Millionen Chilenen protestierten seit über einem Jahr für ihre sozialen Anliegen. Und sie forderten eine neue Verfassung, um die dunkle Vergangenheit der Pinochet-Diktatur hinter sich zu lassen. Bei einem Referendum Ende Oktober 2020 unterstützten 78% der Bevölkerung diese Forderung. Ein Meilenstein für die Demokratie in einem der sozial ungleichsten Länder Lateinamerikas – Von Veronica Pinilla und Gabriel Alemparte vom chilenischen Magazin entrepiso aus Chile.
Von Allende zur finsteren Pinochet-Diktatur
Begonnen hatte die Geschichte des jahrzehntelangen Terrorregimes mit einem Staatsstreich im Jahr 1973. Damals stürzte eine Gruppe von Generälen rund um Augusto Pinochet die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende. Allende war ein Reformpolitiker, der von Sozialisten, Kommunisten und weiteren kleineren linken Gruppierungen unterstützt wurde. Als Staatsoberhaupt verfolgte er den Anspruch, die europäisch geprägte Sozialdemokratie weiterzuentwickeln.
Allendes Kampf gegen die Ungleichheit als Erbe des Kolonialismus
Allendes Programm sah die Umsetzung einer tiefgreifenden Sozialpolitik zur Bekämpfung der extremen sozialen Ungleichheit innerhalb des Landes vor. Diese hat ihren Ursprung im 18. Jahrhundert, als Chile eine arme und abgelegene spanische Kolonie war. Auch die Unabhängigkeit ab 1810 änderte nichts an der massiven Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands. Denn eine kleine Oligarchie verfügte über das vorhandene Kapital, und bis zur Agrarreform von 1970, auch über Grund und Boden. Der große Teil der chilenischen Bevölkerung verblieb jedoch in einem Zustand der Marginalisierung. Im 20. Jahrhundert entstand infolge des Ausbaus öffentlicher Bildungseinrichtungen eine bedeutsamere Mittelschicht, bestehend aus Arbeitern und Fachkräften, die schließlich auch mehr politische Macht erlangten.
Das Ergebnis des Referendums von Ende Oktober 2020 steht in einem direkten Zusammenhang mit der extremen sozialen Ungleichheit innerhalb des Landes und seiner Geschichte, insbesondere der letzten 47 Jahre. In der Tat unterzog die Militärjunta unter Pinochet ab 1973 nicht nur die Wirtschaft einer neoliberalen Schocktherapie. Dabei standen schwerste Menschenrechtsverletzungen, wie Folter, gewaltsames Verschwindenlassen tausender Menschen und die gezielte Ermordung von Oppositionellen an der Tagesordnung. Infolge dessen mussten viele ins Exil flüchten.
Chile: Das Versuchslabor des Neoliberalismus
Zudem war Chile in jenen Jahren stark vom US-amerikanische Interventionismus während des Kalten Krieges und den ökonomischen Positionen der Chicagoer Schule geprägt.
Die sogenannten Chicago Boys waren eine Gruppe von Wissenschaftlern, die sich zum Ziel setzten, den von ihnen verachteten Wohlfahrtsstaat auch realpolitisch zu bekämpfen. Dafür erhielten sie 1973 ihre Chance: General Augusto Pinochet putscht den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Pinochet errichtete ein faschistisches, wirtschaftlich neoliberales Militär-Regime und die Chicago Boys bekamen eine Spielwiese, auf der sie ihre wirtschaftsliberalen Fantasien ausleben konnten.
Die Ideen der Chicagoer Schule prägen die bis heute geltende Verfassung von 1980. Diktiert von Rechtsvertretern der Militärjunta bestimmt sie bis heute das Schicksal des Landes. Die Möglichkeit staatlicher Eingriffe ist dadurch stark eingeschränkt. Das in dieser Verfassung festgeschriebene Prinzip eines “subsidiären Staates” schwächte das Sozialsystem des Landes, insbesondere das Gesundheits- und Bildungswesen. Beide wurden weitestgehend dem Markt überlassen. Einher ging dies über die Jahre mit einem starken Machtmissbrauch durch die herrschenden Eliten.
1990 startet Chile den Weg zurück zur Demokratie
Nach der Wiederherstellung der Demokratie im Jahr 1990, sahen sich die demokratischen Regierungen in der Pflicht, die neoliberalen Strukturen abzuschwächen und die enorme Konzentration der Macht zu verringern. Gegenüber einer kleinen Schicht von Großunternehmern, die lange von der Diktatur profitiert hatten und in moralischer Hinsicht sehr konservativ eingestellt sind – viele von ihnen wurden in den USA ausgebildet und von der neoliberalen Theorie Milton Friedmanns geprägt -, begann sich die Gesellschaft zunehmend zu politisieren.
Die Demokratie in Chile war und ist ein langer Prozess der Zerschlagung der politischen Strukturen, die die Militärdiktatur hinterlassen hatte. Diese sind bis heute unter anderem in der Verfassung von 1980 festgeschrieben. Dabei bevorzugte die Verfassung bei Wahlen stets eine Minderheit, die dem scheidenden Regime nahe stand. Dadurch wurden Pinochet und sein Vermächtnis lange Zeit geschützt. Die Rückkehr zur Demokratie war nicht leicht.
Concertación: Koalition für die Demokratie, Schutz für Pinochet
Sozialdemokraten, Christlich-Soziale und Liberale gründeten 1988 das Bündnis Concertación de Partidos por la Democracia („Koalition der Parteien für die Demokratie“), das bis 2013 existierte. Dem gegenüber standen ein Parlament und ein Wahlsystem, das die konservativen Kräfte bevorzugte und das Erbe der Diktatur weitestgehend zementierte. Der Schutz Pinochets war stillschweigend vereinbart. Dennoch gelang es den Post-Diktatur-Regierungen in einigen Bereichen Fortschritte zu erzielen. Chile wurde Teil der globalisierten Welt. Heute zählt das Land zu jenen mit der größten Anzahl an angeschlossenen Freihandelsabkommen, unter anderem mit Asien, der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten und Südkorea.
Chile: Die Pinochet-Verfassung bleibt Hindernis für den sozialen und demokratischen Fortschritt
Kulturell konnten das konservative Erbe der Diktatur wie auch der Einfluss des Vatikans in einigen Bereichen zurückgedrängt werden. 2004 wurde in Chile – als einem der letzten Länder weltweit – ein Gesetz zur Scheidung verabschiedet. Auch Themen wie Schwangerschaftsabbruch aus therapeutischen Gründen (das Gesetz wurde 2017 verabschiedet) oder die Gleichstellung unehelicher Kinder (1998) wurden enttabuisiert, staatliche Programme im Sozial- und Gesundheitsbereich sowie dem Kinder- und Jugendschutz wurden eingerichtet. Dadurch konnte man die Verarmung der Chilenen angesichts des demontierten Wohlfahrtsstaates etwas abgemildern. Die Armut ging zwischen 1990 und 2017 von 34% auf 7,4% zurück. Die Symptome der Ungleichheit, in der nicht alle den gleichen rechtlichen Zugang haben, blieben jedoch weiterhin Teil der chilenischen Gesellschaft. Dieses Gefühl hatte auch die neue Generation, die nach 1990 in der Demokratie geboren wurde.
Obwohl es in den vergangenen 30 Jahren einige Verfassungsänderungen gab – die wichtigste 2005 unter der Präsidentschaft des Sozialdemokraten Ricardo Lagos -, führte die fehlende demokratische Legitimation des Verfassungstextes von 1980 weiterhin zu einer tiefen Spaltung der chilenischen Bevölkerung. Und sie bildete ein wesentliches Hindernis für sozialen Fortschritt und den Aufbau eines demokratischen Wohlfahrtsstaates.
Konservative Sektoren verhindern weitere Reformen, das chilenische Volk fordert Gerechtigkeit
Große Studentenproteste begleiteten die erste Regierung von Michelle Bachelet ab 2006. Dabei trat eine neue Generation auf, die in der Demokratie geboren wurde und bereit war, die Traumata der Vergangenheit zu überwinden und für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Die Studierenden forderten einen freien Zugang zu Bildung und gerechte Pensionen. Denn Altersarmut stellt in Chile ein strukturelles Problem dar, das sich durch den demografischen Wandel und die zunehmende Alterung der Bevölkerung verschärft. Infolgedessen wird sich die Schere zwischen jenen, die eine angemessene Rente und Krankenversicherung leisten, und denen, die dies nicht können, zunehmend größer. Bachelet, die erste sozialistische Frau, die Präsidentin der Republik wurde, plante in ihrer zweiten Amtszeit (2014-2018) tiefgreifende Reformen, unter anderem auch der Verfassung. Jedoch verhindern konservative Sektoren im Kongress und die Wirtschaftselite dies letztendlich.
Als Sebastián Piñera, ein von Pinochetisten unterstützter Mitte-Rechts-Politiker, im März 2018 die Präsidentschaft übernahm, wurden viele dieser Projekte verschoben oder gestoppt. Dadurch wollte man eine drohende wirtschaftliche Instabilität, die durch diese Änderungen entstehen könnte, vermeiden, hieß es. Im Oktober 2019 kam es nach einer Reihe von Fehlentscheidungen der Regierung Piñera, insbesondere einer Erhöhung der Tarife im öffentlichen Verkehr, zu heftigen Protesten. Schließlich führten das brutale Vorgehen der Polizei und ein tiefgreifender Vertrauensverlust gegenüber der Politik zu einer sozialen Explosion. Die Straßenproteste hinterließen Verletzte und Tote, die Menschenrechtsverletzungen wurden von verschiedenen nationalen und internationalen Organisationen verurteilt. Selbst beim Internationalen Strafgerichtshof gingen Beschwerden ein. Infolge dieses Aufstands vom Oktober 2019 leitete der Kongress letztendlich einen Prozess zur Aufhebung der Verfassung von 1980, in Form eines Verfassungs-Referendum, ein.
Historisches Referendum 2020: 78 % der Chilenen wollen eine neue Verfassung
Am 25. Oktober 2020 schritten mehr als 7 Millionen Chileninnen und Chilenen im Rahmen eines Referendums an die Urnen, und sprachen sich mit einer überwältigenden Mehrheit von 78% für eine neue Verfassung und zu 80% für einen Verfassungskonvent – eine gewählte Versammlung zur Vorbereitung einer neuen Verfassung – aus. Dieser soll sich zu je 50% aus Frauen und Männern zusammensetzen. Diese werden vom Volk direkt und unabhängig vom Parlament gewählt. Als letzter Schritt muss dem neuen Verfassungstext bei einem so genannten Ausstiegs-Referendum zugestimmt werden.
Der Weg dorthin ist jedoch noch weit. Im April 2021 wählen die Chilenen ihre Volksvertreter, die für die Ausarbeitung der neuen Verfassung verantwortlich sein werden. Dann gilt es voranzukommen, solange sich die großen Konzerne und andere mächtige Akteure noch gegen eine Veränderung wehren können. Der Weg ist lang, doch die Zuversicht und Hoffnung der Chileninnen und Chilenen auf den Aufbau einer sozial gerechten und demokratischen Gesellschaft wächst immer stärker.