Die Mittelmeergrenze ist die tödlichste Außengrenze auf der ganzen Welt. Auf unseren Urlaubsinseln entstehen erbärmliche Internierungslager. Katharina Stemberger sorgt sich um die Entwicklung einer Gesellschaft, die es duldet, dass die Allerärmsten im Dreck versinken oder gar im Meer ertrinken. KONTRAST hat mit der Schauspielerin über ihr soziales und künstlerisches Engagement gesprochen.
Katharina Stemberger ist Schauspielerin, Filmemacherin und Coach. Sie engagiert sich als Vorstandsvorsitzende des Integrationshauses und ist Mitbegründerin der Initiative “Aktion Courage”. Sie lebt mit ihrem Mann und einer Tochter in Wien.
In einigen Ihrer Filmprojekte beschäftigen Sie sich mit Flucht. Sie sind Vorstandsvorsitzende vom Integrationshaus. Warum liegt Ihnen das Thema Flucht so am Herzen?
Es geht mir auf der einen Seite um Menschen auf der Flucht, aber auch um die Entwicklungen in einer Gesellschaft, die mich an ganz andere Zeiten erinnert. Was wir hier verhandeln, hat mindestens so viel mit uns zu tun, wie mit den Menschen, die skandalöserweise im Dreck versinken.
Im Oktober 2013 sind 300 Menschen vor Lampedusa ertrunken. Damals ist die ganze europäische politische Hautevolee dort hingefahren, ist vor diesen 300 Särgen gestanden und hat gesagt: „Wir müssen alles dafür tun, dass so etwas nicht wieder passiert.“ 2014 waren Europawahlen und die Verantwortlichen haben gesagt: „Na, wir thematisieren es lieber nicht, wir haben Angst vorm Rechtsruck“. Sie haben es nicht thematisiert – und es kam ein Rechtsruck.
Die Mittelmeergrenze ist laut Migrationsforschern die tödlichste Außengrenze auf der ganzen Welt. Dort ertrinken täglich Menschen und die Politikerinnen und Politiker in Europa und in unserem Land haben es geschafft, dass wir alle glauben, dass das nichts mit uns zu tun hat. Es passiert aber in unserem Namen. Es werden uns Bilder von Menschen gezeigt, die an unsere Ufer geschwappt werden. Tot. Kinder. Und wir tun nichts. 2016 hieß es noch: “Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.” Mittlerweile versuchen sie, dass wir die Bilder gar nicht mehr sehen, denn sonst würden wir am Ende menschlich reagieren.
Sie haben mit Kolleginnen und anderen Prominenten im September die Aktion „Courage – Mut zur Menschlichkeit” gegründet und gefordert, unter dem Hashtag#144, Menschen aus dem abgebrannten Lager Moria aufzunehmen. Was ist daraus geworden?
In der großen Fluchtbewegung 2015 haben die Menschen in unserem Land einfach so reagiert, wie man reagiert: Jemand ist in Not und man hilft. In den letzten Jahren ist in der Bevölkerung eine Stimmung erzeugt worden, die da heißt: „Es geht uns nichts an und wir haben ja eh schon so viel getan.“ Gewissermaßen stimmt das auch: Das ist die achte oder neunte große Fluchtbewegung seit 1945. Das heißt: Wir sind gut darin, einen Beitrag zu leisten.
Worum es mir geht, ist, angesichts dieser menschlichen Katastrophen Erste Hilfe zu leisten. Deswegen ist unsere Forderung „144“, wie die Rufnummer der Rettung. Wenn wir nicht 144 Menschen aus vulnerablen Gruppen aufnehmen können, dann zweifle ich an Vielem in diesem Land. Wir haben eine Landkarte der Menschlichkeit, eine Landkarte der sicheren Plätze gezeichnet. Also Betreuungsplätze in ganz Österreich für geflüchtete Menschen um zu zeigen:
„Österreich hat schon so viele Menschen aufgenommen und kann nicht mehr“, das ist einfach schlichtweg nicht wahr. Wir haben über 3.000 Plätze identifizieren können. Das hat nichts mit der Romantik des Gutmenschen zu tun, sondern das sind professionell aufgestellte Plätze, geschaffen von Freiwilligen, die sagen: “Wir haben in den letzten fünf Jahren unglaublich viel Erfahrung gesammelt, wir können das, wir wollen das – und man lässt uns nicht.”
Die 3.000 sicheren Plätze sind also nicht leere, freie Kinderzimmer bei jemandem daheim?
Nein. Die Plätze sind von der Diakonie, vom Roten Kreuz, der Caritas, der Volkshilfe. Uns war es wichtig, dass man den Menschen, die sagen „I fiacht mi vor Fremden“, „I mog des Fremde net so gern“, nicht 300 Leute in einem kleinen Dorf vor die Nase setzt. Im Gegenteil: Unser Konzept ist gut aufgeteilt, gut überlegt, gut vorbereitet. Das ist das Gegenteil von dem Chaos, das so gern zitiert wird. Chaos entsteht dann, wenn wir nichts tun. Dann sind wir konfrontiert mit LKWs mit 70 Leichen. Wenn man das nicht will, dann muss man einen Beitrag leisten. Wir können weder die Kriege beenden, noch Naturkatastrophen. Wir sind ein kleines Land, aber wir können uns auf die Seite der Willigen stellen und sagen: „Wir haben da eine Mitverantwortung.“
Ich finde es sehr schade, dass die Regierungen der letzten Jahre sich in diesem Punkt scheinbar einbetoniert haben. Und ich glaube nicht, dass es tatsächlich der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung entspricht, Kinder im Dreck und in der Kälte liegen zu lassen. Das ist nicht das, wofür wir bekannt sind.
Sind das die christlichen Werte der Nächstenliebe, der Mitmenschlichkeit und – und das ist ja hier die eigentliche Frage – der Barmherzigkeit?
Apropos Bundesregierung: Hat sie Ihr Angebot angenommen, die 3.000 Plätze?
Nein, mit uns hat keiner geredet.
Kein Termin, kein Gespräch, nichts?
Nein.
Ich engagiere mich seit Monaten mit Freunden und investiere viel Zeit. Und ich wäre froh, wenn politische Vertreter und Vertreterinnen sich dieser menschlichen Katastrophe auf europäischem Boden lautstark annehmen würden. Ich höre viel von privaten Meinungen, aber kaum jemand macht den Mund auf. Die Karte mit der Fremdenfeindlichkeit hat Jörg Haider begonnen auszuspielen, wann immer es politisch opportun war und er hat viele Nachahmer gefunden! Zu schweigen heißt leider sehr wohl zuzustimmen. Und dieses Gift breitet sich in unserer Gesellschaft aus… wenn wir nichts dagegen tun.
Auf der ganzen Welt werden Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, weil sie zu Hause nicht mehr leben können. Ein relativ kleiner Teil schafft es bis vor die Tore Europas. Und wir schauen zu, wie auf den Inseln, wo wir gerne Urlaub machen, Internierungslager entstehen, und Menschen vor unseren Augen täglich ersaufen und erfrieren, dann frag ich mich: Was werden wir unseren Enkeln erzählen?
Ich verstehe nicht, wie sich irgendein politisch Verantwortlicher vor dieser Frage wegduckt. Denn damit geht das Problem nicht weg. Ob das jetzt mehrheitsfähig ist oder nicht:
Wenn wir keine Lösungen für das große Thema Flucht gemeinsam entwickeln, wenn wir uns dem Thema nicht stellen, dann riskieren wir den Frieden.
Man findet Sie auf dem Gedenken zum Novemberpogrom in Wels, beim Fest der Freude am Heldenplatz. Sie sind ja mannigfaltig engagiert. Hat Ihnen das im Beruf auch Nachteile gebracht?
Sagen wir mal so: Ich war nie jemand, der den Mund halten konnte. Und ich befürchte, es hat mir mehr Nachteile als Vorteile gebracht. Leute, die sagen, was sie wollen oder was sie denken, Menschen die sagen: „Da geh ich jetzt nicht mit“, machen sich’s meistens nicht leichter.
Mussten Sie das oft sagen im Beruf?
Ja.
Sie haben in Interviews gesagt, dass Sie es sich nicht leisten könnten, nicht politisch zu sein. Wie meinen Sie das?
Ich würde mich sofort korrigieren! Ich glaube, dass kein Mensch unpolitisch ist, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Politik sind die Verabredungen und Regeln, mit denen wir versuchen, miteinander zurecht zu kommen. Und dazu gehören Haltungen, Weltanschauungen, Visionen, Wünsche, Ängste, Bedürfnisse. Und das hat jeder Mensch, ob er es weiß oder nicht. Deswegen glaube ich, dass jeder Mensch politisch ist. Und ich glaube, dass auch Kunst nicht unpolitisch ist.
Bereuen Sie Ihre Entscheidungen deshalb?
Nein. Ich kann mich ja nicht gegen mich selbst wehren. Wissen Sie, ich hab grad heute mit einer Freundin darüber gesprochen, wie wir uns das Leben mit Anfang 20 vorgestellt haben. Was für Vorstellungen wir hatten und wie wir dachten, dass eine Karriere aussieht, ein Leben, Glück, Erfüllung und so. Und dann ist man 50 und dann schaut man irgendwie zurück und denkt sich: „Lustig, das ist ganz anders gegangen“.
Wie geht es der Kunst im Lockdown?
Mit meinem Mann konnte ich ein sehr tolles Projekt abschließen. „Sprich mit mir/Talk to me“ – das sind Gespräche zwischen Zeitzeugen und ihren Enkeln. Marco Feingold, Rudi Gelbard, Käthe Sasso, Richard Wadani und viele mehr durften wir im Gespräch mit deren Enkelgeneration begleiten. Aber in unserer 15 teiligen Serie kommen nicht nur jüdische Opfer, oder Widerstandskämpferinnen zu Wort sondern auch Mitläufer, Sudetendeutsche und Kärntner Slowenen.
Mein Mann wollte die Zeitzeugen nicht klassisch in eine schwarze Box setzen und auch nicht bei ihnen zu Hause filmen. Wir haben sie in ein Zugabteil gesetzt. Wir haben bei der ÖBB ein 2. Klasse-Abteil ergattert und es in einem Filmstudio aufgebaut. Und während die Landschaft vorbeizieht sprechen die Großeltern mit ihren Enkeln. Unser ältester Gesprächspartner war 104 und die Jüngste zwölf.
Katharina Stemberger spricht im Interview neben ihrem Engagement auch über die Arbeit und das Glück. Aus Platzgründen finden Sie den zweiten Teil hier.
https://www.youtube.com/watch?v=LERc_XNejUk
Liebe Damen und Herren,
es wird in unserem Land immer kälter und kälter.
Fritz Gurgiser