Corona stellte pflegende Angehörige vor große Herausforderungen. Betreuungseinrichtungen wurden geschlossen, gleichzeitig stellten Verwandte die Hilfe aus Angst vor einer Ansteckung ein. Viele fühlten sich alleine gelassen. Die Volkshilfe führte 100 Gespräche mit pflegenden Angehörigen, um herauszufinden, wie es den betroffenen in dieser schwierigen Zeit gegangen ist.
Mitte März hat sich der Alltag bei uns allen mit einem Schlag in seinen Grundfesten verändert – Covid-19 war keine Erkrankung mehr, die in China wütet und nichts mit unserem Alltag zu tun hat. Sie war auch in Österreich Realität und hat viele Gewissheiten und Routinen umgeworfen. Während es zur Stützung der Wirtschaft viele Pressekonferenz gegeben hat und um die 24-Stunden-Betreuung zumindest kurzfristig einiges an Trubel entstand, blieben Warnungen um die Situation von pflegenden Angehörigen ungehört. Dabei sind insbesondere pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz stark belastet, wie eine Umfrage der Volkshilfe Österreich zeigt.
Pflegende Angehörige als tragende Säule
Das österreichische Pflege- und Betreuungssystem baut stark auf der Angehörigenpflege auf. Sie sind die tragende Säule der Betreuung von älteren Menschen, von Betroffenen chronischer Erkrankungen oder von Menschen mit besonderen Bedürfnissen.
2019 gab es in Österreich rund 466.360 PflegegeldbezieherInnen, geschätzt wird, dass rund 80 Prozent von Ihnen zu Hause betreut werden – mehrheitlich von pflegenden Angehörigen, die wiederum fast ausschließlich Frauen sind. Nur bei 25 Prozent dieser Gepflegten unterstützen mobile Dienste zusätzlich, wie die Angehörigenstudie der Universität Wien für das Sozialministerium 2018 zeigt.
Durch den Lockdown entfielen viele Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige wie Tagesbetreuungszentren, Hilfe durch NachbarInnen, Betreuungsstunden von Heimhilfen, aber auch Therapien (bspw. Ergo- oder Physiotherapien). Pflegende Angehörige wurden im Bereich der Versorgung mit Schutzkleidung und Pflegehilfsmitteln der sich zuspitzenden Versorgungssituation am freien Markt überlassen, Handlungsempfehlungen und Informationen zu der spezifischen Situation der Pflege und Betreuung daheim fehlten. Die Situation für pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz ist besonders herausfordernd – weil die Betreuung intensiv ist und die Erkrankung in manchen Phasen Aggressivität mit sich bringt. Aber auch, weil die Diagnose alleine ausreicht, um Menschen die selbstständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Abrede zu stellen.
Belastung durch fehlende Unterstützung
So verwundert es nicht, wenn die Befragten einer Umfrage der Volkshilfe Österreich ihre Lebensqualität vor der Corona-Krise schon mehrheitlich als „mittel“ einstufen. 50 Prozent der Befragten gaben anschließend an, dass die Corona-Krise ihre Pflegesituation stark, 22 Prozent ein wenig beeinflusst hatte. Einige pflegende Angehörige verfügen über ein soziales Netzwerk, das in unterschiedlichem Ausmaß Unterstützung leistet und das über die Jahre entstanden ist. Gerade dieses soziale Netz wurde durch die Corona-Krise löchrig. In 32 Fällen konnte eine Musik-, Physio-, Psycho- und/oder Ergotherapie-Stunde nicht wie gewohnt besucht werden, obwohl diese Therapie- und Trainingsangebote den Verlauf der Demenzerkrankung positiv beeinflussen können. 15 Prozent der Befragten haben ihre Angehörigen nicht, wie üblich, in ein Tageszentrum bringen können. Das bedeutet für die Angehörigen: keine Erholung, keine Zeit, den Haushalt zu machen oder einkaufen zu gehen. Einfach 24-Stunden lang präsent zu sein.
Eine Befragte erzählt: „Mein Mann ist 24 Stunden bei mir, ich kann nicht alleine aufs Klo gehen, da er immer neben mir steht oder geht – einfach immer. Das Tageszentrum durfte er zweimal pro Woche besuchen, damit ich einmal Luft holen kann und jetzt ist es wieder geschlossen. Es ist für mich eine Katastrophe – ich weiß einfach nicht mehr weiter, ich muss immer da sein und bin eingespannt. Wer selbst nicht in dieser Situation ist, kann es einfach nicht verstehen – wie es uns Angehörigen geht.“
Besonders eklatant ist aber, dass 44 Prozent der Befragten angeben, dass die Unterstützung durch andere Familienmitglieder ausgeblieben ist und 20 Prozent keine Unterstützung aus dem sozialen Umfeld mehr erhalten haben. Zumeist auf Grund der Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19.
Belastet, hilflos und allein gelassen
Durch die fehlende Hilfe im Betreuungs- und Pflegealltag ergaben sich massive Auswirkungen und Belastungen für die pflegenden Angehörigen: Zweidrittel (66 Prozent) der pflegenden Angehörigen von Demenzerkrankten gaben an, sich während der Corona-Krise oft (31 Prozent) oder zumindest hin und wieder (35 Prozent) überfordert gefühlt zu haben. 55 Prozent der Teilnehmenden haben sich oft (22%) oder hin und wieder (33%) hilflos gefühlt. Frau N., die ihre demente Mutter betreut, erzählt dazu: „Früher konnten wir noch spazieren gehen, aber jetzt sitzen wir nur noch zu Hause. Die Mama ist zusätzlich verwirrt, weil sie oftmals Händewaschen gehen musste und war dann so verärgert, dass sie um sich schlug. Ja, in solchen Situationen fühlt man sich hilflos.“
41 Prozent fühlten sich isoliert. Mit der Pflege und Betreuung allein gelassen fühlten sich oft oder zumindest hin und wieder 59 Prozent (30 bzw. 29 Prozent) der Befragten. Frau G., die sich stark belastet fühlt und neben der Pflege noch Teilzeit arbeitet, meinte dazu:
„Allein gelassen? Ja, es ist ja niemand da.“
78 Prozent der Befragten wurden zeitlich zusätzlich in Anspruch genommen und mussten mehr Stunden für die Pflege und Betreuung aufwenden als vor der Corona-Krise. Besonders belastend war für 37 Prozent der Befragten der Umstand, immer präsent sein zu müssen. Genau die Hälfte der Befragten gab an, dass die Pflege/Betreuung in der Corona-Krise körperlich anstrengender war als zu vor.
Veränderungen bei den Betroffenen
Gefragt danach, ob die Pflege und Betreuung auch eine finanzielle Belastung ist, antworten 50 Prozent der Angehörigen mit Ja, ebenso viele mit Nein. Dies ergibt sich auch dem Umstand, dass die 24-Stunden-Betreuung in den wenigen Fällen kostengedeckt durch das Pflegegeld ist, andere Kostenpunkte wie die Miete eines Pflegebettes, Kosten für den barrierefreien Umbau der Wohnung, summieren sich rasch; viele armutsbetroffene Menschen wohnen in schlecht gedämmten Wohnungen, weshalb die Heizkosten höher sind. Zusätzlich stiegen in der Corona-Krise die Preise für Pflegehilfsmittel und Hygienebedarf wie Handschuhe zum Teil enorm an. Frau P. erzählt in der Umfrage:
„Der Krankheitsverlauf meiner Mutter hat sich rapide verschlechtert. Ich glaube, weil sie kaum noch persönlichen Kontakt zu ihren Freundinnen hatte. Jetzt reißen die Kosten für die Inkontinenzprodukte, Therapien und die Miete für das Pflegebett mir in mein monatliches Budget ein riesengroßes Loch.“
Von solchen Verhaltensveränderungen bzw. Verschlechterungen der Demenz, die sie auf die Corona-Krise zurückführen, berichten 40 Prozent der pflegenden Angehörigen. Eine andere von Ihnen ist Frau P., sie berichtet: „Meine Mutter hat die Heimhilfe abgesagt, da Sie Angst vor einer Ansteckung hat. Dadurch sind meine Eltern noch mehr sozial isoliert, als schon vor dem Virus. Letzte Woche musste ich zu ihnen fahren, einen Streit schlichten. Mein Vater hatte wieder einen Schub, vermutlich, weil für Demenzerkrankte Corona nicht verständlich ist.“
24-Stunden-BetreuerInnen als große Unterstützung
Bei 43 Prozent der Befragten betreut eine 24-Stunden-Personenbetreuerin die pflegebedürftige Person zusätzlich. Von diesen 43 Prozent haben 65 Prozent jene Situation, als die 24-Stunden-Betreuerinnen nicht mehr nach Österreich kommen konnten, als sehr belastend erlebt (28 von 43 Personen). Besonders berührend ist die Geschichte von Frau W. dazu:
„Die Aufregung rundherum war ein Wahnsinn. Es gab so viele Tränen: Ich weinte unsere Personenbetreuerin Maria an, dass Sie hierbleiben soll und ihr Ehemann aus Rumänien hat sie täglich angerufen und angeweint, dass Sie nach Hause kommen soll, solange die Grenzen noch offen sind. Es war für uns alle eine furchtbare Zeit!“
Insgesamt weniger stark körperlich belastet beispielsweise waren jene pflegendenden Angehörigen in Haushalten mit einer 24-Stunden-Betreuerin, die zugesichert hatte, solange in Österreich zu bleiben, bis der Lockdown vorbei sei. Ein Angehöriger sagte dazu: „Aber fragen sie mich nicht, wie es unserer 24-Stunden-Betreuerin in dieser Zeit gegangen ist.“ Umso unverständlicher ist, dass 24-Stunden-BeteuerInnen so viele Steine bei der Einreichung von Bonus und Entschädigungszahlungen in den Weg gelegt werden bzw. dass die Indexierung der Familienbeihilfe nicht zurückgenommen wird.
Was es braucht
Die Gesundheitskrise Corona ist, das zeigen die Zahlen der Umfrage deutlich, zu einer Belastungskrise von pflegenden Angehörigen geworden. Der Lockdown hat bestehende „Krisenherde“ verschärft, etwa die Mangelwirtschaft in der Pflege und Betreuung auf Kosten der Betroffenen, auf Kosten der Angehörigen, auf Kosten der 24-Stunden-BetreuerInnen, auf Kosten der MitarbeiterInnen in den mobilen Diensten – alle zusammen in der Mehrheit Frauen. Um diesen Umstand zu ändern und eine Vertiefung der Care-Krise zu verhindern, müssen auch die Expertinnen des Alltags und die Expertise der mobilen Pflege und Betreuung in die Krisenstäbe aufgenommen werden. Für den Herbst braucht es verpflichtende Betriebsvereinbarungen zu Homeoffice dort, wo dies möglich ist, um die Organisation der Betreuung daheim als begleitende Maßnahme zu erleichtern. Zur weiteren Vereinbarkeit von Beruf und Betreuung braucht es einen Rechtsanspruch und die Ausweitung der Pflegekarenz auf zumindest sechs Monaten, auch ohne Zustimmung des Arbeitgebers sowie einen Rechtsanspruch auf Pflegesonderurlaub für den Fall, dass die Infektionszahlen erneut in unkontrollierbarem Ausmaß steigen.
Entlastung schaffen – zu mindest für Stunden
Um die pflegenden Angehörigen vor einem Burnout zu bewahren, ist ein Ausbau der stundenweisen Betreuungsmodelle, der teilstationären Einrichtungen und modernen, alternativen Wohnformen (z.B. Demenz-WGs) unumgänglich. Begleitend dazu ist auch der Ausbau von psychologische Beratung und Betreuung für pflegende Angehörige zentral. Um den Angehörigen zusätzlich mehr Sicherheit im Umgang mit Sars-Cov-2 zu geben, könnten spezifische Handlungsempfehlungen zu Hygienemaßnahmen sowie freizugängliche Online-Schulungs-Tools zur Weiterbildung in Bereich der häuslichen Betreuung und Pflege vom Gesundheitsministerium zur Verfügung gestellt werden. Die Hygienemaßnahmen betreffend, dürfen pflegende Angehörigen mit dem Ankauf von Schutzkleidung und Hygienemitteln den Preisen des freien Marktes allein gelassen werden. Der Bund muss hier die Versorgung sowie die Kostenübernahme sicherstellen. Sicherheit für Demenzerkrankte darf keine Frage des Geldbörsels sein. Denn gerade im Hinblick auf die Kosten, die mit einer Demenzerkrankung einhergehen (Tageszentren, Therapien, Pflegehilfsmittel, etc.) und der Kostenentwicklung von Handschuhen, Desinfektionszahlen und anderen wichtigen Schutzmaßnahmen scheint die Prämisse der Politik zu sein: Demenz muss man sich leisten können.
Im Zeitraum von 25. Mai bis zum 3. August wurden 100 abgeschlossene Gespräche mit Menschen geführt, die ihre an Demenz erkrankten Angehörigen betreuen oder pflegen. Der Kontakt entstand, weil die Demenzerkrankten in den Jahren 2019 oder 2020 als Armutsbetroffene eine finanzielle Unterstützung des Fonds Demenzhilfe der Volkshilfe Österreich bekommen hatten. Die Befragten waren zu 70 Prozent Frauen – der überwiegende Anteil der Befragten, konkret 53 Prozent, war zwischen 50 und 59 Jahre alt, 18 Prozent der Befragten waren älter als 60 Jahre und 13 Prozent der Befragten war 70 Jahre oder älter. Die Hälfte von Ihnen (51 Prozent) ging zum Zeitpunkt der Befragung einer Vollzeit-, oder Teilzeitbeschäftigung nach. 14 Prozent der Befragten waren arbeitslos oder in Kurzarbeit.
Hanna Lichtenberger ist zuständig für Gesundheitspolitik in der Volkshilfe.
Teresa Millner-Kurzbauer leitet den Bereich Pflege und Betreuung der Volkshilfe.