatten verwickelt wurde, wollte ein brasilianischer Taxler höchstens deinen Kommentar zum letzten Fußballmatch oder deine Meinung über das gestrige Kapitel der aktuellen TV-Seifenoper wissen. Als daher das politische Interesse der Menschen plötzlich im Zuge der Wirtschaftskrise und der Korruptionstrubel erwachte, gab es keine allgemeine politische Bildung als Fundament, keine politische Orientierung, keinerlei Verständnis geschichtlicher oder politischer Zusammenhänge, keinerlei weltanschauliche Heimat der Menschen. Daher kommt es, dass die Debatten abstrus, chaotisch und völlig unintelligent, Sinn-entleert verlaufen, historische Ereignisse auf den Kopf gestellt werden oder schlicht unbekannt sind. So kann es sein, dass Hitler als ein “sozialistischer” Diktator bezeichnet wird, und die deutsche Botschaft in Brasilia von wütenden Bolsonaro-Fans korrigiert wird, wenn sie in einem Video erklärt, was Faschismus ist.
Die selbe Ignoranz trifft auch zu auf die eigene Militärdiktatur. Die Menschen wissen schlicht nicht, was das bedeuten würde, da das Land sich nie seiner Vergangenheit gestellt hat und die Gräueltaten der zwei Jahrzehnte herrschenden Generäle nie aufgedeckt und die Schuldigen nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Es gab schlicht nie eine öffentliche Debatte noch wird diese Zeit in den Schulen unterrichtet. Nicht verwunderlich daher, dass die Zeit – obwohl nur 30 Jahre her – von den meisten jungen Brasilianern als eine ruhige Ära gesehen wir, in der die Wirtschaft lief und es keine Kriminalität auf der Straße gab.
Bolsonaro selbst war immer ein ausgesprochener Fan dieser Zeit und kritisiert daran nur, dass die Generäle nicht genug Menschen getötet hatten – 30.000 mehr hätten es seiner Meinung nach ruhig sein können, inklusive dem späteren demokratischen Präsidenten Cardoso. Dass Bolsonaro, einmal im Amt, eine faschistische Diktatur einrichten könnte, ist durchaus realistisch. Sein eigener Vizepräsident, ein General (wie die meisten potentiellen Kabinettsmitglieder), hat bereits öffentlich über einen Selbst-Putsch nachgedacht. Das schreckt aber Menschen nicht, die v.a. wieder ohne Angst, überfallen zu werden, mit dem Bus in die Arbeit fahren wollen.
Zusätzlich war Bolsonaros Kampagne wahrlich unverfroren im Verbreiten von “fake news”, Falschmeldungen, manipulierten Videos und schlicht erfundenen Lügen, die aber von den ahnungslosen Menschen für bare Münze genommen wurde – und war es auch noch so haarsträubender Unsinn. Einer politisch naiven Masse kann man alles erzählen – z.B. dass die PT Babyschnuller in Penisform verbreite, um Kinder zum Schwulsein zu erziehen, oder dass Bolsonaro in seiner Zeit als Abgeordneter fast 700 Gesetzesinitiativen auf den Weg brachte (in Wahrheit waren es in 28 Jahren ganze zwei).
Die Arbeiterpartei, die stets eine ausgesprochen gemäßigte „linke“ Politik verfolgte, wurde als extrem kommunistisch verteufelt, Venezuela als Schreckgespenst an die Wand gemalt. Dass unter der PT Brasilien einen nie dagewesenen Wirtschaftsboom genoss, ist längst aus dem kollektiven Gedächtnis des Landes verschwunden, bzw. wird schlicht geleugnet. Die enttäuschten und unter der Wirtschaftskrise seit Jahren leidenden Wähler wurden durch gezielte Hetzkampagnen binnen weniger Monate zu gefährlichen Wutbürgern mit hysterischem Hass gegen alles „linke“. Eine intelligente Debatte war nicht mehr möglich – sowenig wie auf einer Pegida-Demonstration in Dresden.
Eine der Hauptfeinde auf den Kampagnen auf den Sozialen Medien waren auch von Anfang an NGOs. So wie in Europa ein Orban oder ein Kurz es schafften, humanitäre Organisationen, die im Mittelmeer Menschenleben retten, in der Öffentlichkeit als Verbrecherorganisationen umzudeuten, so schaffte es Bolsonaro in Brasilien soziale Organisationen und Umweltverbände als “ausländisch-feindliche Agenten” darzustellen, “die unser Land unterwandern und übernehmen wollen”. Jeglicher Aktivismus oder soziale Arbeit (z.B. gewerkschaftlich) wurden als negativ oder gefährlich gebrandmarkt und als Hindernis für das wirtschaftlichen Fortkommen der Einzelnen dargestellt. “Wollt ihr einen Job, oder wollt ihr Arbeiterrechte?” Die Absurditäten gehen sogar soweit, dass junge, schwarze Kids aus den Favellas gegen “die Menschenrechte” wettern, die nur eine Militärdiktatur endlich loswerden könne. Nie zuvor hatten die Jugendlichen von Menschenrechten gehört (z.B. in der Schule), aber nun wurde ihnen via Whats-app erklärt, dass diese dem Verbrecher im Gefängnis mehr Rechte einräumten, als dem ehrlich arbeitenden Familienvater. Also muss man Menschenrechts- oder Sozial-NGOs (die sich zB für den Schutz der Indianervölker, Arbeiter oder Landlosen einsetzen) ausmärtzen, aus dem Land vertreiben – und ja nicht die menschrechtsfreundliche PT wählen.
Die evangelikalen Fundi-Christen
Brasilien besteht nicht nur aus Samba und String-Bikinis. Dieses hedonistische, liberale Brasilien liefert sich seit Jahrzehnten einen bitteren Kulturkampf mit dem zutiefst konservativem und reaktionärem Reich der evangelikalen Kirchen.
Karneval steht symbolisch für diesen Kulturkampf. Während die Sambaschulen draußen auf den Straßen feiern, tanzen und trommeln, wettern die Prediger in den Kirchen wütend dagegen an und bezeichnen die lebensfrohen Menschen als ernsthaft „vom Teufel besessen“.
Während der letzten 20 Jahre erfreuten sich die Evangelikalen eines beispiellosen Zustroms (auf Kosten der Katholiken). Man konnte zusehen, wie diese evangelikalen Tempel an jeder Ecke auftauchten, wie die sprichwörtlichen Schwammerl. Von Miniräumen in den kleinsten Hintergassen bis zu riesigen Tempeln mit zehntausenden von Plätzen, sind diese radikalen Kirchen heutzutage in der Öffentlichkeit allgegenwärtig. Die betrügerischen Aktivitäten – die Gläubigen zahlen bares Geld an die selbsternannten Prediger für “Wunder”, “Heilungen” und Exorzismen – passierten immer und überall: in den laut schreienden Gemeinden, auf den Straßen und Plätzen, in den Bussen und U-Bahnen – und in unzähligen Radio- und Fernsehkanälen.
Doch diese Prediger saugen nicht nur das Geld aus den Taschen der Armen (und nicht ganz so Armen), sondern sie verbreiten auch eine extrem konservative, reaktionäre, homophobe, frauenfeindliche, anti-liberale Ideologie, intolerant gegen alles, was nicht in der Bibel steht. Den Leicht-Gläubigen wird eine kindliche Bibelverehrung beigebracht, die man im 21. Jahrhundert für unmöglich halten sollte. Eine Gehirnwäsche reinsten Ausmaßes.
Die linken Regierungen, die die Armen und Ungebildeten eigentlich vor den verbrecherischen Tätigkeiten dieser Prediger schützen hätte sollen, taten nichts. Im Gegenteil, Lula verbündete sich in seinen Wahlkämpfen mit dem Besitzer einer der größten dieser Kirchen, „Bischof“ Macedo von der „Universellen Kirche“, und akzeptierte bereitwillig dessen Unterstützung. Er brauchte sie wohl, um eine Chance auf Erfolg zu haben. Dennoch, es war immer nur ein Waffenstillstand, offensichtlich, dass beide an anderen weltanschaulichen Polen standen. Und es war eigentlich immer klar: falls diese Evangelikalen ihre wahre politische Macht eines Tages tatsächlich ausspielen sollten, dann nicht zugunsten einer sozialistischen Partei. Stetig bauten die Kirchen-Imperien an den Fundamenten dieser neuen Macht, vergrößerten ihre Medienimperien, entsandten mehr und mehr ihrer Vertreter als Politiker in die Parlamente oder Gouverneurspaläste, steigerten stetig ihren Einfluss. Ein starkes, symbolisches Zeichen, wohin die Reise gehen wird, sah man in Rio de Janeiro während des letzten Karnevals: der frisch gewählte evangelikale Gouverneur weigerte sich, traditionsgemäß die Schlüssel der Stadt symbolisch an den Karnevalskönig zu übergeben! Karneval ist des Teufels! Jetzt sogar auch in Rio.
Der wahre Moment des politischen Erwachens kam jetzt: die Evangelikalen warfen all ihr Gewicht hinter Bolsonaro. Sie nutzten ihr konkurrenzloses Netzwerk von Kirchen und Predigern im ganzen Land, vom kleinsten Weiler bis zu den Mega-Metropolen, ebenso wie ihre Medienmacht in Form von unzähligen Zeitungen, Radios und dem zweitgrößten TV-Sender Record, der zum Sprachrohr Bolsonaros wurde (und dem einstigen Lula-Verbündeten Bischof Macedo gehört). Die Gläubigen wurden von hunderttausenden Predigern aufgefordert, Bolsonaro zu wählen, und ja nicht die schwulen-freundlichen, kinderschändenden „Kommunisten“ der PT.
Bolsonaro steht für das, was die Evangelikalen predigen. Homophobie ist nicht etwas, das es zu bekämpfen gilt, nein, man ist stolz darauf, homophob zu sein. Bolsonaro sähe es lieber, sein Sohn würde sterben, als schwul zu sein, sagte er einmal. Homosexualität ist eine Krankheit, die man früh heilen kann, indem man die Kinder prügelt. „Machismo“ und die Herabwürdigung der Frauen ist “Gott gewollt”. Indianer werden als rückständige Wilde dargestellt, die kaum ein Recht haben, zu leben. Der leiseste Gedanke an Abtreibung ist Blasphemie (in einem Land, in dem die Abtreibung absolut verboten ist!). Ach ja, und Karneval ist des Teufels.
Wenn also Bolsonaro als homophob, frauenfeindlich, rassistisch bezeichnet wird – dann fällt das auf den fruchtbaren Boden, der lange Jahre von den Evangelikalen aufbereitet wurde, und spricht bei Millionen von „Gläubigen“ für ihn. “Gottes Armee” steht bereit. Und Bolsonaro ist ihr General.
Die Elite
Bolsonaro kann sich auch auf die Unterstützung eines Großteils der (gebildeten) Oberschicht verlassen.
Brasiliens “Elite” ist – wie in vielen Ländern Südamerikas – offen rassistisch, ausbeuterisch und überheblich, in einem Maße, das für europäische Beobachter schlicht schockierend ist und an längst vergangene Feudalherrschaften erinnert. Die meisten Haushalte der “besseren Schicht” beschäftigen Hausangestellte, Köche, Gärtner, Kindermädchen. Die Hausherren sind Weiße, die Angestellten sind Schwarze. Wobei das Wort “Angestellte” unpassend ist, weil es sich hier zu oft eher um ein sklavenähnliches Verhältnis handelt, als um eine “Anstellung”. Die Oberschicht hegt einen Abscheu gegen die Ärmeren, der an Hass grenzt, um vor sich selbst die ungenierte Ausbeutung rechtfertigen zu können. Das extreme Klassen-Verständnis wird hochgehalten und gefeiert. Die feinen Damen aus Rios Luxusviertel Barra da Tijuca gingen auf die Straße, um gegen Präsidentin Dilmas Sozialpolitik zugunsten der Hausangestellten zu demonstrieren, und klopften dabei auf ihre „Tramontina“-Töpfe – von denen einer so viel kostet, wie das gesamte Monatseinkommen der Köchin (falls sie überhaupt bezahlt wird).
Diese Oberschicht hasste Lula immer schon und fand es unerhört, dass er gewählt wurde. Sie machten sich über seinen “Arbeiter-Spruch” lustig. (Ironischer weise kann ihr eigener Held Bolsonaro keinen geraden Satz sprechen). Sie verabscheuten Lulas Sozialpolitik, die sie zwingen sollte, ihre Arbeiter angemessen zu bezahlen. Die weiße, reiche Oberschicht schäumte vor Wut, als Lulas Quoten-Politik zugunsten der Ärmeren dazu führte, dass dunkelhäutige Kinder aus den „schmutzigen“ Vierteln plötzlich neben ihren eigen weißen Kids studieren konnten.
Jetzt sieht diese Klasse die Zeit der Rache gekommen. Bolsonaro ist einer von ihnen. Seine Söhne würden nie mit einer schwarzen Frau ausgehen – “dazu sind sie zu gut erzogen worden”. Er versprach, die Quoten abzuschaffen und nannte Indianer und Schwarze “Maultiere, zu nutzlos, selbst um sich fortzupflanzen”. Bolsonaro wird die Armen und einfachen ArbeiterInnen dorthin zurück schicken, wo sie hingehören: in
die Besenkammer hinter der Küche der Reichen.
BBB + B = Bibel, Rinder, Pistolenkugeln + Bolsonaro
BBB steht in Brasilien für Big-Brother-Brasil, seit 16 Jahren ein ungebrochener Hit im nationalen TV. Aber diese drei unscheinbaren Buchstaben stehen auch für etwas wesentlich Bedrohlicheres – BBB bezeichnet ein informelles aber mächtiges politisches Bündnis aus “Bibel, Rinder und Pistolenkugeln” („Biblia, Boi e Bala“ auf Portugiesisch). Deren Politik liegt quasi im Namen: konservativ-religiöse (Rinder)Farmer, die alle und jeden niederschießen, der ihnen in den Weg kommt.
Diese Agrarlobby dominiert den Kongress und viele der Regierungen der Bundesstaaten. Brasilien ist im Grunde noch immer eine Agrar-Wirtschaft, und das Ziel der BBB ist es, noch mehr Land in Rinder-Farmen oder Soja-Plantagen umzuwandeln. Das Land, das sie wollen, ist natürlich Amazonien. Für sie ist ein stehender Urwald bloße Geldverschwendung. “Abbrennen und Geld machen”, lautet die Devise. Indigene Völker und alle andere dort lebende Menschen (meist Klein- oder Subsistenzbauern) sind lästig und müssen verschwinden, eben mit Kugeln, wenn nötig. Naturschutzgebiete und Umweltschützer behindern den Fortschritt und sind Teil einer internationalen Verschwörung, um den Amazonas unter die Kontrolle einer Weltregierung der kommunistischen UNO zu bringen, und können nicht toleriert werden.
Bolsonaro spricht die Sprache der BBB. Er versprach, das Umweltministerium aufzulösen und jegliche Gesetze, die den Rodungen im Wege stehen, aufzuheben – sprich Umweltgesetzgebung und die Indianerreservate. Er will den Klimaschutzvertrag von Paris aufkündigen, denn da das Abbrennen des Amazonas Brasiliens größte CO2-Abgas-Quelle ist, zwingt der Vertrag Brasilien, den Wald zu schützen.
Es war schon immer eine lebensgefährliche Aufgabe sich in Amazonien für den Schutz der Natur oder der dort lebenden Menschen einzusetzen. Aber jetzt mit Bolsonaro als Präsident wird der Amazonas-Wald mit all seinen pflanzlichen, tierischen und menschlichen Bewohnern, brennen, wie nie zuvor. Bolsonaro und seine aggressive Bande von Agro-Business-Politikern werden rasch und skrupellos (und mit der Hilfe des Militärs?) alles daran setzen, die “Lunge des Weltklimas” in eine Soja-Wüste zu verwandeln, und jeden töten, der etwas dagegen hat. Er hat schon im Wahlkampf angekündigt, mit den “Terroristen der Umweltbehörde IBAMA kurzen Prozess zu machen” und den „stinkenden“ Indianern ihr (von der Verfassung garantiertes) Land wegzunehmen, um es für Minen und Abholzung freizugeben. Dutzende Mega-Staudämme, die Landstriche, so groß wie europäische Länder zerstören, werden in Angriff genommen werden, und “verbrecherische” Organisation wie WWF und Greenpeace des Landes verwiesen. Bolsonaro betont, jeglichen Aktivismus “zu beenden” und Mitglieder der PT im Amazonas-Bundesstaat Acre “zu erschießen”.
In Brasiliens “Wildem Norden” ist es genau das, was die Farmer hören wollen und Bolsonaro konnte mit der vollen Unterstützung der BBB-Koalition rechnen. Und die BBB-Koalition kann sich jetzt auf ein viertes B freuen: das B des Bolsonaro.
Die Kampagne
Da die PT trotz Lulas Inhaftierung und der Stimmung im Land darauf bestand, einen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, der es wie erwartet in die Stichwahl schaffte, konnte die Bolsonaro-Kampagne voll die in der Bevölkerung herrschende Enttäuschung und Wut auf die PT ausnutzen und ins hysterische und völlig irrationale vergrößern. Die Methode, wie Bolsonaros Kampagne dies tat, ist weltweit innovativ und wird ob ihres Erfolges noch oft nachgeahmt werden. Steht in den USA bei der Wahl Trumps Facebooks missliche Rolle in der Manipulation der Massen in der Kritik, so ist es in Brasilien Whats-app, das diese Rolle übernahm.
Traditioneller Weise waren Wahlkämpfe in Brasilien eine laute Angelegenheit: “trio-electricos” – riesige Soundboxen auf LKWs – wurden durch die Stadtviertel gefahren und blärrten die Werbespots der Kandidaten in die Welt, von früh morgens bis spät abends, wochenlang. Heuer war alles anders. Wer nur auf den Straßen herumging, hätte nie gedacht, dass Wahlkampf ist. Keine Boxen-LKWs, keine Plakate, kaum Veranstaltungen. Die Kampagnen fanden fast ausschließlich auf den Sozialen Medien statt, eben vor allem auf Whats-app. Brasilien war immer schon ein Vorreiter in Sachen Soziale Medien, lange Jahre vor der Erfindung von Facebook gab es in Brasilien das fast identische “Orkut”, auf dem sich jeder und jede tummelte; und Brasilien war seit jeher Whats-apps größter Markt gewesen. Was sich allerdings in den letzten Monaten abspielte, war schlicht der reinste Irrsinn. Bolsonaros Kampagne wurde richtigerweise als ein „Tsunami von Falschmeldungen” beschrieben. Es ist unfassbar, mit welcher Wucht hier abertausende von Videos, Memes und sonstiges Geschichten produziert wurden, oft haarsträubender Unsinn, der aber umgehend von Millionen von Menschen geglaubt und weiterverbreitet wurde. Das perfekte Schneeballsystem, wo die Benutzer und Adressaten selbst zu Kampagnenmitarbeitern wurden. Irgendwo produzierte irgendwer ein Meme, schickt es in die tausenden von Bolsonaros Whats-app-Gruppen und binnen Minuten erreichte es das ganze Land. Und dennoch, anders als Facebook oder auch Twitter, ist Whats-app geschlossen und daher nicht beobachtbar, kontrollierbar, nichts ist wirklich “öffentlich”.
Auch die „offiziellen“ Medien spielten kaum mehr eine Rolle in diesem Wahlkampf. Sie wurden von den Whats-app-Hysterikern ohnehin als „Lügenpresse“ verabscheut. Nichts bezeugte die verschwundene Macht des größten und einst mächtigsten Senders Globo mehr, als der Abend, an dem sich alle PräsidentschaftskandidatInnen zur TV-Debatte versammelten – nur Bolsonaro nicht. Er gab stattdessen dem evangelikalen Konkurrenzsender Record ein Exklusiv-Interview.
Aber wo wurden diese Whats-app-Memes produziert, und vom wem? Sie sind nicht nur verrückt, sondern auch höchst professionell, sowohl in technischer als auch psychologischer Hinsicht. Sie sind effektiv und wurden extrem rasch auf aktuelle Ereignisse hin erstellt. Als z.B. in Reaktion auf Bolsonaros erschütternde Frauenfeindlichkeit eine Gruppe von Frauen mit einer Facbook-Seite namens #EleNao (Er Nicht) spontan enormen Erfolg verzeichnete und die größten Massenproteste in der Geschichte des Landes organisierten, wurde diese Seiten umgehend gehackt, und dann die Demonstrationen mit verleumderischen, falschen Videos und Nachrichten kleingemacht.
Nun, es stellt sich heraus, dass ein Großteil des erschreckenden Inhalts, der über abertausende Whats-app-Gruppen verteilt wurde, in den USA produziert wurde, oft mit kalifornischen IP-Nummern. Steve Bannon, der rechtsextreme Vordenker Trumps, “beriet” die Söhne Bolsonaros (seine Kampagnenleiter und beide selbst in den Kongress gewählt). Zwei Wochen vor der Wahl konnte die brasilianische Qualitäts-Zeitung Folha de Sao Paulo (etwa das brasilianisches Äquivalent zur New York Times) aufdecken, dass eine lange Reihe von bekannten Firmen und Industrieller heimlich (und entgegen den Wahlkampf-Bestimmungen) die Whats-app Kampagnen finanziert hatten, darunter etwa Localiza, Südamerikas größter Autoverleih (im Verband mit Hertz) oder die Kaufhauskette Havan, dessen Besitzer seine Belegschaft auch zwang, an Wahlkampfevents Bolsonaros teilzunehmen und dabei T-Shirts der Kampagne zu tragen.
Es macht durchaus Sinn, dass Bolsonaro von irgendwoher “Hilfe” bekam. Er saß fast drei Jahrzehnte für Rio de Janeiro als Abgeordneter im Kongress, hat aber dort nie etwas getan. Er war so unwichtig, dass er sogar von dem Korruptionsnetzwerk rund um die “Auto-Wäsche” sozusagen “vergessen” bzw. ignoriert wurde. Er war ein verrückter, abseitiger Hinterbänkler, der nie Ambitionen zeigte, politisch etwas zu erreichen, und auch keinen Ehrgeiz für sein eigenes politisches Weiterkommen hatte. Und dann, plötzlich und ohne eine große, reiche Partei im Rücken, schwemmt ihn eine durchorganisierte, professionelle Kampagne aus dem Abseits direkt in den Präsidentenpalast. Es ist keine Überraschung, dass ihn rücksichtslose Industrie-Kapitäne unterstützen. Sein Wirtschaftsberater und zukünftiger Finanzminister ist der neoliberale Ökonom und Investment-Banker Paulo Guedes, dessen Ansichten derart extrem sind, dass sogar das britische Wirtschaftsmagazin The Economist vor ihm warnte.
Konterrevolution erfolgreich durchgeführt
Die Zeitleiste der offenbar lang vorbereiteten Strategie der Elite, sich das Land aus den Händen der “Linken” zurückzuholen, sieht also so aus: eine moderate linke Regierung unter dem beliebten Präsidenten Lula schafft es über ein Jahrzehnt lang, einige soziale und sozio-ökonomische Fortschritte in einem nach wie vor feudal organisiertem Land umzusetzen, wirtschaftliche und arbeitsrechtliche Erfolge für die Masse der Arbeiter einzuführen, sowie ein bescheidenes Maß an Umweltschutz zu etablieren. Beides wird von der ausbeuterischen, elitären und korrupten Ober-Klasse, die das Land und ihre Arbeiter quasi als ihr Privateigentum sehen, als eine unzulässige Einmischung in ihre Geschäfte gesehen. Als die weltweit einsetzende Wirtschaftskrise ab 2014 Brasilien besonders hart trifft, sieht die konservative Elite eine Chance, die verhassten PT-Regierungen loszuwerden. Die rechten Politiker der Elite setzen die gewählte Präsidentin Dilma mit einem konstruiertem Amtsenthebungsverfahren ab und ihr neoliberaler Vize übernimmt die Regierung; die rechtslastigen Medien, alle privat und daher in der Hand der Elite, fokussieren nun alle Schuldzuweisung und alle Skandale einzig auf die PT; die rechtslastige Justiz der Elite steckt den beliebten Ex-Präsidenten Lula, der gute Chancen hatte, die Wahlen neuerlich zu gewinnen, ins Gefängnis; die von der Wirtschafts-Elite bezahlten Manipulatoren hinter den Sozialen Medien schüren den Hass auf die PT bis ins unermessliche; und alle zusammen graben sie einen obstrusen, provozierenden, dümmlichen und daher leicht zu kontrollierenden Kandidaten aus und reichen ihm die Präsidentschaft.
Dass Bolsonaro in keiner Weise kompetent ist, Präsident zu sein, sieht jeder, der nur hinschaut. Obwohl über 60, benimmt er sich wie ein Teenager, der gerne mit den Fingern auf Gegner “schießt” oder gar bei Veranstaltungen mit automatischen Waffen herumballert. Er hat weder ein politisches Programm noch irgendwelche konkreten Ideen; wenn er frei sprechen muss, bekommt er keinen sinnvollen Satz zusammen (weswegen er auch konsequenterweise an keiner TV-Debatte teilnahm). Der Mann ist kein eigenständiger Politiker. Er ist so sehr Marionette, wie man nur Marionette sein kann, und sagt dies sogar selbst: als er einmal in einem TV-Interview gefragt wurde, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen er als Präsident setzen würde, blaffte er die Journalisten an: “Was fragt ihr mich, ich bin ein Armee-Offizier, ich hab‘ keine Ahnung von Wirtschaft!”
Was diese Wahl auch für außerhalb Brasiliens zu bedenken gibt, ist die Tatsache, wie einfach es heutzutage ist, dass eine obskure, gut finanzierte und z.T. im Ausland sitzende Kampagne einen extremistischen Niemand ins Präsidentenamt schwemmen kann. Bolsonaro ist ein Vollidiot, dessen provokanten „Soundbites“, seine Homophobie, seine Militärfantasien, sein Hass auf Minderheiten und Umweltschutz zum idealen Kandidaten machten, für wen immer, der nun hinter ihm steht. Mit ihm als Puppe in Brasilias Präsidentenpalast, der – ganz wie Trump in Washington – die mediale Aufregung auf sich zieht, haben die Mächte hinter ihm nun freie Hand Brasilien neuerlich ungeniert auszubeuten, sei es durch den wieder ungehinderten Zugriff auf die Rohstoffe wie Land, Öl und Mineralien, durch den Verkauf lukrativer staatlicher Industrie-Betriebe wie des Ölkonzerns Petrobras oder des Flugzeugbauers Embraer, oder durch die (Aus)Nutzung billigen Arbeiter, die ihre erst unlängst gewonnen bescheidenen Rechte und soziale Sicherheit im Nu wieder los sein werden.
Die Lehre für Demokratien auf der ganzen Welt muss sein: wenn man einen Bolsonaro gewählt bekommen kann, dann kann man jeden gewählt bekommen, und sei es der Teufel selbst.
Und vielleicht ist das ja auch gerade passiert.