Österreich ist das drittreichste Land der EU, gibt aber weit weniger für Kindergesundheit aus als der EU-Schnitt. Kinder und Jugendliche müssen oft Monate auf Behandlungen warten, manchmal finden sie gar keinen Betreuungsplatz. Dabei könnte rasche Hilfe viel retten im Leben der Kinder, wie der Leiter des Sozialpädiatrisches Ambulatorium in Wien Favoriten, Dr. Klaus Vavrik, erklärt. Unbehandelte Entwicklunsgdefizite können dagegen schwere Störungen im ganzen Leben zur Folge haben. Wer bei der Behandlung in der frühen Kindheit spart, muss mit deutlich höheren Folgekosten rechnen, sagt Vavrik im Interview mit Isabel Frey.
kontrast: Wann und weshalb kommen Kinder zu Ihnen?
Vavrik: Zu uns kommen Kinder mit verschiedensten Entwicklungsstörungen – alles was in irgendeiner Entwicklungsachse wie Sprache, Motorik, Denken oder Verhalten ein Problem darstellt. In einem Jahr kommen etwa 1.200 Kinder zu uns kommen. Das Problem ist, dass es eine totale Unterversorgung gibt – einen Riesenmangel. Das bedeutet, wir bekommen nur die zu Gesicht, die einen Platz ergattert haben. Wie viele Kinder in Österreich noch Versorgung bräuchten, wissen wir gar nicht. Dazu gibt es auch keine guten Untersuchungen.
kontrast: Wie bekommen Sie in ihrer Arbeit diese Unterversorgung zu spüren?
Vavrik: Durch die vielen Anrufe und Anmeldeformularen. Wenn man die Eltern dann anruft und ihnen sagen muss, dass man ihrem Kind keinen Platz anbieten kann, ist es oft hochemotional. Ich habe öfters weinende, verzweifelte Eltern am Telefon, die sagen: „Ich habe schon überall angerufen, ich hab’ ja schon halb Wien gefragt und nirgendswo gibt es einen Platz für mein Kind.“ Das ist oft wirklich schwer zu ertragen. Die meisten Ambulatorien unserer Art haben den großen Teil des Jahres einfach die Aufnahme gesperrt, weil sie sonst dem Druck von außen nicht standhalten können.
kontrast: Immer wieder hört man von langen Wartezeiten. Wie lange muss man bei Ihnen auf Versorgung warten?
Vavrik: In Zeiten der Aufnahmesperre muss man überhaupt warten, bis es wieder offen ist. Sonst wartet man so zwischen drei und vier Monaten auf einen Ersttermin. Bei den Therapieangeboten wie Logopädie, Ergotherapie oder Psychotherapie muss man dann schon mit einem dreiviertel Jahr bis Jahr rechnen. Diese Wartezeiten sagen aber wenig über den tatsächlichen Bedarf. Würden wir Kinder laufend aufnehmen, hätten wir wahrscheinlich drei Jahre Wartezeit. Aber durch die Sperren dazwischen und die Filtersysteme halten wir sie kürzer.
Bei Autismus, zum Beispiel, da haben wir derzeit etwa 70 Kinder in Betreuung. Damit ist der Plafond absolut voll – da können wir nur mehr Nein sagen. Da gibt es jetzt auch keine Warteliste, weil da unsere Kapazität wirklich völlig erschöpft ist.
kontrast: Was hat das für Konsequenzen für einzelne Kinder, wenn sie nicht rechtzeitig einen Platz bekommen?
Vavrik: Schlimme Konsequenzen. Ich hatte gestern grad wieder ein Kind mit 18 Monaten und einer deutlichen Entwicklungsverzögerung – die mobile Frühförderung, die ich angefragt habe, hat sieben bis acht Monate Wartezeit. Wenn das Kind in diesem wichtigen Zeitraum monatelang keine Beratung und keine Versorgung bekommt, dann führt das wirklich zu erheblichen Folgen und Benachteiligungen im späteren Leben.
Die früh gelernten Muster sind die Basis, und wenn da die Sprachentwicklung oder die Spielentwicklung nicht gut auf den Weg kommt, dann vergeht ein ganz wichtiges Entwicklungsfenster. Das ist dann auch nicht mehr aufholbar ist. Ein unbehandeltes Entwicklungsdefizit kann oft schwere Störungen in das ganze Leben hinein bedeuten.
kontrast: Was sind die gesellschaftlichen Folgen dieses Mangels?
Vavrik: Die Folgen sind deutlich höhere Gesundheitskosten in der späteren Versorgung. Das ist ja immer das Absurde daran: Man glaubt, man kann das System billig halten, indem man bei den Angeboten in der frühen Kindheit spart. Genau das Gegenteil ist der Fall: da werden Störungen manifest, und später wachsen sie sich wirklich zu Krankheiten aus. Die belasten dann nicht nur das Gesundheitswesen, sondern auch das Bildungswesen. Das sind Kinder, die dann Lernschwierigkeiten haben, verhaltensauffällig sind und nicht im Regelschulsystem funktionieren. Das belastet später auch den Arbeitsmarkt und Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen, die es dann braucht, weil die Selbstständigkeit nicht entwickelt worden ist.
Gerade bei Autismus wissen wir, dass frühe Therapie manchmal derartig gut funktioniert, sodass zwei, drei Jahre später die autistische Symptomatik im Schweregrad massiv abgenommen hat. Und ob das später einmal Menschen werden, die sich selbst versorgen können, berufstätig sein und ein Sozialleben führen können, oder ob das Menschen werden, die beträchtliche Betreuung brauchen. Das sind riesige volkswirtschaftliche Unterschiede. Es würde sich also enorm rechnen.
Das sagen auch alle Ökonomen völlig einheitlich: Prävention in der frühen Kindheit ist der höchste ökonomische Positivfaktor den es gibt. Keine Aktie bringt so viel Rendite wie die frühe Prävention.
kontrast: Wie sieht es in anderne Ländern im Bereich der Kindergesundheit aus? Wie steht Österreich im Vergleich da?
Vavrik: Wir haben es einmal mit dem Versorgungsniveau in Deutschland verglichen und da rechnet man, dass in Österreich im Vergleich rund 80.-100.000 Therapieplätze fehlen. Ein paar Details: Wien hat zum Beispiel kein einziges Autismus Therapiezentrum für Kinder – Hamburg hat vier. Wien hat fünf niedergelassene Kinderpsychiater auf Krankenschein – Hamburg hat 43. Dabei haben die beiden Städte ähnlich viele Einwohner und sind gut vergleichbar. Und dort wird absolut kein Luxus angeboten, sondern das, was notwendig ist.
Österreich ist das drittreichste Land der EU, und trotzdem sind wir bei den Ausgaben für Kindergesundheit weit abgeschlagen. Der EU-Durschnitt liegt bei 6,4 Prozent der Gesundheitsausgaben, Österreich bei 5,8 Prozent – also deutlich unter dem EU-Schnitt. Länder, die das ernster nehmen, wie zum Beispiel Großbritannien, liegen bei 8 bis 9 Prozent. Die geben fast das Doppelte für Kindergesundheit aus wie Österreich. Und die machen das nicht nur aus Humanismus, sondern weil sie wissen, dass es vernünftig ist.
kontrast: Was lief da falsch von Seiten der Politik?
Vavrik: Es heißt immer wieder: „Kinder haben keine Lobby“. Das stimmt so nicht ganz, weil dauernd im Namen der Kinder „immer nur das Beste für das Kind“ verkündet wird. Aber wenn es um konkrete Maßnahmen geht, ist dann absurderweise niemand zuständig. Zwischen Ländern, Sozialversicherung und Gesundheitsministerium wird es ständig dem anderen zugeschoben. Das Gesundheitswesen schiebt es dann auf das Bildungswesen und das schiebt es wiederum auf das Sozialwesen. Wer ist für die frühe Kindheit mit ihren Gesundheitsgefährdungen – nicht den Krankheiten, sondern den Gefährdungen – zuständig? Das ist in Österreich ein Riesenproblem.
Dazu kommt, dass Österreich bis heute großteils auf die technisierte Medizin spezialisiert ist. Also ein Blinddarmdurchbruch oder ein Asthmaanfall werden rasch und auf hohem Niveau versorgt. Die Prävention hingegen hatte nie ein besonderes Image, ist nie ausreichend gefördert worden und hat daher auch keine Kultur entwickelt. Laut dem OECD Bericht liegen wir an einer der untersten Stellen im Bereich der Kindergesundheit, weil dieser Bereich einfach von der Politik nicht ernst genug genommen worden ist.
kontrast: Wo müsste die Politik ansetzen, um eine gute Kindergesundheitsversorgung zu garantieren?
Vavrik: Letztendlich bräuchte es aussagekräftige Daten, mehr Investition in die Prävention und eine bedarfs-gerechte Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Und um das gut umsetzten zu können, braucht es eine ressortübergreifende Gesundheitspolitik. Als Beispiel: Armut fällt in den Bereich des Sozialministeriums, aber wir wissen, dass Armut einer der größten gesundheitsschädlichen Faktoren ist. Gesundheit muss als ein gemeinsames Aufgabengebiet gesehen werden, das auch dementsprechend aus einer Hand finanziert wird.
Prim. Dr. Klaus Vavrik ist Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeut. Derzeit leitet er Ambulatoriums für Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie Fernkorngasse. 2007 bis 2016 war er Präsident der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit.