Wirtschaft und Finanzen

Innovations-Ökonomin Mazzucato: „In Zeiten von Corona werden Patente zu einem kriminellen Akt“

Mariana Mazzucato und staatliche Innovation sind in der vergangenen Jahren zu einem untrennbaren Paar geworden. In ihrem Bestseller „Das Kapital des Staates“ untersucht sie, wie viel Staat in iPhone und Co. stecken. In „Wie kommt der Wert in die Welt?“ kommt sie zu dem Schluss, dass das kurzfristige Handeln der Finanzmärkte wenig zur Wertschaffung beiträgt und ihn ihrem aktuellen Buch „Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft“ zeigt sie, wie Mission-Thinking einen starken und smarten Staat schaffen. Nun ist sie mit dem Kurt Rothschild-Preis im Renner Institut ausgezeichnet worden. Kontrast.at nutze die Chance für ein Interview mit der Star-Ökonomin.

Zur Person
Mariana Mazzucato ist eine italienisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin. Seit 2017 ist sie Professorin für Economics of Innovation and Public Value am University College London. Dort ist sie auch die Gründerin und Direktorin des Institute for Innovation and Public Purpose.

Mariana Mazzucato: „Es gibt keine Innovation ohne den Staat“. Habe ich Sie richtig verstanden? 

Nun, man kann ohne den Staat dumme Innovationen hervorbringen, aber keine sinnvolle Innovation, die große gesellschaftliche Probleme angeht. Wir brauchen den Staat. Doch das ist der Punkt, an dem die Dinge oft missverstanden werden. Ich sage nicht, dass der Staat alles machen muss. Aber es ist die Aufgabe des Staates, eine klare Richtung vorzugeben, und er muss alle seine Instrumente einsetzen, um das Ziel zu erreichen. Das sind auch politische Zuschüsse, Rettungspakete, Rückzahlungsdarlehen von öffentlichen Banken  – auch die können die Innovation fördern. 

Nun haben wir zwei zentrale Probleme.

Erstens das Fehlen von Zielen. Wenn man Politiker hat, die keine Visionen haben und im Grunde nur wiedergewählt werden wollen. 

Das zweite Problem ist, dass auch wenn Politiker zum Beispiel an einem „Green New Deal“ interessiert sind, sie nicht missionsorientiert denken. Dann werden die Innovationen werden nicht katalysiert. Wie ich in meinem Buch „Das Kapital des Staates“ beschrieben habe, stammen das Internet, GPS, Touchscreens, Siri – all diese Innovationen – von problemorientierten Organisationen des Staats. Die DARPA, die Militär-Forschungsorganisation in den USA, investierte in Dinge wie das Internet, weil sie ein Probleme zu lösen hatten. In diesem Fall die Kommunikation zwischen Satelliten. Das Internet war die Lösung. Als die Marine GPS finanzierte, hatte sie ihre Schiffe im Sinn, nicht Google Maps oder Uber, die es ohne GPS nicht gäbe. Dafür waren sowohl Investitionen des öffentlichen als auch des privaten Sektors erforderlich, aber es waren hauptsächlich öffentliche Maßnahmen, die die Innovation auslösten.

Auch heute brauchen wir mutige Staaten, die große Fragen stellen. Wir brauchen missionsorientiertes Denken, nicht im Militär, sondern um eine soziale Mission zu entwickeln.

In Ihrem Buch „Mission“ wird die Mondlandung näher beleuchtet. In einigen Kapiteln Ihres Buches geht es mehr um Management und Politiken, als um klassische Wirtschaft. Ist dieses Buch Ihr „Praxisleitfaden für staatliche Innovationen“?

Wie ein Rezeptbuch. Aber es richtete sich nicht in erster Linie an politische Entscheidungsträger. Ich glaube, viele Menschen verlieren die Hoffnung in die Politiker und die Politik, weil sie für ihr Leben keine Bedeutung haben. Sie haben einfach aufgehört darauf zu vertrauen, dass die Regierung ihre Arbeit macht. Das Buch ist also eher ein Versuch zu zeigen, dass Politik eine Rolle spielt. Doch derzeit ist sie nicht richtig strukturiert. Wir schmeißen einfach Geld raus. An Unternehmen, entweder weil sie klein oder groß sind, oder weil sie in starken Sektoren tätig sind oder in schwachen Sektoren. Es fehlt eine Mission.

Die Politik sollte sich auf die Probleme der Menschen konzentrieren. 

Deshalb sollten die Menschen selbst an der Gestaltung der Missionen beteiligt werden. Wir können viel von der Mondlandung lernen, aber sie wurde von oben nach unten von einem Haufen weißer Männer in einem Raum organisiert. Ich denke hingegen, dass moderne Ziele die Beteiligung der Bürger erfordern.

Mariana Mazzucato beim Kurt Rothschild-Preis

Sie argumentieren, dass diese Missionen Spillover-Effekte haben, die die Investition wert sind und sogar dem Finanzminister mehr einbringen können, als er ausgegeben hat.

Die Mondlandung hat riesige Mengen an Spillover-Effekten in so vielen Sektoren wie Elektronik, Software, Ernährung usw. ausgelöst und zu Wachstum geführt. Damit das funktioniert, müssen die Ausgaben in eine Mission eingebettet sein, sonst hat man nur eine Menge öffentlicher Gelder ausgegeben und kein Wachstum bewirkt, sondern nur die Schulden erhöht. Um tatsächlich das Wachstum zu fördern, das sich auf gesellschaftliche Herausforderungen konzentriert, ist es wichtig sektor- und akteursübergreifend in Innovation zu investieren. Es muss in die richtige Art von Politik eingebettet sein. 

Wenn es keine öffentlichen Investitionen gibt, ist das wirklich dumm. Wir hatten das nach der Finanzkrise in Europa: Damals waren an die Rettungspakete Sparmaßnahmen geknüpft. Das erhöht letztlich die Verschuldung, weil man am Ende viele Probleme wie die Arbeitslosigkeit verschärft hat, für die der Staat später einspringen muss. Es ist aber auch ein Problem, wenn man öffentliche Gelder ohne Strategie und ohne Auftrag vergibt. Man wirft einfach Geld zum Fenster hinaus, stopft Löcher, aber bleibt auf der Stelle stehen.  

Es geht nicht nur um die Ideologie von Staat oder Markt. Es geht darum, wie man die richtige Art von öffentlichen Investitionen für öffentliche Ziele mit den richtigen Bedingungen verknüpft, die nicht parasitär, sondern symbiotisch sind. Es geht darum, wie man viele verschiedene Sektoren in der Wirtschaft zu Investitionen und Innovationen anregt, und damit auch ein nachhaltiges Wachstum schaffen kann. Die Ironie besteht darin, dass bei einer Kürzung der öffentlichen Haushalte die Verschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) steigen kann, weil die Wirtschaft mit hoher Arbeitslosigkeit oder ohne Produktivitätssteigerungen sehr problematisch ist und der Staat nur noch einspringt, um Dinge zu flicken. 

Sie schlagen die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen als neue Mondmission vor… 

Nein, nein, nein. Ich sage, wir sollten die UN-SDGs (Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, Anm.) nutzen, um über Missionen zu sprechen. Das sind keine Missionen. Dafür sind sie viel zu weit gefasst. Um im Bild zu bleiben: Das Weltraumrennen war die Herausforderung. Die Mondlandung war die Mission. Übertragen auf heute: Die UN-SDGs sind die Herausforderungen, die vor uns liegen, und wir brauchen ein Mondmission-artiges Denken, um sie zu bewältigen. Meine These ist, dass der Grund, warum wir die SDGs nicht erreichen, darin liegt, dass wir uns nur auf der Ebene der Herausforderungen bewegen. Wir müssen sie in konkrete, zielgerichtete Missionen umwandeln. Ein Bespiel: Im SDG 14 geht es um saubere Ozeane. Die Mission wäre, 90 Prozent des Plastiks im Meer in den nächsten fünf Jahren zu beseitigen.  

Die Revolution der grünen Technologie, die Biotech-Revolution, die Nanotech-Revolution, die Internet-Revolution – all diese großen Revolutionen erforderten massive staatliche Investitionen, sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite.

Wenn es keine Nachfrage gibt, kann sich die Innovation nicht verbreiten. Und ich denke, das ist es, was heute mit grünen Innovationen passiert. Es ist nicht so, dass wir nicht über die Technologie verfügen. Es ist nur so, dass wir keine staatliche Politik haben, die sie umsetzt und einfordert. Eine Ausnahme könnte Schweden sein: Dort gibt es eine Nachfragepolitik, weshalb Tesla dort 30 % seiner Autos verkauft. Man braucht also eine ganze Reihe von staatlichen Instrumenten, da geht es nicht nur darum, Geld in die Hand nehmen.

20 Dinge, die wir ohne das Raumfahrtprogramm nicht hätten

Sie schlagen einen starken Staat vor, aber Sie sind für eine „Privat-Public-Partnership“, die in der Linken nicht sehr beliebt ist.  

Ja, ich meine, ich verstehe all die Kritik. Die Privat-Public-Partnership ist heute oft parasitär. Es fließt viel Geld in den privaten Sektor, doch von den Gewinnen kommt selten etwas zurück. Die Frage: Wie sozialisiert man das Risiko, aber auch den Nutzen? Auf der Risiko-Seite muss man also sicherstellen, dass die Innovationen tatsächlich auf große gesellschaftliche Herausforderungen ausgerichtet sind. Auf der Nutzen-Seite müssen wir sicherstellen, dass wir die Innovation so steuern, dass die Menschen davon profitieren. Zum Beispiel, wie man die Rechte am geistigen Eigentum regelt, wie man die Preise regelt, wie man die Details der Verträge regelt – das alles ist bei der Mondlandung gemacht worden. Die NASA hatte in ihren Verträgen Klauseln, wie „Keine übermäßigen Gewinne“. Heute gibt es so etwas nicht. Doch wir müssen uns darum kümmern, damit wir symbiotische, wechselseitige Partnerschaften bekommen und keine parasitären, von denen nur die privaten Eigentümer profitieren. 

Das ist wichtig zu besprechen, denn ich denke, dass die Linke keine Wahlen gewinnt, wenn sie nur über die Umverteilung von Reichtum und nicht über die Schaffung von Reichtum reden kann.  

War die Entwicklung des COVID-Impfstoffs eine symbiotische öffentlich-private Partnerschaft?

Tatsache ist, dass in all die verschiedenen Impfstoffe viel öffentliches Geld geflossen ist. Aber wir haben uns weder die Rechte an geistigem Eigentum, noch die fairen Preise gesichert. Deshalb machen Unternehmen wie Pfizer Milliardengewinne. AstraZeneca akzeptierte Bedingungen für die Partnerschaft mit der Universität Oxford. Sie brachten die Fähigkeit zur Massenproduktion des Impfstoffs mit, dafür bekam sie die Forschungsarbeit und akzeptierte regulierte Preise und Vertrieb. Leider gibt es solche Verträge nicht mit Pfizer. 

Es ist auch falsch, dass der Impfstoff landläufig als “Pfizer” bekannt ist. Er sollte dann schon eher „Europäische Investitionsbank“ heißen. Oder vielleicht DARPA, da die ursprünglich Technologie vor 20 Jahren von ihnen finanziert wurde.

Der private Sektor hat eine große Rolle gespielt. Ich sage nicht, dass sie unwichtige Arbeit machen, aber wir sollten die ganze Geschichte erzählen. Derzeit erzählen wir nur die Seite der Privaten und vergessen den Einfluss der öffentlichen Hand.

Sie erwähnen im Buch Elon Musk… 

Elon Musk konnte 2020 sein persönliches Vermögen von 25 auf 150 Milliarden Dollar vergrößern. (Foto: Duncan.Hull/Wikipedia, CC BY-SA 4.0)

Ja! Elon Musk hat Berichten zufolge 4,9 Milliarden Dollar an öffentlichen Subventionen für seine drei Unternehmen, darunter SpaceX, erhalten. Diese Unterstützung ist nicht Teil der Erzählung seiner unternehmerischen Erfolgsgeschichte, und sie spiegelt sich auch nicht in konkreten Verträgen wider; es gibt keine Aufteilung des Geldes, das auf dem Rücken der Steuerzahler verdient wurde.

Als Tesla einen garantierten Kredit in Höhe von 465 Millionen Dollar erhielt, verhandelte das US-Energieministerium seltsamerweise rückwärts und verlangte offenbar, dass die Regierung nur dann 3 Millionen Aktien behält, wenn der Kredit nicht zurückgezahlt wird! Danach verzehnfachte sich der Preis pro Aktie fast. Hätte die US-Regierung 2009 eine Kapitalbeteiligung an dieser Investition behalten, hätte sie bis 2013 mehr als genug verdient, um andere Verluste zu decken und die nächsten Investitionen zu finanzieren.

Wie sollten öffentliche Investitionen generell in Bezug auf Patente behandelt werden?  

Jetzt, mit COVID ist das ein Verbrechen. Es sterben Menschen. Aber es ist nicht nur eine Frage der Lieferung der Impfstoffe. Es geht auch um die Frage des Wissensmonopols. 

In Zeiten von Corona wird das Wissensmonopol zu einem kriminellen Akt.

Aber im Allgemeinen sind Patente zu stark und werden aus strategischen Gründen eingesetzt. Sie vernichten Wert, statt Wert zu schaffen. Deshalb plädiere ich schon seit langem dafür, das Patentsystem so zu regeln, dass Schumpetersche Renten entstehen. (Anmerkung: nach dem österreichischen Ökonom Schumpeter, dabei sollen neue Innovationen durch den zeitlichen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz, nicht aber durch Patente, bezahlt werden. Sie sind damit zeitlich begrenzt.) Derzeitige Patente bieten keine Anreize für Innovationen. Wir haben zugelassen, dass sie von Unternehmen missbraucht werden. Sie schaden der Innovation sogar.  

Beratungsunternehmen, wie PWC und McKinsey spielten eine große Rolle im Kampf gegen COVID. Auch wenn ihr Nutzen unklar ist. Warum lagern die Regierungen Kernaufgaben aus?

Die Regierungen sind dumm, wenn sie ihre Hauptaufgaben an die Beratungsunternehmen auslagern. Ich denke, es ist in Ordnung, wenn Regierungen Ratschläge einholen, auch ich berate Regierungen. Aber die Beratungsunternehmen gehen darüber hinaus. Sie verdienen riesige Summen, oft ohne jegliche Fachkenntnis in diesem Bereich, buchstäblich nichts. Wenn ich also die Regierung berate, kann ich mich auf 20 Jahre Forschung stützen. Sie kommen rein und denken, sie können alles machen. Wie bei dem Test and Trace-System in Großbritannien. Es ist kläglich gescheitert.

Im Gegensatz zur Impfkampagne. Die war unglaublich erfolgreich. Aber das ist alles der NHS (das britische Gesundheitssystem). Daran war der private Sektor überhaupt nicht beteiligt. Das ist also der erste Teil. Die andere Hälfte ist: 

Wir sind süchtig nach Beratung geworden. 

Die Regierungen gehen die Risiken nicht selbst ein, weil sie Angst haben, dass wir ihnen die Schuld geben, wenn etwas schief geht, und sie nicht mehr gewählt werden. Aber ohne Fehler kann man nicht lernen. Jedes Mal, wenn Regierungen etwas outsourcen, vergeben sie die Chance, etwas zu lernen und werden schlechter.

Geht die Souveränität also vom Volk auf Unternehmen über?  

Ganz genau. Und das ist auch das letzte Kapitel meines neuen Buches, das im Januar nächsten Jahres erscheinen wird. Aber es geht nicht nur um die Beratung. Das eigentliche Problem ist, dass der Staat intern nicht mehr in der Lage ist, das System zu steuern und immer intransparenter wird, wer die Entscheidungen trifft.

 

Kurt Rothschild-Preis
Das Karl-Renner-Institut und der SPÖ-Parlamentsklub vergeben den Kurt Rothschild Preis für Wirtschaftspublizistik. Der Preis erinnert an die großen Leistungen des österreichischen Ökonomen, der mit seinem Wirken Wissenschaft, Politik und Gesellschaft in Österreich nachhaltig geprägt hat. Insbesondere seine Zeit im Exil – als Sozialist jüdischer Herkunft musste Rothschild nach dem Einmarsch Hitlers aus Österreich fliehen – hat dazu beigetragen, dass Kurt Rothschild immer einen sozialen Anspruch an die als Wissenschaft betriebene Ökonomie gestellt hat.  Mehr dazu: https://renner-institut.at/angebote/kurt-rothschild-preis

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