Otto Herz ist Psychologe, Pädagoge und Bildungsforscher und hat die Schule aus vielen Perspektiven gesehen: Er war zuerst Schulabbrecher, dann Vorzeige-Hochbegabter und Schulsprecher der berühmten, reformpädagogischen Odenwaldschule, die später wegen eines grausamen Missbrauchsskandals in die Schlagzeilen kommen sollte. Herz hat selbst alternative Schulmodelle geleitet und gegründet, später war er in leitender Funktion in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Als Lehrender an der Universität, Buchautor und Vortragender engagiert sich der heute 76-Jährige immer noch für sein Herz-Thema Bildung. Heute lebt er sogar in einem alten Schulgebäude in Leipzig. Mit Kontrast spricht er darüber, warum Jugendliche die Schule abbrechen und wie guter Unterricht gelingen kann.
Kontrast: Sie haben in einem Vortrag gesagt “Schule ist ein Auslaufmodell, dessen Auslaufen wir noch erleben werden”. Was kommt, wenn es keine Schulen mehr gibt, in die die Kinder jeden Tag gehen?
Otto Herz: Ich habe nichts gegen Schulgebäude. Die sind schon gut, falls es mal ein Gewitter gibt. Ich bin nicht dafür, sie abzuschaffen. Aber man muss sie radikal umgestalten. Lernen tun wir jeden Tag, den ganzen Tag, wenn uns etwas wirklich interessiert. Wir leben im Zeitalter der Information. Kinder gehen dem, was sie wissen wollen, ja freiwillig nach. Das entspricht nur meist nicht dem, was grade am Stundenplan steht.
Der Lehrplan, inklusive Stundenplan, ist ein Gefängnis. Der Lehrplan sollte eine Lern-Landkarte sein, die man erschließt. Dafür muss man aber nicht jeden Tag um acht Uhr in einer Schulbank sitzen und sich be-lehren lassen. Ich verwende auch nicht den Begriff unter-richten, sondern auf-richten. Das ist es doch, was wir für junge Menschen bieten sollten: dass ihnen möglich wird, das zu entfalten, was in ihnen steckt.
Das entspricht leider nicht der derzeitigen Realität. In Österreich brechen 7,8 Prozent der Kinder und Jugendliche die Schule ab, in Deutschland sind es 6,8 Prozent. Wie kann das sein?
Herz: Ja, das ist ein Skandal. Diese Menschen dürfen nicht verloren gehen, nicht durchs System fallen. Junge Menschen sind nicht zu dumm oder zu faul für die Schule. Alle Menschen haben Interessen. Nur oft nicht die, die grade vom Lehrplan vorgegeben sind.
Mit 14 wusste ich zum Beispiel alles über die Azteken. Ich war sogar der Anführer einer Gruppe Jungs, die sich “Die Azteken” nannte. Sie hätten mich mitten in der Nacht aufwecken können, und ich hätte Ihnen einen detaillierten Vortrag gehalten. Nur im Geografie-Unterricht habe ich mich geweigert, irgendeinen Fluss auf der Landkarte zu zeigen. So wurde ich zum Schulabbrecher. Weil ich angeblich dumm, faul und frech war. Frech zu sein war damals das Schlimmste. Einfach, weil ich gewagt habe, mich zu wehren. Kurze Zeit später war ich dann hochbegabt, mit einem Stipendium der feinsten Stiftung Deutschlands. Ich hatte Glück: Jemand hatte meine Liebe zum Wissen entdeckt und gefördert. Das möchte ich weitergeben.
Woran scheitern Schulen?
Herz: Die Schule hat zwei Eltern: Die Kirche und das Militär. Lange Zeit leiteten diese beiden Institutionen die meisten Bildungseinrichtungen. Bis heute gründen diese Institutionen einen Großteil ihrer Macht darin. Nun wird in der Kirche belehrt und von der Kanzel herabgepredigt. Und im Militär wird gehorcht und exerziert.
Der Anteil der SchulabbrecherInnen ist bei Jugendlichen, deren Eltern nicht in Österreich geboren sind, mit 11,9 Prozent weitaus höher. Jeder fünfte junge Mensch, der selbst nicht in Österreich geboren ist, hat keinen Pflichtschulabschluss. In Deutschland sind die Chancen nur etwas besser.
Herz: Als ich an der Uni gelehrt habe, waren da rund um mich – ich sage es bewusst so – nur arische Obermenschen in den Hörsälen. Ich habe dann auf eigene Faust unter den Studenten Geld gesammelt und einen Vortragenden aus Burkina Faso eingeladen. Das war was! Es ist einfach ein völlig anderes Erleben, wenn man sich als Menschen begegnen kann. Wir müssen so dringend wegkommen von diesem Eurozentrismus, der vorherrscht.
Ich habe meine Studenten angehalten, eine Sache zu machen, die sie sich nicht getraut haben bisher, um junge Menschen in schwierigen Situationen besser zu verstehen. Eine Studentin hat 14 Tage das Haus in Leipzig nur in Burka verlassen. Was sie erzählt hat! Was sie an Verständnis erlangt hat, an menschlichen Begegnungen – gute und negative – was sie an Empathiefähigkeit gelernt hat, lässt sich in keinem Hörsaal lehren.
In meiner Schule (Herz war Leiter der Versuchsschule Bielefeld, Anmerkung) gab es einmal im Monat einen Elternsprechtag – auch wenn ich das Wort nicht mag. Da haben wir uns zusammengesetzt und besprochen, was gut läuft und was nicht. Wenn es da Eltern gab, die gesagt hätten: “Mein Kind will nicht mehr in die Schule kommen”, da wäre es doch unsere gemeinsame Aufgabe gewesen, uns was zu überlegen! Man muss schaffen, dass die Schule etwas bietet, wo die Kinder sagen: “Na, das möchte ich nicht verpassen!”
Es haben meistens diejenigen beim Elternsprechtag gefehlt, über die man gesagt hat: “Immer die, die es eigentlich am meisten bräuchten.” Das wollte ich so nicht stehen lassen und habe nachgeforscht. Die Eltern hatten zu Hause vier Kinder und kein Geld für einen Babysitter. Da habe ich den älteren Schülern Sozialkurse gegeben und von da an waren die für diesen Abend die Spielgefährten für die kleineren Geschwister ihrer Mitschüler, die Eltern konnten in die Schule kommen.
90 Prozent der 20- bis 24-Jährigen hatten 2016 (aktuellster Nationaler Bildungsbericht) in Österreich zumindest einen Abschluss der Sekundarstufe II. Damit ist der Anteil seit 2006 um vier Prozent gestiegen. In Deutschland und der Schweiz, wo das Bildungssystem mit unserem vergleichbar ist, lag der Anteil bei 78 bzw. 88 Prozent.
Und wie kann der Staat nun Bildungserfolg ermöglichen? Schließlich hat er einen Bildungsauftrag und eine Verantwortung diesen Kindern gegenüber.
Herz: Ich würde nicht sagen, dass das nur der Staat hat, sondern wir als Gesellschaft!
Wir alle müssen ein Interesse daran haben, dass Menschenbildung und dadurch Menschheitsbildung passiert.
Deswegen müssen ja auch alle zusammenarbeiten. Schulen sollten am besten Community Center sein, in denen Alt und Jung gemeinsam Erfahrungen und Begegnungen sammeln.
An einer erfolgreichen Schule sind vier Partner beteiligt. Zuallererst am wichtigsten: die Kinder, dann ihre Eltern. Dann kommen die qualifizierten Pädagoginnen und Pädagogen und als vierte Säule die Zivilgesellschaft. Das kann ein Briefmarkensammler sein oder ein Ornithologe. Das muss ich eben organisieren, dass der zu den Schülern kommt und erfahrbar macht, was sein Feld ist. Das können ruhig auch Betriebe sein, aber eben auch der Naturschutzbund. Die können Naturschutz ja viel besser erklären als der Biologie-Lehrer.
In Ihrer Traumschule hängt ganz schön viel vom Engagement der LehrerInnen ab. Da muss man als Kind Glück haben, eine gute Pädagogin zu erwischen.
Herz: Das ist ja jetzt auch schon so! Da tut man nur immer so, als könne man das mit Lernstandserhebungen und Vergleichungen und Vorgaben ausgleichen. Tatsächlich hängt der Lernerfolg aber ganz stark von der Beziehung ab. Deswegen bin ich auch gegen diese Kleingruppen mit einer Lehrerin oder einem Lehrer. Ich befürworte größere Gruppen mit mindestens vier ausgebildeten Pädagogen. Die finden sich dann schon so zusammen, wie es passt.
Jetzt gibt es Menschen, die sagen würden, dass man sich den Chef später ja auch nicht aussuchen kann und dass man besser lernen sollte, damit klarzukommen.
Herz: Aber wir wissen, dass die erfolgreichsten Firmen die sind, wo sich alle motiviert einbringen können und wo ich sagen kann: Chef, ich mach das jetzt, bis das Problem gelöst ist – anstatt alles liegen und stehen zu lassen, wenn es klingelt. Wenn meine Heizung ausfällt, will ich ja auch, dass der Installateur solange daran arbeitet, wie es braucht, sie zu reparieren, und nicht nach 45 Minuten heimgeht. Deswegen habe ich meine Klassenarbeiten auch nie beim Klingeln abgesammelt, sondern gesagt: Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht, um meine hoffentlich sinnvolle Frage gut zu beantworten. Gerne auch in der Gruppe, das ist ja viel sinnvoller als allein.
Das klingt alles so, als würden sich dann auch Spannungsfelder wie die Förderung von hochbegabten Kindern, wie Sie es waren, und Kindern, die Hilfe in der Sprache brauchen, von selbst erledigen?
Herz: Nein, das muss natürlich aktiv getan werden! Aber es ist keine Hexerei, weil es ja im ureigenen Interesse aller liegt. Da kann zum Beispiel ein 14-Jähriger, der durch Krieg gezwungen ist, Syrien zu verlassen, blitzgescheit sein. Er kommt nach Deutschland und spricht kein Wort Deutsch. Natürlich will der die Sprache lernen! Genauso, wie die anderen Kinder “hallo” in seiner Sprache lernen wollen. So lernen sie voneinander und miteinander.
Sie wurden in den späten 60er Jahren Mitglied der SPD. Ist das sozialdemokratische Versprechen nach “sozialem Aufstieg durch Bildung für alle” gescheitert?
Herz: Ich bin selbst ein Beispiel für dieses Versprechen. Mein Vater war Maurer, er wollte immer, dass ich einen vernünftigen Beruf erlerne. Und da hat das Berufsfeld Bildung nicht dazugehört. Aber ich hatte Glück und habe Menschen kennengelernt, die mir Alternativen aufgezeigt haben. Die Eltern meiner Schulkameraden. Die haben mich zu Weihnachten eingeladen, da habe ich gesehen, dass es Menschen gibt, die ganz anders leben als wir zuhause.
Dabei geht es mir aber nicht um gesellschaftlichen Aufstieg, sondern um die Möglichkeit zur Bildung. Bildung hat mein Leben gerettet. Mit 14 war ich suizidgefährdet. Zum Glück gab es Menschen in meinem Leben, an die ich mich wenden konnte. Gleichaltrige, aber auch Eltern. Dafür bin ich in meinem 77. Lebensjahr dankbar, das möchte ich zurückgeben.
Ich habe mich deswegen in der Gewerkschaft auch immer in Bildungsangelegenheiten engagiert. Bin in Hamburg zu den Werften gegangen und habe den Arbeitern gesagt, dass ihre Kinder nicht dümmer sind als die der anderen Menschen.
Das ist ja bis heute so, dass Bildung vererbt wird. In Wien hängt die Chance, ins Gymnasium zu gehen, mehr vom Schulbezirk und der Zusammensetzung der Klassen ab als von der Leistung der Kinder.
Herz: Deswegen muss Bildung auch bezirksübergreifend organisiert werden! Es darf nicht sein, dass der Wohnbezirk darüber entscheidet, wie wir lernen. Da bleibt die Elite unter sich.
Nur rund ein Drittel der Jugendlichen mit niedriger Bildungsherkunft besucht eine Matura-führende Schule. Dreiviertel der Jugendlichen, deren Eltern selbst eine Matura-führende Schule besucht haben, tun es ihnen gleich, bei Eltern mit Hochschulbildung steigert sich der Prozentsatz auf 86.
2018 besuchten 10,4 Prozent der 1,2 Mio. SchülerInnen eine Privatschule – das ist ein Plus von 15 Prozent im Vergleich zum Schuljahr 2005/06. In Wien sind es sogar 18,6 Prozent. In Österreich haben 44 Prozent aller Menschen eine Matura. Laut Nationalem Bildungsbericht 2018 wird der bis 2040 auf über 50 Prozent ansteigen.
Die Rolle des Staates ist, die nötige Vernetzung zu ermöglichen. Dabei darf Geld keine Rolle spielen. KindergartenpädagogInnen verdienen viel zu wenig. Das ist überhaupt kriminell, dass die, die für die Kleinsten sorgen, am wenigsten verdienen. Wir wissen, wie wichtig diese frühkindliche Prägung ist. Sie ist der Grundstein für unseren weiteren Lern- und Lebensweg.
Deutschland ist so reich, dass alle Kinder für ein halbes Jahr irgendwo auf der Welt leben können. Stellen Sie sich vor, was das für Weltenbürger werden könnten! Was das für eine Gesellschaft bedeuten könnte!
Sie waren selbst Schüler und jahrzehntelang Mitglied im Trägerverein der Odenwaldschule; einer Schule, die als Beispiel für antiautoritäre, linksliberale Reformpädagogik galt. 2010 kam sie durch einen erschreckenden Missbrauchs- und Vertuschungsskandal in die Schlagzeilen. Wie kann es passieren, dass selbst in einer solchen Vorzeige-Schule das Projekt Pädagogik dermaßen schiefgeht?
Herz: Ich bin froh, dass sie das ansprechen. Würde man meine Körperfunktionen messen, könnten Sie sehen, dass die bei diesem Thema völlig außer Rand und Band geraten. Es ist unverzeihlich, was da passiert ist. Ich habe an der Odenwaldschule das Glück meines Lebens gefunden. Was diesen jungen Menschen passiert ist, ist unglaublich. Und ich möchte mich bei allen entschuldigen. Ich hätte aufmerksamer sein müssen. Das hätte niemals passieren dürfen.
Was in der Odenwaldschule passiert ist, hat mir gezeigt, dass kein Ort vor Gewalt und Grausamkeit geschützt ist. Es ist für mich aber auch ein Auftrag, noch mehr in die Bildung aller Menschen zu Zivilcourage zu investieren. Nicht wegschauen, aufschreien, wenn Ungerechtigkeit passiert – egal wo. Das müssen wir von ganz klein auf lernen, damit so etwas nicht mehr passieren kann.
Wie kann also Pädagogik auf Augenhöhe inklusive Bildungserfolg für junge Menschen gelingen?
Herz: Pädagogik ist doch alles. Wir lernen immer. Das hat in seinem Kern nichts mit Messbarkeit oder Vergleichbarkeit zu tun. Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich habe nichts dagegen, dass wir Fähigkeiten erlernen, um uns miteinander zu verständigen. Dazu gehören auch Höflichkeit und kognitive Fähigkeiten, zuallererst aber Empathie und Verständnis.
Diese Menschenbildung – Menschheitsbildung – widerspricht aber nicht Qualifizierung. Sie ist ja geradezu der Hummus dafür, dass Spezialisierung und Qualifizierung aufgrund von Interesse wachsen können. Dann können Menschen Chemie und Pharmazie studieren, um uns vor dieser Pandemie zu bewahren. Aber was nutzt uns alle Qualifizierung, wenn wir sie dazu verwenden, uns schneller gegenseitig totzuschlagen, weil wir einander nicht verstehen?
Weit haben es wir, die Wähler, ob mit gesellschaftspolitisch verwertbarer Stimme oder weißem/ungültigem Votum gebracht.
fast jeder bezüglich der größten Räuber von Elite spricht.
Wo ist unsere Bildung da hingekommen?
man wenig lernen! Er glaubt an eine Elite, hehe. Der ist ja vollkommen unkritisch. So einen Lehrer will ich für meine Kinder nicht.
… dass man sich den Chef später ja auch nicht aussuchen kann … Zumindest noch!
Doch, das kann man. Zumidest noch!