Erst krempeln sie ihre Parteien um, dann den Staat: Den Konservativen geht es nicht mehr um Interessensausgleich, Konsens und Stabilität. Sie haben mit den Gewohnheiten der Politik gebrochen, setzen auf Autoritarismus und Provokation. Dabei nehmen sie auch Anleihen bei der extremen Rechten. Wir haben mit der Politikwissenschafterin Natascha Strobl über ihr neues Buch “Radikalisierter Konservatismus” gesprochen. Im Interview erklärt sie, welche Parallelen es zwischen Donald Trump und Sebastian Kurz gibt, warum der Kurz-Rücktritt kein Systemwechsel ist und was die Achillesferse des ÖVP-Obmanns ist. An progressive Kräfte appelliert sie, nicht mehr an eine konstruktive Zusammenarbeit mit Konservativen zu glauben, wenn diese sich nicht mehr an demokratische Spielregeln halten.
Kontrast.at: Frau Strobl, Ihr Buch ist nach nur einem Monat schon in der dritten Auflage. Dabei hat man das Gefühl, dass es wesentlich mehr in ausländischen Medien besprochen wurde als in den österreichischen. Ist das ein Symptom des „radikalisierten Konservatismus“?
Natascha Strobl: Ich glaube schon, dass es teilweise damit zu tun hat, dass gewisse Medien in Österreich weniger Distanz zur ÖVP haben als deutsche Medien. Dazu kommt, dass in Deutschland jetzt die Angst umgeht, was mit der CDU (die Schwesternpartei der ÖVP, Anm. der Redaktion) passieren wird. Da kann das Buch eine Hilfestellung sein, wie es mit den Konservativen in Deutschland weitergehen kann.
Kontrast.at: Was ist denn – kurz zusammengefasst – die These, die Sie in „Radikalisierter Konservativismus“ aufwerfen?
Natascha Strobl: In den letzten Jahren haben konservative Parteien begonnen, sich nach rechts zu entwickeln. Sie suchen nicht nur Allianzen mit den Rechten, sondern haben auch ihre Sprache, ihre Strategien und ideologische Elemente aus dem Rechtsextremismus übernommen.
Ich bin dagesessen, ich weiß es noch genau, es war zwei Tage vor der Geburt meiner Tochter 2019. Es war diese ganze Ibiza-Causa und Sebastian Kurz hat im Fernsehen gesprochen. Und ich habe mir gedacht: „Das gibt’s doch nicht, ich kenn das doch, so wie der spricht. Wie kann es sein, dass ein konservativer Bundeskanzler auf einmal die Strategien aus der extremen Rechten verwendet?“ Ab da hat es mich irgendwie gepackt.
Der zweite Punkt war der Vergleich mit Donald Trump, der mir sehr übelgenommen worden ist. Nicht von der ÖVP, sondern von den Grünen – das wollte ich genauer analysieren. In diesem Spannungsfeld zwischen Sebastian Kurz und Donald Trump, ließ sich ein konservatives Lager aufspannen, das nicht mehr so funktioniert, wie wir den Nachkriegskonservatismus kennen.
Es ist ein Lager, das den Status-Quo aufgibt, das nicht mehr den Ausgleich sucht zwischen konservativer Partei und sozialdemokratischer Partei, sondern woanders hinwill. Und dieses “anders“ bleibt diffus. Aber es ist ganz klar härter, autoritärer, unnachgiebiger, unbarmherziger – und näher an der extremen Rechten.
Kurz und Trump haben erst ihre Parteien umgebaut – und dann den Staat
Kontrast.at: Die Parallele zwischen Sebastian Kurz und Donald Trump ist ja auf den ersten Blick nicht offensichtlich.
Natascha Strobl: Nein, das ist es ja, sie sind eigentlich das exakte Gegenteil voneinander in ihrem Auftreten. Man hat da diesen älteren, impulsiven, „er geht jede Sekunde in die Luft“-Typ – Trump. Der ist immer auch ein wenig schwitzig und rot. Und dann hat man diesen sehr zurückhaltenden, sehr kalkulierten, nichts dem Zufall überlassenden jüngeren, sympathischen Typen – Kurz. Und das macht es ja so interessant, weil sie auf der Oberfläche das exakte Gegenteil sind. Wenn man sich dann aber die Methoden anschaut, die sie benutzten – angefangen dabei, wie schnell der Staat umgebaut wird, wie schnell Medien eingeschüchtert werden und so weiter, aber auch wie Regelbrüche inszeniert werden, wie überhaupt mit Medien umgegangen wird und wie diese Schicht über die Realität gelegt wird für die eigenen Fans – dann sieht man, dass sie gar nicht so verschieden sind.
Kontrast.at: Sie vergleichen in Ihrem Buch auch, wie beide Parteien, Republikaner und die ÖVP, umgebaut wurden.
Natascha Strobl: Hier sind zwei sehr unterschiedliche politische Systeme, in denen Parteien sehr unterschiedlich funktionieren, das muss man immer vorausschicken. Aber beide, Kurz und Trump, haben die innerparteilichen Strukturen umgangen. Weil die Machtkonzentration sehr schnell nach ganz oben gelegt worden ist. In die Führungsperson, die ein formales oder ein informelles Recht bekommen hat, alles darunter zu bestimmten.
Das ist liegt in gewisser Weise in der Natur der Sache. So ist das, wenn ein neuer Parteiobmann kommt. Aber dass quasi nachhaltig Entscheidungen passieren, nicht innerparteilich demokratisch, nicht bei der Führungsperson, sondern in so einem Zirkel, rund um die Führungsperson, der nicht demokratisch legitimiert ist, und dass alle anderen in der Partei nur noch ausführende Organe sind, das ist schon eine Machtkonzentration, die beachtlich ist. Und man sieht, wie Sebastian Kurz die ÖVP im Griff hat. Wir kennen ja die ÖVP, irgendwer sagt immer was und es gibt dann noch so Persönlichkeiten, die doch auch eine Meinung haben, auch in der Regierung. Der Guardian (Anm. der Red: Große Liberale Tageszeitung in Großbritannien) hat die Regierung des konservativen Premiers Johnson ein „potemkinsches Kabinett“ genannt. Das heißt:
Die MinisterInnen sind nur noch Fassade. Wenn du denen sagst „spring“, dann springen sie. Sie existieren nur noch in Zuwendung zu dieser Führungsperson.
Wenn man sich die republikanische Partei anschaut: Obwohl Trump abgewählt ist, obwohl der weg sein sollte, gibt es nur eine einzelne Person mit einem Amt, die offen gegen Trump agiert: Liz Cheney. Das heißt, Donald Trump hat auch hier die Partei immer noch im Griff durch informelle Mechanismen, aber auch, weil er die richtigen Leute an die richtigen Stellen gesetzt hat. Und das ist schon beachtlich, wie man eine Partei so schnell so umbauen kann, dass die innenparteilichen Strukturen nur noch in Zuwendung zur Führungsperson funktionieren.
Kurz-Rücktritt ist kein Systemwechsel – es ist Kosmetik
Kontrast.at: In Österreich ist Sebastian Kurz ist als Kanzler zurückgetreten, weil gegen ihn ermittelt wird – die ÖVP-Chats haben uns allen gezeigt, wie die ÖVP tickt und wie Putsch und Postenschacher organisiert wurden. Kurz ist jetzt ÖVP-Klubobmann aber nicht mehr Kanzler. Was heißt das für die österreichische Politik und die Macht von Kurz und der ÖVP weiterhin?
Natascha Strobl: Es ist kein Systemwechsel, keinesfalls.
Die ÖVP wird jetzt in den Wahlkampf-Modus übergehen und da ist die gesamte Partei dahinter. Die ÖVP hält an Kurz fest. Als Klubobmann hat er jetzt Narrenfreiheit – und hat damit das Beste für sich herausgeholt. Es wird wohl niemand glauben, dass Kurz jetzt brav Ausschuss-Arbeit macht, Anträge schreibt oder dergleichen. Er wird das Parlament als Bühne nutzen, um sich als verfolgter Volkstribun inszenieren.
Er wird die Zeit nutzen, um die Grünen vor sich herzutreiben und die ÖVP am Laufen zu halten. Das ist seine einzige Chance. Die einzige große Unbekannte in der Frage ist die Justiz. Wird Kurz verurteilt, fällt Kurz auch politisch. Und da hat die ÖVP das Problem: Es gibt keinen Nachfolger.
So Leute schauen wir uns in aller Kürze die Rede von Kurz an. Was war das eigentlich für eine eine Rede gestern? Welchen Zweck hatte sie?#NatsAnalyse
— Natascha Strobl (@Natascha_Strobl) October 10, 2021
Kontrast.at: Geht es Kurz „nur um Macht“ oder auch darum, eine Ideologie – seine Ideologie – durchzusetzen?
Natascha Strobl: Ich glaube, dass es in der zweiten und dritten Reihe und in diesem Beratungsumfeld Leute gibt, die sehr wohl ganz konkrete Vorstellungen haben. Und deswegen würde ich da immer ein bisschen aufpassen mit der Vorstellung, dass es Kurz nur um Macht geht und nicht um Ideologie. Denn es gibt Kapitalinteressen, es gibt Unternehmensinteressen, die ganz klar artikuliert und bedient werden – das ist Ideologie. Wenn man sagt, ‚haut auf die Kirche drauf!‘ oder ‚macht irgendwas mit Flüchtlingen, weil irgendwas mit Flüchtlingen geht immer!‘, dann hat das eine gesellschaftliche Auswirkung und dann ist das auch Ideologie.
Kontrast.at: Kurz bezeichnet sich selbst ja gern als „liberal“…
Natascha Strobl: Das ist nunmal ein Begriff, der gut klingt. In der Schweiz wollen alle liberal sein, da wollen auch die Linken liberal sein, weil da das große Rennen ist. In Österreich wollten alle ‚die Mitte sein‘ oder die Arbeiterpartei, das haben glaube ich, auch schon drei, oder vier für sich beansprucht. Aber liberal… Da geht es strategisch auch darum, nach außen hin das Schmuddelige abzuschütteln, den Rassismus und in was man sich da sonst noch alles hineinbegeben hat. Zu sagen, man sei liberal ist eine reine Verkleidungsstrategie.
Kontrast.at: Manchmal fallen ja in Bezug und Kurz und die ÖVP Vergleiche mit Viktor Orbán und dessen Fidesz. Kritiker:innen verwenden da Begriffe wie „illiberal“. Will sich die ÖVP davon bewusst abgrenzen?
Natascha Strobl: Das Ziel ist sicher, Kritiker:innen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es zeichnet die ÖVP tatsächlich aus, dass sie immer zwei Schritte voraus denkt – und Kritiker:innen hinken dann hinterher. Wenn ich betone, dass ich liberal bin, kann mir ja niemand vorwerfen, eine illiberale Demokratie aufbauen. So die Logik.
Die Konservativen sind in der Krise – und radikalisieren sich
Kontrast.at: Europaweit stecken konservative Parteien in der Krise. Im letzten Jahrzehnt hat die Europäische Volkspartei (EVP) zehn Regierungschefs in der EU verloren. Mit Deutschland verlor die Parteienfamilie auch die Mehrheit im größten Land der Union. Und manche Konservative blicken dann nach Österreich, wo die ÖVP seit 1987 in der Regierung ist.
Natascha Strobl: Immer wieder hört man die Wünsche von Konservativen, zum Beispiel aus Deutschland, dass man doch einen „deutschen Sebastian Kurz“ brauche. Weil man nach Österreich blickt und dein Eindruck hat: Dort ist man noch erfolgreich.
Die Namen, die dann als Vorschläge fallen, sind immer unterschiedlich. Friedrich Merz, Hans-Georg Maaßen, Markus Söder. Das sind Männer, von denen man denkt, dass die bereit wären, so zu agieren wie Kurz hier.
Dabei geht es nicht nur um das Auftreten, die Härte, den Inhalt – sondern auch darum, die eigene Partei umzubauen und auf die Person hin auszurichten. Und das heißt, den Umgang mit anderen Parteien ändern. Also: Mit der ungeliebten Sozialdemokratie und der Großen Koalition zu brechen. Die werden zu Feindbildern werden. Dem „Merkel-Konservatismus“ wird man nachsagen, dass der schlecht war, weil zu sozialdemokratisch. Dass die CDU/CSU durch Merkel ihre Identität verloren hätten.
Diese Niederlage bei der letzten Bundestagswahl ist der Ausgangspunkt. Man ist Zweiter geworden. Kommt die Ampel-Koalition, wurde die CDU/CSU komplett aus der Regierung verdrängt. Dieses Gefühl des Niedergangs ist dann der Ausgangspunkt für die komplette Umgestaltung.
Die Republikaner in den USA hatten das ja auch – nach Obama. Da kam dieser Obama und hat sogar Friedensnobelpreis bekommen. Die Republikaner wollten Macht und sie wollten Bedeutung in der Welt. Alles, nur nicht in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwinden. Da kam Trump wie gerufen. Mit all der Personalisierung, der Inszenierung als Retter.
Den politischen Normalzustand mit Konsens, Interessensausgleich und Stabilität gibt es nicht mehr – der ist Geschichte
Kontrast.at: Konservative versuchen also, ihre Macht zu sichern. Und das schaffen sie offenbar nur mit Radikalisierung. Was bedeutet es für uns und unsere Gesellschaft, wenn Radikale Konservative Politik machen?
Natascha Strobl: Das ganze politische System verändert sich dadurch. Es gibt den Normalzustand, den wir und unsere Eltern gekannt haben, nicht mehr. Über Jahrzehnte galt nach 1945: Es gibt eine konservative Partei und eine sozialdemokratische Partei – und die teilen sich die Macht, sorgen für Stabilität, Interessensausgleich, erhalten die soziale Marktwirtschaft, suchen Konsens. Diesen Zustand wollen die konservativen Parteien nicht mehr. Sie verlassen den Status Quo, wohin auch immer. Diesen Normalzustand gibt es jetzt einfach nicht mehr. Die Sozialdemokratie wurde zu einer konservativen Partei, weil sie alleine versucht, dieses alte System zu retten, zu erhalten. Die Sozialdemokratie beruft sich auf diese alte Normalität, auf Anstand und Moral – man verharrt in einer staatstragenden Rolle. Sie will eigentlich die Gesellschaft verändern, aber versucht jetzt mehr zu retten, was nicht zu retten ist.
Es geht nicht mehr zurück. Wir stehen vor einer Weggabelung in der Geschichte. Die Zukunft war selten so offen unklar wie jetzt. Ich bin ein 1985er-Jahrgang. Ich bin noch mit der Erzählung aufgewachsen, dass es immer Chancen gibt, dass es Aufstiegsmöglichkeiten gibt, wenn man sich anstrengt. Dass man immer irgendwie sicher ist und einen guten Job hat, wenn man eine Ausbildung macht oder studiert. Das ist aber alles vorbei. Die Generationen nach uns leben in einer ganz anderen Realität.
Es knackt und kracht an allen Ecken. Und jetzt sind wir an dieser Weggabelung angelangt, an der klar ist: Es gibt kein Zurück und es wird anders. Das heißt aber auch: Es könnte besser werden. Nur irgendwer muss dieses „Besser“ formulieren, sichtbar machen, greifbar machen und politisch darum kämpfen.
Und das kann ich nicht, wenn ich nur sage, „ich möchte eigentlich, dass es so ist wie es mal war“. Das steht man auf völlig verlorenem Posten. Aber viele Sozialdemokratien kämpfen noch genau um das. Die österreichische auch. Andere haben es verstanden. Portugal zum Beispiel. Über die Demokraten in den USA können wir reden. Denn auch Biden will und muss ein Programm umsetzen. Auch, weil es einen Druck von links gibt, das zu tun.
Kontrast.at: Auf der einen Seite stehen die Konservativen, die sich radikalisieren, auf der anderen Seite ist eine pluralistische Linke. Ist Pluralismus eher eine Stärke oder eine Schwäche.
Natascha Strobl: Pluralismus ist etwas Gutes. Es muss nicht jeder exakt dieselben Ansichten und das gleiche Ausmaß an Wissen zu allem haben. Wichtig ist, dass es eine gemeinsame Klammer gibt, die man möglichst weit spannen kann. So, dass es klare rote Linien gibt, aber viele mitkönnen. Die Frage ist jetzt natürlich: Was ist die Klammer? Ich glaube, dass es eine Partei sein muss, weil das eine demokratische und politische Organisationsform ist, die handlungsfähig ist. Und was die ideologische Klammer sein sollte, ist Antikapitalismus. Der Gedanke, dass es nur besser wird, wenn wir einem anderen System als in diesem neoliberalen kapitalistischen System leben, das muss meines Erachtens die Klammer sein. Denn es betrifft uns alle. Echter Klimaschutz funktioniert auch nicht mit ein paar Rädchen im vorhandenen System drehen. Wir sind ja nicht mit Wasserstoffautos gerettet, sondern müssen die Art, wie wir produzieren, verändern. Das kann ich wiederum nicht entkoppeln von Arbeitsbedingungen. Es hängt ja alles miteinander zusammen. Patriarchale Verhältnisse. Warum bleiben die denn am Leben? Weil Kapitalismus auf der Trennung von Reproduktion und Lohnarbeit aufgebaut ist. Und das kann ich alles durchdeklinieren. Und um das zu verändern, muss man sich zusammenraufen.
Wir haben nur uns. Wir müssen uns so zusammenraufen, wie wir sind. Raus ist nur ein Weg nach vorne, anders wird es nicht gehen. Und bei allem, was man kritisch und was man miteinander aushandeln muss, ist das, wofür man gemeinsam kämpft auf jeden Fall besser als eine Zukunft, wie die Rechten sie sich vorstellen.
Kontrast.at: Sie analysieren in Ihren Büchern und Texten sehr genau, welche Strategien die Konservativen, die Rechten, die Rechtsextremen anwenden. Gibt es etwas, dass sich linke Kräfte davon abschauen könnten?
Natascha Strobl: Nein. Das klingt jetzt unfair – denn die Rechten klauen so oft von Linken und umgekehrt geht es nicht so einfach. Ich glaube, was man sich abschauen kann, ist, sich nicht in die „Bewahrer“-Rolle hineindrängen zu lassen. Man muss nicht staatstragend sein. Man kann und darf mit dem Status Quo brechen.
Wir erleben eine Zeit der Veränderung und des Aufbruchs. Es wird nunmal alles unübersichtlich und schwierig. Das heißt aber auch, dass man alles neu ordnen kann. Dazu darf man aber nicht klein denken, sondern muss eine große Perspektive auf die Welt haben. Man darf auch nicht vor einem gewissen Pathos scheuen, sich als politische Kraft nicht selbst klein machen, sich verstecken und nur im Konjunktiv bleiben.
Dazu braucht einen großen Gesellschaftsentwurf. Und bevor es den gibt, braucht es eine große Analyse, wo man überhaupt steht. Und das sehe ich in Österreich überhaupt nicht, dass es sie gibt.
Man darf nicht auf eine ‚kosmische Gerechtigkeit‘ warten, sondern muss sie selbst schaffen
Kontrast.at: Was ist aus Ihrer Sicht die Achillesferse von Sebastian Kurz? Was bringt ihn aus dem Gleichgewicht?
Natascha Strobl: Eine der wichtigsten Sachen, die man machen muss, ist, ihn auf Augenhöhe zu bringen. Denn auf Augenhöhe fühlt er sich am unwohlsten. Denn er braucht entweder die Position als Held, als Opfer oder als Märtyrer. Alles Positionen, in denen er anscheinend über uns steht. Die Person, die ihn bis jetzt am besten „heruntergeholt“ hat, ist die Journalistin Alexandra Wachter von Puls4. Die hat ein Interview mit ihm mal begonnen mit: ‚Herr Kurz, wir sind ja beide dieselbe Generation. Wir sind in Frieden aufgewachsen und haben die Vorteile der EU kennengelernt.‘ Sinngemäß. Kurz war absolut verdattert. Weil es keinen Zauber gibt. Wenn er nur dieser junge Mann Jahrgang 1986 ist, der ist wie viele andere auch.
Das ist das Eine. Das Andere ist, dass man nicht darauf warten darf, dass eine kosmische Gerechtigkeit einsetzt. Dass Akteur:innen für ihr Handeln bestraft werden. Weil sie schlimme Dinge sagen, weil sie sich nicht an gängige politische Praktiken halten oder dergleichen. Wenn man Gerechtigkeit will, muss man die selbst schaffen. Appelle an Respekt, Humanität, an Usancen… die helfen nicht. Grenzüberschreitungen sind keine Ausrutscher, sondern haben Strategien. Zu hoffen, man kann solche politischen Akteur:innen dazu bringen, wieder vernünftig, staatstragend zu handeln, damit man auch wieder zusammenarbeiten kann, funktioniert nicht.
Kontrast.at: Was möchten Sie unseren Leser:innen – und den Leser:innen ihres Buches – mitgeben? Was ist wichtig, das hängen bleiben soll?
Natascha Strobl: Wir dürfen nicht in Fatalismus verfallen. Es hat auch etwas Gutes, wenn die Zukunft offen ist. Es passiert so viel und es ist so viel möglich im Moment, im Guten wie im Schlechten. Das Leben in dieser unseren Zeit kann auch viel besser werden. Wir sollten es uns bewahren, hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen. Denn für eine bessere Zukunft lohnt es sich zu kämpfen – egal, auf welcher Ebene.
Natascha Strobl: Radikalisierter Konservatismus. (Suhrkamp 2021) |
Natascha Strobl ist Politikwissenschafterin und Publizistin. In ihrem Buch “Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse“, erschienen im September 2021 im Suhrkamp-Verlag, untersucht Strobl die rhetorischen und politischen Strategien konservativer Parteien und den Personen an ihrer Spitze. Statt inhaltlicher Auseinandersetzung suchen die Parteien die Konfrontation. In ihren eigenen Parteien reduzieren sie die Demokratie, setzen auf kleine Beraterzirkel und Personalisierung. Dabei greifen sie, so die Autorin, immer wieder auch auf die Methoden rechtsextremer Bewegungen und Organisationen zurück. |