Sozialprogramme müssten in der EU ausgeweitet werden, Staaten sollten gezwungen werden, Mindestlöhne einzuführen und Sozialleistungen anzubieten – das fordert der Politikwissenschaftler Maurizio Ferrara im Interview. Ein Zeitkonto für alle EU-Bürger sollte jedem die Möglichkeit geben, sich im Laufe des Lebens mehrere Auszeiten von der Arbeit zu nehmen – für Bildung, Kindererziehung oder nur für sich.
Kontrast: Man hört und liest oft, dass Europäerinnen und Europäer mit der EU unzufrieden sind. Woher kommt das?
Ferrara: Menschen sehen, dass ihre Kinder und Enkel keine gute Arbeit mehr finden. Menschen empfinden eine gewisse Orientierungslosigkeit wegen all der tiefgreifenden politischen und ökonomischen Änderungen der letzten Jahrzehnte. Und Brüssel wird oft als weit entferntes Machtzentrum wahrgenommen. Brüssel ist komplex und die europäischen politischen Prozesse sind für viele nicht durchschaubar. Wer hat eine Entscheidung getroffen? War es die Kommission, war es das Parlament, war es Deutschland? Am Ende ist es für die nationale Politik am einfachsten zu sagen: Brüssel war es und wir müssen das umsetzen. Brüssel wird zum Sündenbock gemacht. Aber das ist gefährlich.
Kontrast: Die EU wird oft als reine Wirtschaftsunion gesehen, die sich zu wenig um soziale Probleme kümmert…
Ferrara: Am Beginn der Europäischen Union gab es die Idee, dass Brüssel für den gemeinsamen Markt zuständig ist und alles, was den Sozialstaat betrifft, in nationaler Hand bleibt. Die Mitgliedsstaaten wollten die Kontrolle darüber behalten, wer welche Sozialleistungen erhält. Aber diese strenge Trennung zwischen Sozialpolitik auf nationaler Ebene und Wirtschafts- und Finanzpolitik auf europäischer Ebene lässt sich nicht ewig aufrechterhalten. Was bei Markt-, Finanz- und Wettbewerbspolitik beschlossen wird, hat ja auch Folgen für die Länder und ihre Bürgerinnen und Bürger – und beeinflusst dann auch, welche Sozialpolitik möglich und notwendig ist.
Kontrast: Sie fordern eine Europäische Sozialunion – was kann man sich darunter vorstellen?
Ferrara: Man könnte sich das wie eine Art europäisches Sozialministerium vorstellen, wie es etwa auch im Bereich der Außenpolitik schon eine Art Ministerium gibt. Dort könnten dann Soziales und Arbeitsmarkt-Belange zusammenlaufen. Alle existierenden finanziellen Instrumente für Sozialpolitik, alle europäischen Regelungen und Politiken würden Teil des Pakets werden.
Die Idee ist, diese positiven Maßnahmen zu bündeln und in eine Europäischen Sozialunion münden zu lassen. Es gibt viele gute Beschlüsse, wie etwa die Jugendgarantie oder Projekte, die vom Europäischen Sozialfonds finanziert werden. Es wäre klug, diese Programme auszuweiten, und das auch begreif- und fassbar für die Bürger und Bürgerinnen der Union zu machen.
Wir könnten etwa eine Kinderbetreuungs-Garantie anstreben, oder eine Ausbildungs-Garantie.
Kontrast: Aber warum soll der Sozialstaat europäischer werden?
Ferrara: Der Sozialstaat muss auf neue internationale Herausforderungen Antworten finden: Die globalen wirtschaftlichen Abhängigkeiten werden größer, die digitale Revolution schafft ein neues Wirtschafts-Umfeld. Unbefristete Arbeitsverhältnisse, bei denen Menschen ihr Leben lang im gleichen Umfeld arbeiten, werden eher die Ausnahme. Nicht nur einzelne Firmen, sondern ganze wirtschaftliche Sektoren verschwinden. Solche Probleme liegen immer mehr außerhalb des Wirkungsbereichs der einzelnen Nationalstaaten. Also müssen wir auch neue, europäische Formen des sozialen Schutzes schaffen.
Kontrast: Was passiert dann mit nationalen Sozialstaaten? Es gibt Bedenken, dass dann alle Standards gesenkt werden würden.
Ferrara: Ich denke nicht, dass nationale Systeme dadurch abgeschafft werden, das wäre nicht wünschenswert. Zumindest nich jetzt, vielleicht in 200 Jahren dann. Und auf keinen Fall sollen dadurch Standards gesenkt werden, ganz im Gegenteil:
Die europäische Säule sozialer Rechte würde Staaten, die unterdurchschnittliche soziale Leistungen anbieten, zwingen, soziale Maßnahmen zu ergreifen. Ich kann Ihnen ein Beispiel dafür geben: Italien hatte lange keinen Mindestlohn, erst auf Druck der EU wurde dieser eingeführt.
Kontrast: Auf welchen Grundlagen könnte eine solche Europäische Sozialunion aufbauen?
Ferrara: Wenn wir uns den Vertrag von Lissabon ansehen, gibt es einige Elemente darin, die die Grundlage für eine wesentlich sozialere Auslegung der Europäischen Union sein könnten. Der Moment war ungünstig, 2008 mit Beginn der Krise gerieten diese sozialpolitischen Aspekte in den Hintergrund. Die Rettung des Euro oder die nationalen Schuldenkrisen wurden zur Priorität, während man über soziale Ziele nur noch wenig gesprochen hat.
Kontrast: Was hat die EU bisher im Bereich Sozialpolitik gemacht?
Ferrara: Die EU hat finanzielle Ressourcen für Sozialpolitik zur Verfügung gestellt. Eine Maßnahmen war die Jugendgarantie. Sie wurde in verschiedenen Ländern unter unterschiedlichen Namen eingeführt – teils durch nationale Programme ergänzt. Milliarden von Euro wurden für Förderprogramme verwendet, um jungen Menschen ohne Job eine Ausbildung zu verschaffen. Vielen war nicht einmal klar, dass es sich um eine europäische Initiative handelte. Ich denke, das ist ein Fehler. Namen und Symbole haben politische Effekte. Wenn man nie über positive Maßnahmen der EU redet, ist doch klar, dass normale Menschen nicht wahrnehmen, dass sie eine wichtige und positive Rolle in ihrem Leben spielt – und das nicht nur auf abstrakter Ebene.
Kontrast: In welchen Bereichen könnte man diese europäischen Sozial-Initiativen ausbauen?
Ferrara: Zeit wird immer wertvoller. Menschen brauchen Freizeit. In diesem noch jungen Jahrhundert könnte etwa die Möglichkeit, mehr Freizeit zu bekommen, ein wichtigerer Teil des Sozialstaates werden. Es gibt jetzt schon die Möglichkeit für Eltern, in Karenz zu gehen. Aber was, wenn Sie sich weiter fortbilden wollen, oder das Gefühl haben, einen anderen Lebensweg einschlagen zu wollen? Oder wenn sie einfach ein Jahr Auszeit nehmen wollen?
Mein Vorschlag wäre eine Work-Life-Garantie: Von der Geburt an bis zur Pension oder sogar darüber hinaus, könnte es ein europäisches Sozial-Guthaben geben. Davon könnte man in bestimmten Mengen den eigenen Bedürfnissen entsprechend Geld oder auch Zeit beheben. Diese Möglichkeiten gibt es in einem beschränkten Ausmaß schon, aber wir sollten das weiter ausbauen.
Maurizio Ferrara ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Mailand und beschäftigt sich mit Fragen des Sozialstaats und der Europäischen Integration. Ferrara war als wissenschaftlicher Experte in zahlreichen Kommissionen zum Thema Europa als Wirtschaftliche und Soziale Union tätig und ist Kolumnist in der Tageszeitung Corriere della Sera.