Mutterschutz ohne Kündigungsschutz, nur vier statt fünf Wochen Urlaub oder offene Türen für Lohn- und Sozialdumping? Aufgepasst: Das wollten Wirtschaftskammer (WKO), Industriellenvereinigung (IV), ÖVP und FPÖ schon 2018 unter dem Deckmantel „Bürokratieabbau“. Ein Beitrag von Autor Michael Mazohl in seiner Kolumne „Klassenkampf von oben“.
Ein piepsendes Objekt mit der Größe eines Wasserballs löste 1957 in den USA einen Schock aus: Die Sowjetunion hatte mit Sputnik 1 den ersten künstlichen Satelliten in die Erdumlaufbahn geschossen. Die USA hatten den technologischen Vorsprung der Sowjets unterschätzt.
Wie konnte Russland Amerika derart überholen? Der deutsche Raketenwissenschaftler Wernher von Braun, der trotz seiner SS-Mitgliedschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA geholt worden war, um dort in leitender Position an der Entwicklung des Raumfahrtprogramms mitzuwirken, hatte dafür eine Erklärung: „Bei der Eroberung des Weltraums sind zwei Probleme zu lösen – die Schwerkraft und der Papierkrieg. Mit der Schwerkraft wären wir fertig geworden.“
Es sind Geschichten wie diese, die uns vor Augen führen sollen: Dieser Papierkrieg, diese überbordenden Vorschriften, kurz gesagt, diese Bürokratie sei nichts weiter als ein Hemmschuh, der Innovationen und Investitionen behindere, der unsere Wettbewerbsfähigkeit verringere und dem Wirtschaftsstandort schade.
Allerdings: Berechtigte Bürokratiekritik wird mit Vorsatz zum Deckmantel für Sozialabbau gemacht. Aber der Reihe nach.
Bürokratie als Mitleidsmasche großer Unternehmen
Der Bürokratie-Unmut der österreichischen Wirtschaftslobbies entlud sich im Dezember des vergangenen Jahres bei einer Veranstaltung der Wirtschaftskammer mit dem Titel: „Das Labyrinth der Bürokratie: Kann sich unser Wirtschaftsstandort das noch leisten?“ Wirtschaftsminister Martin Kocher wurde mit der Keynote betraut, sie trug den Titel: „Bürokratieabbau als Schlüssel zu mehr Wettbewerbsfähigkeit.“
Burgenlands Wirtschaftskammerpräsident Andreas Wirth legte nach: „Bürokratie, Dokumentationspflichten und Kontrollen sind die rauchenden Bremsklötze der Betriebe. Es braucht ein klares und schlankes Regelwerk, damit wir Unternehmerinnen und Unternehmer uns wieder um unsere Kernaufgaben kümmern können: Produkte auf den Markt bringen und Dienstleistungen anbieten.“ Jürgen Mandl, Präsident der Wirtschaftskammer Kärnten, legte noch eins drauf: „In allen Unternehmerumfragen nehmen die überbordende Regelungswut der Verwaltung, ausufernde Dokumentationspflichten und Behördenschikanen Spitzenplätze bei den größten Ärgernissen und Hemmnissen für Unternehmerinnen und Unternehmer ein.“
Wenn man sich das so anhört, kann (und soll) man regelrecht Mitleid verspüren. Eine Falle, denn hinter dieser sehr vagen und unkonkreten Jammerei geht es ans Eingemachte. Was wirklich im Detail auf der Wunschliste steht, das wissen wir sehr genau seit dem August 2018.
Die Gold-Plating-Liste des Grauens: Diesen Sozialabbau wollten IV und WKO unter dem Vorwand des Bürokratieabbaus
Im Jahr 2018 wurde nämlich eine Liste bekannt, die seither als „Gold-Plating-Liste“ oder auch „Liste des Grauens“ bezeichnet wird. Sie entstand auf Initiative der damaligen schwarz-blauen Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz. Ziel war es, nationale Vorschriften, Gesetze und Verordnungen zu identifizieren, die über die Mindestanforderungen der EU hinausgehen und vermeintlich unnötige Bürokratie verursachen.
Die Regierung bat die Wirtschaftskammer (WKO), die Industriellenvereinigung (IV) und andere Interessenvertretungen, bis Mai 2018 Vorschläge einzureichen, welche Regelungen abgeschafft oder angepasst werden sollten. Es handelt sich also im Prinzip um den Wirtschaftsflügel der ÖVP, der lieber mit den Freiheitlichen koalieren möchte als mit der SPÖ – und dazu Bundeskanzler Nehammer sozusagen mit der Kettensäge abmontiert hat.
Die Liste mit ungefähr 500 Punkten wurde von einem Whistleblower geleakt und löste einen ordentlichen Bahö aus, wie man in Wien so schön sagt, also großes Aufsehen. Auch auf EU-Ebene stieß das Vorgehen der österreichischen Bundesregierung auf Unverständnis, da es den Geist und die Legitimität der EU-Sozial- und Umweltschutzpolitik von Grund auf infrage stellte.
Die Vorschläge der Gold-Plating-Liste hatten es in sich. Die Wirtschaftslobby strebte die Reduktion des Jahresurlaubs von fünf auf vier Wochen an – vier Wochen, wie es die EU-Mindeststandards vorsehen. Ebenso wurden Überstundenzuschläge, der Kündigungsschutz für Schwangere – also der Mutterschutz – sowie Mindestlohnsätze bei sogenannten Entsendungen infrage gestellt, also wenn Firmen aus dem Ausland Mitarbeiter:innen nach Österreich schicken. Weitere Forderungen betrafen den Konsumentenschutz, etwa das Erschweren von Verbandsklagen, die Lockerung von Fahrgastrechten oder die Einführung zusätzlicher Gebühren für Papierrechnungen und Bargeldabhebungen. Selbst Sicherheitsstandards und vor allem Arbeitsschutzbestimmungen sollten reduziert werden.
Wenn weniger Bürokratie zu weniger Schutz, weniger Urlaub und weniger Rechten führt
Darauf müssen wir genau aufpassen: Wenn es vermeintlich um Bürokratieabbau geht, darf nicht Sozialabbau gemeint sein. Denn nur zu oft ist hinter dem Jammern der Wirtschaftslobbies der Wunsch versteckt, nicht einfach nur überbordende Vorschriften zu reduzieren, sondern Beschäftigte auf ihre Rolle als Kostenfaktoren zu reduzieren – mit weniger Schutzbestimmungen, weniger Urlaubsanspruch und weniger Rechten. Bei nicht ganz vier Millionen unselbständig Beschäftigten würde damit der Lebensstandard des ganzen Landes sinken.
Genau das würde wohl erneut Scharen in die Arme der FPÖ treiben. Genau das zu erkennen, ist alles andere als Raketenwissenschaft.
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