In Österreich sind schon über 700.000 Menschen erwerbstätig, die keine Staatsbürgerschaft haben. Wieso zahlen diese Menschen Einkommenssteuer und Sozialversicherungsbeiträge, dürfen aber über die Verwendung des Geldes politisch nicht mitbestimmen? Und wie sollen sich Leute als Österreicher fühlen und sich mit der Republik identifizieren, wenn sie Bürger zweiter Klasse sind? Wer eine gewisse Anzahl an Jahren durchgehend in Österreich gelebt hat oder sogar hier geboren ist, muss politisch mitbestimmen können.
Wieso es ungerecht ist, Menschen nur arbeiten aber nicht mitbestimmen zu lassen, erkläre ich in „Kowall redet Tacheles”, Folge 18:
Das nachfolgende Transkript des Videos entstammt dem Blog von Nikolaus Kowall:
Wenn ich in Wien einen Installateur brauche, kommt ein Kroate, wenn ich Essen bestelle, bringt es ein Araber. Der Friseur ist ein Türke, die Reinigungskraft eine Rumänin. Beim Spar sitzt an der Kassa ein Serbe, das Amazon-Paket bringt ein Afghane und der Caffè Latte wird von einer Deutschen serviert. Meine Oma pflegt eine Slowakin und das Internet installiert mir eine polnische Technikerin. Ist das nur mein subjektiver Eindruck?
Reden wie einmal Tacheles
Sage und schreibe 45 Prozent der Erwerbstätigen in Wien haben Migrationshintergrund. Viele sind in Österreich geboren und einige sind österreichische Staatsbürgerinnen. Das ist in anderen österreichischen Großstädten ähnlich. In ganz Österreich sind eine Million Menschen mit Migrationshintergrund erwerbstätig. Also damit wir uns das vergegenwärtigen: Fast jede vierte Erwerbstätige mit Wohnsitz in Österreich hat Migrationshintergrund und in den Großstädten schon bald jeder zweite. Wie wichtig der Zuzug für die Arbeitswelt ist dämmert den Bewohnerinnen der Großstädte zumindest unterbewusst. In Wien machen den Großteil der Hacke, die außerhalb vom Büro stattfindet Menschen mit Migrationshintergrund. Und das nicht erst seit gestern.
Eine große Vielfalt in der Arbeitswelt ist aber nicht nur in Wien längst selbstverständlich. Meine Freunde in meiner niederösterreichischen Herkunftsgemeinde Hainfeld wird vielleicht überraschen, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund bei einem Hainfelder Unternehmen arbeiten. Freundlicherweise wurde mir die Daten einer Bau- und Transportfirma mit 267 Beschäftigten zur Auswertung überlassen. Wenn man Staatsbürgerinnen mit ausländischen Wurzeln, Einpendler aus den Nachbarländern und Ausländerinnen mit Wohnsitz in Österreich zusammenzählt, haben bei dieser Firma 101 Menschen Migrationshintergrund. Das ist natürlich eine Gruppe die wenig Gemeinsamkeiten hat. Eine geborene Hainfelderin ohne Staatsbürgerschaft teilt mit ihren ehemaligen Hauptschulkollegen eine ganze gemeinsame Jugendzeit und hat mit einem slowakischen Einpendler genauso wenig gemeinsam wie die anderen. Dennoch hat mich die Zahl erstaunt: In einer 4.000-Seelen Gemeinde im Herzen Niederösterreichs kann es vorkommen, dass bei einer Firma bald vier von zehn Beschäftigte Migrationshintergrund haben.
Politisch brisant ist nun, dass von diesen 101 Menschen mit Migrationshintergrund, nur 28 österreichische Staatsbürgerinnen sind. Das heißt im Umkehrschluss, die anderen haben in Österreich keine politische Mitbestimmungsmöglichkeit. Nun, für die 13 Einpendler ist das vielleicht kein Drama, die haben ihren Lebensmittelpunkt ja im Ausland. Da bleiben aber immer noch 60 Personen, die in Österreich leben, aber von der politischen Teilhabe ausgeschlossen sind. Die simple Frage lautet: Wieso zahlen diese 60 Beschäftigten einer niederösterreichischen Firma Einkommenssteuer, Umsatzsteuer, Mineralölsteuer und Sozialversicherungsbeiträge, dürfen aber über die Verwendung dieser Mittel nicht mitbestimmen? Weil, nur wenn du ein Wahlrecht hast, kannst du zwischen Parteien wählen, die Steuermittel eher für den Ausbau der Pflege verwenden möchten, oder für thermische Sanierung, oder sich für eine Steuersenkung stark machen.
Es ist hochgradig ungerecht, einen erheblichen Teil der Bevölkerung nur arbeiten, nicht aber mitbestimmen zu lassen. No Taxation, without representation! Also keine Besteuerung ohne politische Mitbestimmung. Das war eine Parole im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg vor 250 Jahren. Und die Frage wird auch für Österreich immer bedeutsamer, weil die Anzahl der Erwerbstätigen ohne Mitspracherecht ständig wächst. In ganz Österreich sind es schon 700.000 Menschen. Hinzu kommen etliche Pensionistinnen aus der Gastarbeiterzeit, die ihr Berufsleben schon hinter sich haben. Und natürlich noch viele in Österreich geborene Menschen ohne Staatsbürgerschaft, die in Ausbildung sind.
Insgesamt leben in Österreich bereits 1,1 Mio. Menschen im wahlfähigen Alter, die kein Wahlrecht besitzen. In Wien ist es bald schon jeder dritte. Die Anzahl der Wahlberechtigten ist bisher von Wahl zu Wahl angestiegen. Bei den letzten Nationalratswahl 2019 waren aber erstmals seit Jahrzehnten weniger Menschen wahlberechtigt als bei den vorangegangenen Wahlen. Die Anzahl der Wahlberechtigen wird auch in Zukunft weiter sinken, obwohl die Bevölkerung wächst. Weil unter den Jungen viel mehr Menschen ohne Staatsbürgerschaft sind als unter den Alten. Das bedeutet auch, die ältere Generation wird zunehmend stärker über die Zukunft der Jungen bestimmen. Dieses Ungleichgewicht des politischen Einflusses zwischen den Generationen wird immer ärger. Die Einbindung der jüngeren Generationen mit Migrationshintergrund in den politischen Prozess ist also dringend angebracht. Denn wie sollen sich Leute als Österreicher fühlen und sich mit der Republik identifizieren, wenn sie Bürger zweiter Klasse sind? Wer eine gewisse Anzahl an Jahren durchgehend in Österreich gelebt hat oder sogar hier geboren ist, muss politisch mitbestimmen können.
Einige fragen sich, ob eine Ausweitung des Wahlrechts religiös-radikale Parteien mit sich bringen könnte. Dafür ist einmal wichtig zu wissen, dass den größten Teil der ausländischen Staatsbürger Deutsche, Osteuropäer und Menschen aus der Türkei und Ex-Jugoslawien ausmachen. Der Großteil gehört also keiner radikal-religiösen oder politischen Gemeinschaft an.
Doch es stimmt, die Formierung einer konservativ-religiösen Gruppe, die es in einen Gemeinderat, womöglich sogar in den Wiener Landtag schafft, ist nicht ausgeschlossen. Interessant ist dabei, dass auch die ÖVP ihre Wurzeln im christlich-sozialen Milieu hat, das seinerzeit ebenfalls stockkonservativ und religiös war. Der erste christlich-soziale Bundeskanzler Österreichs war sogar ein Priester. Durch die demokratische Einbindung hat sich die ÖVP nach 1945 aber stark säkularisiert und ist eine normale demokratische Kraft geworden – also zumindest bis zu ihrer türkisen Umfärbung. Die Einbindung in die Demokratie führt in aller Regel zur Mäßigung von religiösen Kräften.
Außerdem treten Parteien ja in einen Wettbewerb ein, um Stimmen von überall her zu erhalten. Etwa indem sie bessere Bedingungen für Gewerbetreibende bieten, oder bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte oder bessere Bildungschancen für Kinder. Womöglich überwiegen diese Aspekte für viele konservativ-religiöse Menschen dann bei der Wahlentscheidung. Umso mehr man das konkrete Leben verbessern und gestalten kann, umso weniger religiöse Bindung braucht es. Damit demokratische Parteien diese Aufgabe wahrnehmen können, ist aber eine Einbindung aller hier lebenden Menschen in die Demokratie erforderlich.
Alle Zahlen, Fakten und Quellen zu dieser Sendung findet ihr bei meinem Kooperationspartner, dem Jahoda-Bauer-Institut. Wenn ihr genauer über meine Tätigkeiten informiert sein möchtet, dann meldet euch auf kowall.at für meinen Newsletter an. Wenn ihr meine Videoserie unterstützen wollt, dann teilt, liked oder folgt mir. Ihr könnt das auch auf meiner Webseite, mit einer Spende machen. Danke für eurer Interesse!