Arbeit & Freizeit

Mehr Personal, mehr Zeit für Patienten – Pflege-Expertin erklärt was die Regierung jetzt tun muss

Die Lage in der Pflege ist angespannt. Es werden immer mehr Pflegekräfte gesucht. Gleichzeitig verlassen immer mehr Pflegekräfte die Branche oder fallen aus gesundheitlichen Gründen aus. Wir haben mit der Pflege-Gewerkschafterin Beatrix Eilitz über den Arbeitsalltag von Pflegekräften gesprochen und was die Politik tun muss, um die Arbeitsbedingungen in der Pflege nachhaltig zu verbessern.

Kontrast: Ich würde gern mit einer etwas persönlichen Frage beginnen. Vor kurzem hat meine 53-jährige Mutter zu mir gesagt, dass sie Angst hat in Zukunft keine Pflege zu bekommen, wenn sie diese braucht, weil der Personalmangel so groß ist. Ist diese Angst berechtigt?

Beatrix Eilitz: Das ist sie leider. Es gibt schon jetzt unzählige Studien, die sagen, dass in den nächsten Jahren rund 20.000 Pflegekräfte fehlen werden. Zum einen liegt das an der Pensionierungswelle bei den Kolleg:innen, also die sogenannte Babyboomer-Generation, und zum anderen wird die Bevölkerung immer älter und hat deshalb einen höheren Pflegebedarf.

„Der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt“

Kontrast:  Sie vertreten 3.300 Beschäftigte in der Pflege. Was sind aktuell die größten Herausforderungen?

Beatrix Eilitz: Ich möchte da anders anfangen. Die Arbeit am Menschen, egal ob es Kinder sind, ob es alte Leute sind, ob es pflegebedürftige oder kranke Menschen sind, ist eine wunderschöne und wirklich erfüllende Arbeit. Das Problem ist, dass die Kolleg:innen immer weniger Zeit haben für die zu Pflegenden. Kaum mehr Zeit für Gespräche, kaum mehr Zeit, um mit ihnen einmal spazieren zu gehen. Es muss jetzt alles im Minutentakt erledigt werden.

Man hat nur mehr Zahlen im Hinterkopf und ständig Zeitdruck. Der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt. Das macht den Kolleg:innen am meisten zu schaffen.

Denn Pflege ist im Grunde, was ganz Einfaches: Ich brauche, nur so mit anderen umgehen, wie ich selber gern gepflegt werden möchte. Wenn aber niemand  Zeit für mich hat, werde ich mich nicht wohlfühlen. Das ist auch einer der Gründe, warum viele Kolleg:innen sagen: So wie das momentan läuft, kann ich es nicht verantworten. Sie verlassen dann die Pflege und wechseln in andere Berufsgruppen.

(Foto: freepik)

Die schlechten Arbeitsbedingungen drängen viele Pflegekräfte in andere Berufe, obwohl sie gerne in der Pflege tätig wären. (Foto: freepik)

“Das pack ich bis zur Pension nicht.”

Kontrast: Wieso gibt es so wenige neue Pflegekräfte?

Beatrix Eilitz: Es gibt unzählige Initiativen, sei es von Trägern, Ländern oder Bund, um neue Mitarbeiter zu lukrieren. In der Steiermark haben wir das Problem, dass es zu wenig Ausbildungsplätze gibt, speziell für die diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger:innen. Man muss neue Leute finden. Das steht außer Diskussion.

Was mich so ärgert, ist, dass kaum Maßnahmen gesetzt werden, um die aktuellen Beschäftigten zu halten. Der wichtigste Punkt ist hier eine angemessene Bezahlung. An zweiter Stelle sind dann mehr Wertschätzung und mehr Zeit. Wenn ich gerade jemanden pflege, warten schon die fünf Nächsten. Das macht den Kolleginnen zu schaffen und viele sagen: „Das pack ich bis zur Pension nicht.“

Eine echte Pflegereform

Kontrast: Welche politischen Maßnahmen braucht es jetzt, um die Situation in der Pflege wieder in den Griff zu bekommen?

Beatrix Eilitz: Erstens: Es gibt neun verschiedene Bundesländer, neun verschiedene Regelungen. Pflegeheime und Spitäler haben dann auch wieder unterschiedliche Personalschlüssel.

Es müsste österreichweit einheitliche, nach wissenschaftlichen Standards vorgegebene Personalschlüssel geben, damit die Kolleginnen wieder ausreichend Zeit haben, sich umfangreich um die Menschen zu kümmern. Nicht nur satt, warm, sauber – gute Pflege ist mehr als das.

Zweitens: Die Politik hat schon mehrmals die große Pflegereform angekündigt. Vor ca. zwei Jahren gab es eine Bonus-Zahlung. Der Großteil der Kolleginnen hat diesen Bonus aber nie bekommen. Genauso war es auch bei der extra Woche Urlaub. Nur ein minimaler Prozentsatz hat diese Woche gekriegt.

Man spricht bei der Pflege oft nur von den Pflegeheimen und den Krankenhäusern, aber es gibt viel mehr Orte, wo Pflege geleistet wird, etwa in der den Tageszentren, den Behinderteneinrichtungen, der mobilen Pflege oder im betreuten Wohnen. Außerdem braucht es mehr als nur Pflegekräfte, damit Pflege gut funktioniert. Die Pflegekräfte können noch so gut arbeiten, wenn niemand das Haus putzt oder niemand das Essen macht, gibt es keine gute Pflege.

Pflege Interview

Pflegekräfte arbeiten nicht nur im Krankenhaus oder im Krankenhaus, sondern auch in vielen anderen Einrichtungen wie betreutem Wohnen oder der mobilen Pflege.

Die Reinigungskräfte zum Beispiel sind oft länger im Zimmer als die Pflegekraft selbst. Diese Berufsgruppen werden total unterschätzt oder übersehen. Sie leisten aber genauso hervorragende Arbeit wie die Kolleg:innen direkt in der Pflege. Zusätzlich gibt es Pflegeassistenten, Pflegefachassistenten, aber auch die Heimhilfen. Nur alle Berufsgruppen zusammen können eine gute Versorgung der Bevölkerung in Österreich gewährleisten.

Über 40 Prozent haben Burn-Out Symptome

Kontrast: Vor kurzem hat die Arbeiterkammer eine Studie veröffentlicht, in der sie die Situation von Beschäftigten in Gesundheits- und Sozialberufen in der Steiermark analysiert haben. Das Ergebnis: 41 Prozent haben angegeben, dass sie unter moderaten Burn-out Symptomen leiden und 5 % unter starkem Burn-out Symptomen. Wieso sind die Zahlen so hoch?

Beatrix Eilitz: Wir haben bereits vor zehn Jahren eine ähnliche Studie gemacht. Erschreckend ist, dass diese Burn-out Zahlen gestiegen sind. Das Warum ist leicht erklärbar. Immer mehr Zeitdruck, so viel Zeit wie möglich am Kunden arbeiten. Dazwischen muss ich die Fahrzeit einplanen. Dann gibt es die Diskussionen: „Warum bist du fünf Minuten gefahren? Das geht in drei Minuten.“ Dazu kommen weitere Tätigkeiten wie Dokumentation, Einkaufen oder Besprechung mit Kolleginnen. Wird diese Zeit dem Kunden verrechnet oder wird sie extra Zeit geschrieben? Das erzeugt Stress für die Kolleginnen.

Außerdem steht Unterbesetzung immer öfter an der Tagesordnung. Wenn eine Kollegin in Krankenstand oder Urlaub ist, dann muss das kompensiert werden. Wenn jemand ausfällt, muss jemand anderes einspringen. Springt man nicht ein, hat man ein schlechtes Gewissen, weil die Kollegin im Dienst dann noch mehr arbeiten muss oder die Menschen sind nicht versorgt. Ich finde das fast verantwortungslos von der Politik, aber auch von den Trägern, die Kolleg:innen mit dieser Situation alleine zu lassen. Es braucht ausreichend Personal und Zeitressourcen, damit die Mitarbeiter gute Arbeit am Kunden machen können.

100 Kilo heben – Schwerarbeit Pflege

Kontrast: Würden Sie sagen, dass Pflege Schwerarbeit ist?

Beatrix Eilitz: Auf jeden Fall. Ich kann mich erinnern, wie wir damals Haus gebaut haben. In den 90er Jahren sind die Zementsäcke von 50 Kilo auf 25 Kilogramm reduziert geworden, als Arbeitnehmerschutz für die Bauarbeiter. In der Pflege sind Kunden oft 80, 90, 100 Kilogramm schwer. Es ist natürlich grundsätzlich möglich, diese Personen zu zweit zu heben, aber aufgrund des Mangels an Personal ist das oft nicht möglich. Das heißt, die Kolleg:innen müssen dann den Kunden transferieren vom Bett in den Rollstuhl oder vom Rollstuhl in die Badewanne. Das machst du alleine. Aber das ist nur der körperliche Aspekt, es gibt auch den psychischen Aspekt.

Du bist ständig konfrontiert mit Krankheit, mit herausfordernden Kund:innen, die natürlich ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse haben, auf die du eingehen sollst, Angehörigen, die etwas wollen. Aber du weißt, dass du deine Kund:innen nicht so versorgen kannst, wie du es gern machen möchtest. Das ist alles psychische Belastung. Dazu komm: Wenn dir am Bau ein Zementsack oder ein Ziegel hinunterfällt, ist dieser im schlimmsten Fall kaputt. Nur wenn ein alter Mensch irrtümlich hinunterfällt, dann hat man nicht nur berufliche Konsequenzen, sondern der Kunde ist dann im schlimmsten Fall im Spital und hat sich etwas gebrochen. Das muss man auch verdauen, verarbeiten und im Hinterkopf haben.

Vereinbarkeit von Pflege und Familie

Kontrast: Wie lässt sich Familie mit einem Pflegeberuf vereinbaren?

Beatrix Eilitz: Schwer. In den stationären Einrichtungen hat man noch eher einen geregelten Dienstplan, wenn man nicht ständig einspringen müsste. Im mobilen Dienst ist es noch viel schwieriger. Dort sind die Hauptbetreuungszeiten in der Früh, zu Mittag und am Abend. Einen durchgehenden Dienst hat man da kaum.

Weil wir vorher auch die Pensionen angesprochen haben: Es wäre natürlich sinnvoll, dass die Kolleginnen, überwiegend Frauen, Vollzeit beschäftigt wären, damit sie eine einigermaßen existenzsichernde Pension bekommen. Nur das ist in der Praxis nicht umsetzbar. Zum einen werden nur Teilzeitjobs angeboten, zum anderen schaffen die Kolleginnen das meistens nicht, weil sie oft zu Hause auch Kinder oder Angehörige zu pflegen haben.

(Foto: freepik)

Viele Pflegekräfte leiden unter den schlechten Arbeitsbedingungen in der Pflege, sowohl körperlich als auch psychisch. (Foto: freepik)

Dann kommt oft das Argument: „Stock doch deine Stunden auf!“ Viele Kolleginnen sagen dann nein, weil sie aus ihrer Erfahrung wissen: Bin ich 20 Stunden angestellt, muss ich 30 oder 35 Stunden arbeiten. Dann ist die Angst da, dass sie 35 oder 40 Stunden arbeiten müssen, wenn sie auf 30 Stunden aufstocken.

Wie Pflege funktionieren sollte

Kontrast: Was kann die Gesellschaft tun, um die Situation von Pflegekräften zu verbessern?

Beatrix Eilitz: Meine Vision ist, dass wir alle gemeinsam mit den Beschäftigten die Politik in die Verantwortung nehmen, damit sie endlich handelt. Ich bin über 30 Jahren in diesem Bereich. Es sind unzählige Versprechungen gemacht worden, aber es gab nie eine große Verbesserung, nur kleine Reparaturen. Was es braucht, ist ein großer Strategieplan zur Pflege. Wie kann Pflege funktionieren, damit es den Kunden gut geht, aber auch den Pflegekräften damit diese gesund in die Pension gehen können.

Kontrast: Von einer strukturellen Reform sind wir also weit entfernt?

Beatrix Eilitz: Leider, ja.

Kontrast: Sie sehen tagtäglich, wie schwierig die Situation in der Pflege ist. Was bringt Sie dazu, weiterzukämpfen?

Beatrix Eilitz: Ich habe zwei Mottos. Das Erste ist: In kleinen Schritten Großes zu bewegen. Das Zweite: Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren. Es ist in den letzten Jahrzehnten schon ein bisschen was weitergegangen.

Meine Hoffnung ist nach wie vor, dass die Mitarbeiter endlich mal zusammenstehen und sagen: „So lassen wir nicht mit uns umgehen. Wir erwarten uns mehr Wertschätzung von der Politik.“

Für mich wäre mehr Wertschätzung, dass die Politik, endlich die Arbeitsbedingungen verbessert, damit die Menschen in Zukunft gut versorgt werden können. Damit Ihre Mutter keine Sorgen haben muss, dass sie irgendwann keine Pflege bekommt, wenn sie diese braucht.

Beatrix Eilitz ist Betriebsratsvorsitzende der Volkshilfe in der Steiermark und vertritt 3.300 Beschäftigte in der Pflege und anderen Sozialbereichen. Seit 1991 ist sie in der Pflege tätig.

 

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