Deutschlands Fleischindustrie verfolgte eine sehr erfolgreiche Lohndumping-Strategie. Ein fast “mafiöses” System der Arbeitsvermittlung basierte auf billigen Arbeitskräften aus Osteuropa. Leiharbeiter, Zeitarbeiter, Wanderarbeiter wurden gegen Gewinn an die Fleischindustrie vermittelt. Am Lohndumping-System verdienten sich die Konzerne und die “Arbeitsvermittler” eine goldene Nase auf Kosten der arbeitenden Männer und Frauen.
Massive Covid-19-Ausbrüche in Deutschlands Fleischfabriken
Der Lohndumping-Skandal fliegt auf, als es im Sommer 2020 in mehreren Fleischfabriken zu massiven Covid-19-Ausbrüchen kam. Unter anderem in einem Fleischverpackungs-Betrieb im deutschen Nordrhein-Westfalen. Mehr als 1.500 Arbeiter:innen von 7.000 Mitarbeiter:innen werden positiv getestet, was zur Sperre der nahegelegenen Kreise Gütersloh und Warendorf und viel schlechter Werbung für den Eigentümer des Werks, die Tönnies-Gruppe, führt. Tönnies ist ein Gigant der deutschen Fleischindustrie. Und plötzlich rückt auch das Thema Arbeitsbedingungen ins Rampenlicht.
Viele Faktoren machen Schlachthöfe auch unter besten Bedingungen besonders anfällig für die Übertragungen. „Die Beschäftigten stehen Schulter an Schulter und schwitzen vor der harten Arbeit“, sagt Johannes Specht, Tarifchef der Gewerkschaft Ernährung, Getränke und Gastronomie (NGG), die die Beschäftigten der Fleischindustrie in Deutschland vertritt. „Sie atmen tief, es ist klimatisiert und kalt.“
Hart und ungesund waren aber nicht nur die Arbeitsbedingungen der Schlachthaus-Mitarbeiter:innen, sondern auch ihre Lebensumstände – vor allem in Zeiten der Pandemie. Viele von ihnen wohnten auf engstem Raum zusammen, fuhren in geteilten Fahrzeugen oder öffentlichen Verkehrsmitteln in die Fabrik. Denn es waren größtenteils Wanderarbeiter, vor allem aus Rumänien, Polen und Bulgarien. Sie wurden indirekt von „Subunternehmern“ angestellt, um im Schlachthof zu arbeiten.
Arbeitnehmerfeindliche Vertragsformen
Offizielle Informationen über die Ansteckungen von Leiharbeiter:innen in der Fleischindustrie liegen nur für einige Unternehmen vor. Gewerkschafter Specht schätzt, dass im Jahr 2020 etwa 30-35.000 Arbeitnehmer (rund ein Drittel der Beschäftigten in der Fleischindustrie) betroffen waren. In einigen Betrieben fielen bis zu 80-90% der Belegschaft aus. Specht kritisiert das Vorgehen der Fleischindustrie: „Tönnies fühlt sich für keine ihrer Arbeits- oder Lebensbedingungen verantwortlich. Die Linie des Unternehmens lautet: ‘Meine Hauptbelegschaft gehört nicht mir’. Covid-19 hat diese Situation jetzt aufgezeigt.“
Leiharbeit, Zeitarbeit und Entsendung wurde zu einem mafiösen Geschäftszweig
In den letzten Jahrzehnten war es den Unternehmen der Fleischbranche gelungen, Lücken im sozialpartnerschaftlichen Beschäftigungssystem zu finden. Man stellte Arbeitnehmer:innen im Rahmen „alternativer“ Vertragsformen wie Leiharbeit, Zeitarbeit und Entsendung ein. Wie mehrere Recherchen und Untersuchungsberichten zeigten, wurde die Vergabe dieser Unteraufträge in der Fleischindustrie zu einem eigenen zwielichtigen Geschäftszweig.
Bei ihrer Arbeit zu diesem Thema entdeckten die Forscher Dorothee Bohle und Cornel Ban, dass dieses System von einem riesigen und komplexen Rekrutierungs-Netzwerk getragen wird. Bohle, Professor für gesellschaftlichen und politischen Wandel am Europäischen Hochschulinstitut, erklärt, wie „fast mafiaartige Subunternehmer Leute anwerben und zu mächtigeren Zwischenhändlern leiten”. Diese haben Verträge mit den großen deutschen Unternehmen.
Tatsächlich ist „mafia-like“ ein Begriff, der in Interviews zum Thema ständig auftaucht. Von deutschen multinationalen Konzernen bis hin zu kleinen Personalvermittlern in rumänischen Dörfern profitieren alle von der Arbeiter-Vermittlung, wie Bohle zeigt. Nur die Arbeiter:innen selbst nicht.
Nicht regulär Beschäftigte werden von Konzernen ausgenutzt
Ein solches System prekärer Verträge erleichtert die Umgehung des Arbeitsrechts erheblich. Das zeigte sich an den Arbeitszeiten. Laut Gewerkschaftsquellen schufteten die Arbeiter:innen oft 10, 12 oder sogar 16 Stunden am Tag. Ein weiteres Thema war die Bezahlung. Trotz der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland im Jahr 2015 (aktuell 9,35 Euro / Stunde), verdienten diese Beschäftigten aufgrund von unbezahlten Überstunden und ungerechtfertigten Lohnabzügen für Lebenshaltungs- und Reisekosten oft weit unter dem, was sie hätten bekommen sollen.
Diese migrantischen Gelegenheitsarbeiter:innen waren auch weitgehend von der Vertretung am Arbeitsplatz ausgeschlossen. Armin Wiese, Geschäftsführer der NGG Detmold-Paderborn und verantwortlich für das Werk Tönnies, erklärt: „Die Leiharbeiter:innen konnten an der Betriebsrats-Wahl – mit einigen Ausnahmen – nicht teilnehmen. Das führte dazu, dass diese Mitarbeiter:innen nicht als Teil der eigenen Belegschaft angesehen wurden. Dazu kamen Sprachbarrieren, eine große Fluktuation und eine geringe Erfahrung osteuropäischer Beschäftigter in ihren Heimatländern mit Gewerkschaften.
Verschärft wurde die problematische Gesundheits- und Sicherheitslage durch eine geringe Anzahl von Betriebsinspektionen. Kritisiert wird auch, dass solche oft im Voraus angekündigt wurden, um den Arbeitgebern Zeit zur Vorbereitung zu geben.
„Die deutsche Fleischwirtschaft verfolgt eine Lohndumping-Strategie und ist damit sehr erfolgreich. Das gesamte Geschäftsmodell basiert auf billigen Arbeitskräften.“ Thorsten Schulten
Bis in die 1990er Jahre gab es noch Branchentarifverträge, die für die allermeisten Mitarbeiter galt, erklärt Thorsten Schulten, Leiter des Kollektivvertragsarchivs des Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung (WSI). Dann begann die deutsche Fleischindustrie, sich auf Arbeitskräfte aus Osteuropa zu verlassen. Zunächst über bilaterale Quotenvereinbarungen mit einzelnen Ländern, bevor diese durch die EU-Erweiterungen überflüssig wurden.
Die Entsenderichtlinie (aus dem Jahr 1996) gab Arbeitnehmer:innen und Agenturen die „Dienstleistungsfreiheit“ in einem anderen EU-Land unter Beibehaltung des Arbeitsrechts und des Sozialversicherungssystems ihres Heimatlandes. In Ermangelung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland (bis 2015) konnte damit auch der (weitaus niedrigere) Lohnsatz des Entsendelandes gezahlt werden.
Im Jahr 2015 stimmten deutsche Firmen zu, entsandte Arbeitnehmer:inne nicht mehr einzusetzen und sich stattdessen an Subunternehmem mit Sitz in Deutschland zu wenden – nun wurden Wanderarbeiter:innen nach deutschem Recht beschäftigt. Kritiker:innen sagen, dass rechtswidrige Praktiken von Subunternehmen zusammen mit dem Verzicht dieser großen Unternehmen auf Arbeitgeberverantwortung bedeutete, dass man Missbräuche fortsetzte. Schulten ist überzeugt: „Die deutsche Fleischwirtschaft verfolgt eine Lohndumping-Strategie und ist damit sehr erfolgreich. Das gesamte Geschäftsmodell basiert auf billigen Arbeitskräften.“ Seiner Ansicht nach ist die Wiedereinführung von Tarifverhandlungen auf Branchenebene ein entscheidendes Element, um echte Reformen zu erreichen.
Wettbewerb in ganz Europa: Wer die Löhne am stärksten drückt, gewinnt
Aber nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa hat sich dieser negative Prozess entwickelt. Um “wettbewerbsfähig” zu bleiben, startete auch die Fleischindustrie in anderen europäischen Ländern die Vergabe von Unteraufträgen, sagt Enrico Somaglia, stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsverbandes für Ernährung, Landwirtschaft und Tourismus (EFFAT).
Dieser Prozess wurde durch die Entwicklung großer Handelsketten mit größerer Verhandlungsmacht weiter intensiviert. Diese verlangen viel und billiges Fleisch. Bohle verweist in Deutschland etwa auf den Einfluss von Discountern wie Aldi und Lidl und ihren “Schnäppchenpreisen”. Den Druck, Gewinne zu maximieren und die Arbeitskosten zu senken, spüren die Unternehmen, Arbeitnehmer:innen und Gewerkschaften im Fleisch-Sektor auf dem ganzen Kontinent.
https://www.youtube.com/watch?v=zMrZNSQty6s
Deutschland als Magnet für europäische Billiglöhne
Laut dem „Meat-up Ffire“-Bericht, einem EU-finanzierten Forschungsprojekt zur Wertschöpfungskette von Schweinefleisch, haben mehrere andere fleischproduzierende Länder, insbesondere in Nordeuropa, im Vergleich zu Deutschland höhere Arbeitskosten und eine stärkere Tarifbindung in dieser Branche. In Dänemark haben eine sehr hohe gewerkschaftliche Organisationsrate und das Fehlen von Unterverträgen dazu geführt, dass sowohl Einheimische als auch Migrant:innen in Schlachthöfen besser geschützt sind.
Das führte dazu, dass multinationale Unternehmen aus Dänemark (z.B. Danish Crown), Niederlande (z.B. Vion) und Belgien im Laufe der Jahre viele ihrer Einrichtungen nach Deutschland verlegt haben. 2013 gipfelte das in einer formellen Beschwerde der belgischen Wirtschafts- und Beschäftigungsminister über unlauteren Wettbewerb und Sozialdumping bei der Europäischen Kommission.
Erste Reformen in Deutschland, die Gewerkschaft bleibt kritisch
In Deutschland hat der Staat mittlerweile erste Reformschritte gesetzt. Im Dezember 2020 verabschiedete der Bundestag das Arbeitsschutzkontrollgesetz, das die Zulieferung in der Fleischindustrie ab sofort untersagt. Weiters gibt es ein Leiharbeitsverbot seit April 2021 und die Verpflichtung zur elektronischen Arbeitszeiterfassung und Einführung einer Mindestarbeitsplatzkontrollquote.
Die Gewerkschaften haben weiterhin viele Bedenken. Enrico Somaglia erinnert sich:
„2015 haben sich deutsche Unternehmen verpflichtet, keine entsandten Arbeitnehmer mehr einzusetzen. Und im selben Jahr hatten wir die Einführung des Mindestlohns in Deutschland. Und wir dachten alle: ‚Ok jetzt in Deutschland, es ist vorbei. Es gibt keine Ausbeutung mehr.‘ Aber dann fingen sie mit der Vergabe von Unteraufträgen an.“
Man wird sehen, ob die Unternehmen wieder neue Wege finden werden, das neue Gesetz zu umgehen. Das riesige Netzwerk von Vermittlern, das Bohle und Ban untersucht haben, wird sich höchstwahrscheinlich nicht in Luft auflösen. Bohle betont: „Wo diese großen Player sind, besitzen diese Zwischenhändler auch einen Teil der Immobilien, die dann an Wanderarbeiter:innen vermietet werden. Sie können also nicht von dort verschwinden.“
Und die Unternehmen selbst könnten damit beginnen, weitere Einrichtungen in andere Länder zu verlegen. Im September 2020 wurde berichtet, dass Tönnies eine Investition von 75 Millionen Euro in eine neue Schweinefleisch-Verarbeitungsanlage in Spanien plant. Schließlich sind die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie, wie aus alledem deutlich wird, nicht nur ein deutsches, sondern ein europäisches Problem. Letztlich werden europäische Lösungen notwendig sein, ist Bohle überzeugt: „Diese Praktiken werden in anderen Ländern reproduziert, es sei denn, es gibt wirklich eine europäische Neuregelung dieser Arbeitsbeziehungen.“
Europäische Gewerkschaft veröffentlichte „10 Aufforderungen zum Handeln auf EU-Ebene“
Der Europäische Gewerkschaftsverband für Ernährung, Landwirtschaft und Tourismus (EFFAT) hat nun zehn Forderungen für Maßnahmen auf EU-Ebene ausgearbeitet:
2. Ein rechtsverbindliches EU-Instrument, das allen mobilen Arbeitnehmern/innen, die sich im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU bewegen, eine menschenwürdige Unterkunft garantiert.
3. Die dringende Einführung einer Europäischen Sozialversicherungsnummer (ESSN) und die unverzügliche Überarbeitung der Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der sozialen Sicherheit.
4. die beschleunigte Ermächtigung der Europäischen Arbeitsbehörde (ELA), insbesondere im Hinblick auf gemeinsame und konzertierte Inspektionen und den Kampf gegen nicht angemeldete Arbeit.
5. Ein klarer Schwerpunkt der bevorstehenden EU-Initiative zu fairen Mindestlöhnen liegt auf der Stärkung der sektoralen Tarifverhandlungen und der Gewährleistung der Achtung der Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte, einschließlich des Zugangs zum Betriebsgelände und des Vereinigungs- und Tarifverhandlungsrechts.
6. EU-OSHA und andere zuständige Behörden wie das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC), um zu beurteilen, welche anderen Faktoren, abgesehen von bedauerlichen Wohn- und Arbeitsbedingungen, zur Verbreitung von Covid-19 auf dem Gelände von Fleischunternehmen beigetragen haben könnten.
7. Die angekündigte EU-Initiative zur Sorgfaltspflicht soll in ihrem Geltungsbereich sowohl die Untervergabe als auch die Lieferketten abdecken.
Von Bethany Staunton