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Europa

Frankreich: Massenproteste gegen höheres Pensionsalter

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Der französische Präsident Emmanuel Macron will das Pensionsalter um zwei Jahre erhöhen. Doch 72 Prozent der Französ:innen sind gegen die Rentenreform – Tendenz steigend. Seit Mitte Jänner gehen deshalb hunderttausende Menschen auf die Straße und Arbeitnehmer:innen streiken im ganzen Land. Hinzu kommt eine neue Form des Protests: Die Gewerkschaft aus dem Energiesektor versorgte einen Tag lang Schulen, Krankenhäuser und arme Familien mit kostenlosem Strom. Damit wollen die streikenden Arbeitnehmer:innen ihre Macht demonstrieren und die Anhebung des Rentenalters verhindern.

Sie nennen es „Robin Hood Aktion“: Am 26. Januar 2023 verkündet Gewerkschafter Sébastien Menesplier, dass an diesem Tag gratis Strom und Gas für Schulen, Krankenhäuser, Sozialbauten und arme Familien fließe. Bei den Massenstreiks in Frankreich haben etliche Angestellte aus dem Energiesektor demnach nicht nur die Arbeit niedergelegt – sondern die Hebel, an denen sie sitzen, genutzt, um ein Stück soziale Gerechtigkeit zu schaffen. „Wir haben das in einer Generalversammlung kollektiv entschieden“, so Sébastien Menesplier im Fernsehkanal BFMTV. Er ist Vorsitzender der Nationalen Föderation Minen und Energie (FNME) der Gewerkschaft CGT.

„Kleinen Händlern wie Bäckern oder Handwerkern haben wir einen günstigen Tarif gegeben“, verkündete er. Menschen, denen wegen unbezahlter Rechnungen der Strom oder das Gas abgestellt worden ist – „von skrupellosen Anbietern und trotz der Winterzeit“, so Menesplier – erhielten nun wieder Gas und Strom.

„Das ist nur der Anfang“, sagte seinerseits Fabrice Coudour, Generalsekretär der Gewerkschaft CGT-Energie. „Wir können Robin Hood Aktionen zu jedem Moment durchführen.“ Das französische Energieunternehmen EDF ließ eine Presseanfrage von Kontrast unbeantwortet – hat die Schilderungen also weder bestätigt noch verneint.

14 Atomreaktoren von 56 stehen still, Raffinerien und Tankstellen sind überall im Land lahmgelegt, Züge fahren nicht mehr, an Schulen wird nicht unterrichtet und auch in Fabriken, wie etwa denen des Konservenherstellers Bonduelle, haben die Angestellten die Arbeit niedergelegt. Manche streiken nur punktuell an Tagen des Generalstreiks, dessen Auftakt der 19. Januar war. Andere streiken ohne Unterbrechung weiter. Der Druck der Bevölkerung auf die Politik ist enorm – und zeigt auch, dass es mehr um soziale Gerechtigkeit allgemein geht als nur um diese eine Rentenreform. Die nämlich ist der Stein des Anstoßes.

Auslöser der Proteste: Angriff auf eine zentrale soziale Errungenschaft

Es ist genau drei Jahre her – da hatten die Massen auf Frankreichs Straßen mit Streiks sie schon einmal verhindert: die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre. Das Land stand still, das höhere Renteneintrittsalter wurde verhindert. Jetzt ist das Thema wieder auf dem Tisch – und die französische Bevölkerung erneut auf den Straßen. Präsident Emmanuel Macron und Premierministerin Elizabeth Borne wollen das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre erhöhen.

Für einige Nachbarländer mag die Rente mit 64 geradezu idyllisch klingen – in Deutschland etwa liegt das aktuelle Eintrittsalter bei 67, in Österreich bei 65 Jahren. In Frankreich hingegen gilt die Erhöhung auf 64 quasi als Sakrileg. Warum?

Einerseits steht das niedrige Renteneintrittsalter für eine soziale Errungenschaft aus den 80ern unter dem damaligen Präsidenten François Mitterand: Wer diese Errungenschaft angreift, greift in den Augen der Französ:innen die gesamte Sozialpolitik an. Diese wurde von den Regierungen der letzten Jahre stetig abgebaut.

Macrons Regierungen lockerten den Kündigungsschutz, kürzten das Wohngeld – und schafften die Vermögenssteuer ab. Das niedrige Eintrittsalter hat neben dem praktischen Wert – weniger Arbeiten – also auch einen symbolischen.

Altersarmut droht zuzunehmen

Zu berücksichtigen ist auch, dass vielen Menschen mit der geplanten Rentenreform eine noch akutere Altersarmut droht, als ohnehin schon. Menschen, die zum Beispiel mit 60 Jahren den Job verlieren oder wegen körperlicher Leiden arbeitsunfähig werden, finden oft keine neue Arbeit mehr. Sie haben dann aber keinen Anspruch auf einen vollen Rentensatz. Der Staat spart. Die Betroffenen leiden.

Insbesondere Menschen, die in Elternzeit gehen oder zwischendurch mal arbeitslos waren, werden von dieser Reform bestraft – weil diese Jahre nicht gezählt werden. Dann im Alter werden diese Jahre entweder in Form von noch mehr Jahren Arbeitszeit draufgeschlagen – oder die Rente fällt eben besonders niedrig aus. Da Frauen immer noch öfter und länger in Elternzeit gehen als Männer, würde die Reform die Ungleichheit weiter verschärfen.

Die Gewerkschaft CGT plädiert stattdessen für höhere Beitragszahlungen von Berufstätigen – aber vor allem von börsennotierten Unternehmen.

„Zur Erinnerung: 2022 haben die 40 führenden Aktienfirmen in Frankreich 80 Milliarden Euro Gewinn gemacht – ein nie da gewesener Höhepunkt!“, heißt es in einem Papier des CGT. Dass das fehlende Geld bei Superreichen und Unternehmen geholt werden könnte, ist eines der Hauptargumente der Gegner:innen der Rentenreform.

Trotz Verhaftungen: Über eine Million Menschen demonstrierten

Am 19. Januar 2023 kamen landesweit über eine Million Menschen auf die Straße. Die nächste Großmobilisierung soll am 31. Januar erfolgen. In der Zeit dazwischen schläft der Protest allerdings nicht – im Gegenteil. An vielen Abenden wanderten in mehreren Städten – Paris, Strasburg, Nantes – Menschen mit CGT-Fahnen und in Fackelzügen durch die Städte. Auch ein paar Hundert Gelbwesten zogen an ihrem traditionellen Samstag wieder los.

Die polizeiliche Repression lässt derweil nicht auf sich warten. Videos von der Massendemonstration am 19. Januar zeigen Bilder von Polizeigewalt. Aber auch abseits dessen gibt es zweifelhafte Einsätze. An zahlreichen Universitäten in ganz Frankreich kommen aktuell Studierende zusammen, um sich gegen die Rentenreform zu organisieren. Dazu finden in Hörsälen „Generalversammlungen“ statt. In Strasburg und Paris auf dem Condorcet Campus wurden solche Generalversammlungen von der französischen Bereitschaftspolizei (CRS) gestürmt. 29 Studierende wurden am 22. Januar in Paris festgenommen und mussten 22 Stunden in U-Haft ausharren, ohne Essen und Trinken. In beiden Fällen haben die jeweiligen Universitätsdirektoren die polizeiliche Stürmung der studentischen Generalversammlung angeordnet.

„Sie wollen verhindern, dass die Studierendenproteste sich strukturieren, dass die Studenten sich organisieren“, sagt eine junge Frau namens Erelle auf Twitter – sie ist Teil des antikapitalistischen Studierendenkollektiv „Erhobene Faust“ („Poing levé“).

Regierung will Gesetz ohne parlamentarische Zustimmung durchsetzen

Auf parlamentarischer und parteipolitischer Ebene steigt indessen die Anspannung. Jedes Lager zieht alle verfügbaren Register. Die Regierung will das Gesetz entweder als 49-3 durchbringen – ein Paragraph, der das Durchsetzen eines Gesetzes ohne parlamentarische Abstimmung erlaubt. Oder aber das Gesetz wird als rein finanzielles Projekt durchgesetzt. Beide Paragraphen ermöglichen ein „Vorbeiregieren“ am Parlament, ohne Abstimmung. Viele kritisieren das Vorgehen als zutiefst undemokratisch.

In der Opposition bereitet man sich derweil von Rechts und Links auf Widerstand vor. Sowohl das Linksbündnis Nupes als auch das rechtsextreme „Rassemblement National“ wollen einen Referendumsantrag stellen – also die Französ:innen über die Reform abstimmen lassen. Die Krux: Es darf nur ein einziger Antrag gestellt werden. Rechtsextreme und das Linksbündnis müssen sich also auf einen Antragstext einigen, oder sich zumindest dem Text des Gegners per Votum anschließen. Ein Schulterschluss, den die linke Nupes-Fraktion für unvertretbar hält. Nun bleibt die Frage, ob die Rechtsextremen den Antrag der linken Gegner unterstützen werden.

Wenn das passiert, ist es allerdings weiterhin unwahrscheinlich, dass es tatsächlich zu einem Referendum kommt – denn letztlich braucht es dazu die endgültige Zustimmung des Präsidenten. Für den wäre das ein kompletter Gesichtsverlust. 72 Prozent der Französ:innen sind laut Umfragen gegen die Rentenreform – Tendenz wöchentlich steigend. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Macron ein solches Referendum zulässt.

Trotzdem steigt der Druck auf die Regierung. Denn die Streiks bringen nicht nur die Menschenmassen auf die Straßen, sondern verursachen auch ganz reale wirtschaftliche Schäden. Insbesondere, wenn Benzin und Energiesektoren stillstehen, kommt die Wirtschaft in die Bedrouille. Die nächste Großmobilisierung ist für den 31. Januar angesagt. Doch die französische Bahn-Gewerkschaft CGT-Cheminots kündigt jetzt schon an, ab Mitte Februar in einen unbefristeten Streik zu treten. Der Kampf um die Rentenreform wird auch einer der Ausdauer sein.

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Bernd
Bernd
7. Februar 2023 09:40

»Massenproteste gegen höheres Pensionsalter«
Tragisch, dass einmal öfter, ein anderes Land für den Freiheitskampf gegen Industrie und Politik herhalten muss – für alle Europäer. Und genau deshalb ist das Projekt zum Scheitern verurteilt. 

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