Wer sich einen Privatarzt nicht leisten kann, sucht in Österreich vielerorts lange nach einem passenden Facharzt bzw. einer Fachärztin. Der Ärztemangel in Niederösterreich ist nicht nur in ländlichen Regionen, sondern auch in Städten wie St.Pölten oder Wiener Neustadt inzwischen ein großes Problem. Die von ÖVP-Landeshauptfrau Mikl-Leitner versprochene Landarzt-Garantie hat das Problem nicht gelöst. Stattdessen könnten Gemeinschaftspraxen, zugänglichere Studienplätze sowie ein Landarzt-Stipendium dem Ärztemangel entgegenwirken.
Vergegenwärtigt man sich die österreichische Situation im Allgemeinen, kann man sagen: Wer ärztliche Hilfe benötigt, bekommt sie auch. Wie schnell und zu welchem Preis ist jedoch eine andere Frage. Der Ärzte- und Ärztinnenmangel ist kein allumgreifendes Problem. Noch nicht. Sucht man hingegen nach der Abdeckung von Fachärzten – obendrein mit Kassenvertrag – wird es schon düsterer. Und in wenigen Jahren spüren wir den Ärztemangel dann wohl fachübergreifend im ganzen Land. Denn bis 2030 gehen etwa zwei von drei Hausärzt:innen in Pension, bei den Fachärzt:innen sind es sechs von zehn. Bei Orthopäden, Frauen- und Kinderärzt:innen werden 65 Prozent aufhören, in ihren Ordinationen zu arbeiten. Gleichzeitig wird die Bevölkerung immer älter und mit steigendem Alter nehmen gesundheitliche Probleme und der Bedarf an Untersuchungen, Diagnosen und Behandlungen zu. Was dann? Oder vielmehr: Was tun bis dahin, um den akuten Ärztemangel zu verhindern?
Die Ärztedichte ist hoch, aber Kassenärzt:innen für Fachbereiche fehlen vielerorts
Auf den ersten Blick sieht die Lage entspannt aus: In Österreich praktizierten 2021 rund 48.700 Ärzte und Ärztinnen. Im europäischen Vergleich hat Österreich die größte Ärztedichte – also das beste Verhältnis zwischen Ärzt:innen und Einwohner:innen. Auf 100.000 Einwohner:innen kamen 2021 etwa 526 Ärzt:innen. In Norwegen, das auf Platz zwei rangiert, sind es etwa 497.
Es gibt in Österreich also genug Ärzt:innen – als Gesamtzahl, erklärt auch der Wiener Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer immer wieder. Nur: diese Ärzt:innen ordinieren nicht gleichmäßig über Städte und Gemeinden verteilt, sie haben nicht alle Kassenverträge, decken nicht alle Fachrichtungen ab – und sie arbeiten oft in Krankenhäusern statt in Ordinationen. Soll heißen: Es gibt einen Ärztemangel – und den spüren wir, wenn wir als Patientin z.B. für unser Kind eine Kassen-Kinderärztin suchen. Zum Beispiel in St. Pölten.
Ärztemangel in Niederösterreich: „Uns gehen auch in den Städten die Kassenärzte aus“
Im Bezirk St. Pölten leben über 132.000 Menschen. Momentan sucht der Bezirk händeringend drei Hausärzt:innen und vier Fachärzt:innen. Doch die Praxen bleiben unbesetzt. In der Stadt St. Pölten wurde eine offene Kinderärzt:innenstelle zwei Jahre lang über 70 Mal ausgeschrieben. Ende September 2022 übernahm ein junger Kinderarzt die Praxis.
„Es ist Tatsache, dass uns nicht nur am Land, in entlegeneren Bereichen, die Kassenärzte ausgehen, sondern auch in den Städten“, erklärt der St. Pöltener Bürgermeister Matthias Stadler. Dort, wo Ärzt:innen – vor allem Fachärzt:innen – ordinieren, versorgen sie zum Teil je zigtausende Menschen.
Eine Hausärztin in der Stadt St. Pölten versorgt fast 2.200 Patient:innen. Auf einen Gynäkologen kommen fast 5.750 Patientinnen, auf eine Lungenfachärztin über 28.000. Die Stadt wandte sich in ihrer Sorge auch an die Bundesregierung und regte an, die Rahmenbedingungen für niedergelassene Ärzt:innen zu verbessern. Die Antwort des Gesundheitsministeriums war ernüchternd: „Von einem Ärztemangel oder von Versorgungsengpässen in Österreich (könne) keine Rede sein“.
St. Pölten ist in Niederösterreich leider keine Ausnahme, wenn es um leer stehende Praxen oder eine zu niedrige Patient:innen-Abdeckung geht.
Auch in Tulln und Wiener Neustadt mussten Kassen-Stellen zig-Mal ausgeschrieben werden
Auch in Tulln mit seinen fast 17.000 Einwohner:innen ist die Ärztesituation angespannt. 42 Mal hat man dort die Stelle für einen Kassenplatz für eine Kinderordination ausgeschrieben – ohne Erfolg, wie Doris Hahn erzählt. Sie ist Bundesrätin und Tullner Bezirkschefin der SPÖ. Wahlärzte und Wahlärztinnen gibt es in Tulln in verschiedenen Bereichen zwar genug, aber Kassen-Ärzt:innen zu finden, ist schwierig. Drei Kinderärzt:innen mit Kassenvertrag stehen 13 Kinder-Wahlärzt:innen gegenüber. Ein Besuch – für ein Kind – kann gut und gern über 100 Euro kosten. Neurolog:innen mit Kassenvertrag sucht man vergeblich. Auf einen Urologen in Tulln kommen 4.500 Patienten über 60 Jahre, jüngere gar nicht eingerechnet.
In Wiener Neustadt hat man, Stand Herbst 2022, eine Hausarztstelle 20 Mal ausgeschrieben, eine Kinderarzt-Stelle sieben Mal. Auf eine Kinder-Kassenärztin kommen 6.400 kleine Patient:innen, auf eine Kassen-Gynäkologin 8.000 Frauen, auf eine Lungenfachärztin 63.000 (!) Patient:innen. Wer akut Hilfe braucht, muss zahlen – und auf Wahlärzt:innen ausweichen. Wer es sich nicht leisten kann, muss warten oder verzichtet auf eine Untersuchung und Behandlung, was mit Folgerisiken einhergeht.
Ulrike Königsberger-Ludwig ist als Landesrätin für Gesundheit zuständig und beobachtet diese Zahlen mit Sorge. „Es kann nicht sein, dass Menschen für die Versorgung bezahlen müssen. Wir wollen kein System, in dem sich Menschen ihre Gesundheitsversorgung nicht leisten können“, sagt sie. Geht es nach ihr, sollen die Bedingungen, zu denen Kassenärzt:innen arbeiten, besser gestaltet werden, damit sich Ärzt:innen auch außerhalb von Großstädten niederlassen und dort eine gute Zukunft sehen. Denn die sind vor allem für junge Mediziner:innen schwierig.
Hausärztin werden heißt: lange Ausbildungsdauer und Risiken als Selbständige – da ziehen viele den sicheren Krankenhausjob vor
Wenn junge Mediziner:innen ihre Ausbildung absolviert haben, wählen viele ein Krankenhaus als Berufsort. Dort sind Arbeitszeiten geregelt, sie sind angestellt, es gibt viele Kolleg:innen und Aufstiegsmöglichkeiten. Zudem liegen Krankenhäuser zentral, haben also eine gute Anbindung ans Straßen- und Öffi-Netz.
Als Ärztin mit eigener Ordination sieht die Lage anders aus: Man ist selbständig, muss sich betriebswirtschaftliches Wissen aneignen und braucht Startkapital – bzw. einen Kredit – um die Ordination auszustatten. Eine Einrichtung samt Geräte kostet schnell 300.000 Euro. Und man muss Mitarbeiter:innen und die Miete bezahlen können.
Und dann kommt noch die Ausbildungsdauer dazu. Um Hausärztin zu sein, muss man nach dem Studium noch eine Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin dranhängen – die dauert mindestens drei Jahre, meist vier. Um als Fachärztin arbeiten zu können, kommen noch mal drei bis Jahre obendrauf. Dann ist man Mitte dreißig.
Da überlegt man dann genau, wo man seinen Lebensmittelpunkt hat bzw. haben will – und ob man einen Kassenvertrag will, der genau vorschreibt, wie und wann man zu arbeiten hat.
Gemeinschaftspraxen, flexiblere Arbeitszeiten und attraktivere Ausbildung als Lösungen
Der Arbeitsalltag in einer Einzelpraxis wird oft als isoliert wahrgenommen. Gemeinschaftspraxen sind da eine gute Alternative. In Tulln haben sich drei Ärzt:innen zusammengetan, um den Bedarf nach Kassen-Hausärzt:innen zu decken. Sie sind Krankenhaus-Angestellte und teilen sich eine Kassen-Stelle in der Gemeinschaftspraxis „ETW Tulln“. „Wir sind zu dritt ein Hausarzt“, erklärt Nicole Edhofer. Man teilt sich die vorgeschriebenen Arbeitszeiten, kann sich wechselseitig um Einschätzungen bitten und vertreten.
Jeder Vierte, der das Medizinstudium abgeschlossen hat, bleibt erst gar nicht in Österreich. In Ländern wie Deutschland oder der Schweiz ist die Fachausbildung attraktiver, sowohl was die Arbeitszeiten als auch die Bezahlung anbelangt, erklärt Sophie Fößleitner. Sie arbeitet am Institut für Höhere Studien im Fachbereich Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik. Die Bedingungen sind hierzulande sogar je nach Bundesland unterschiedlich: In Wien wird die Facharzt-Ausbildung gut bezahlt, in Niederösterreich schlechter. Fößleitner glaubt, man muss also schon bei der Ausbildung ansetzen. Das heißt auch: Nicht schon beim Weg von der Schule an die Universität motivierte Menschen vergraulen:
„Die Zugangsbeschränkungen sind kontraproduktiv. 9 von 10 jungen Menschen, die Medizin studieren wollen, werden nicht genommen. Im Gegenzug entstehen immer mehr Privatunis, die jedoch nicht für alle zugänglich sind“, kritisiert Fößleitner.
SPÖ will Studienplätze zugänglicher machen und ein Landarzt-Stipendium
Angesichts der schon jetzt spürbaren Ärzteknappheit bei Kassenordinationen und Fachbereichen ist das Thema Ärztemangel auch Thema des Landtagswahlkampfes in Niederösterreich geworden. Die SPÖ möchte Studienplätze für Niederösterreich reservieren.
Das würde bedeuten, dass sich Studierende bereiterklären, nach ihrer Ausbildung für eine bestimmte Zeit in Niederösterreich als Kassenarzt oder Kassenärztin arbeiten. Im Gegenzug dafür soll es Erleichterungen beim Eignungstest und während des Studiums geben. Damit würde man – anders als beim Landarztstipendium – schon am Beginn der Ausbildung ansetzen.
So hat zum Beispiel das österreichische Bundesheer zehn Plätze für künftige Militärärzt:innen reserviert. Sie bekommen schon während des Studiums ein Gehalt und müssen eine niedrigere Schwelle beim Aufnahmetest überwinden.
Die Sozialdemokrat:innen wollen auch die Gemeindeärztin wieder einführen: Diese kann, z.B. finanziert vom Land, schulärztliche Aufgaben übernehmen und bestimmte Untersuchungen anbieten, etwa Führerschein-Untersuchungen. Das würde andere Ärzt:innen entlasten.
Mikl-Leitners versprochene Landarzt-Garantie ist gefloppt
Vor der letzten Landtagswahl in Niederösterreich – vor fünf Jahren – versprach die ÖVP unter Johanna Mikl-Leitner eine „Landarzt-Garantie“. Indem Ärzt:innen aus Krankenhäusern vorübergehend in Kassenpraxen aushelfen, sollte die Nachfrage gedeckt werden. Doch die „Garantie“ entpuppte sich als Flop. Wie das „Profil“ recherchierte, hat sich die Zahl leerer Kassenpraxen seit 2018 versiebenfacht. Insgesamt stehen 20 Praxen seit über einem Jahr leer. Das Urteil der Ärztekammer über das einstige Wahlversprechen ist ernüchternd:
„Es war vorhersehbar, dass das Projekt scheitern würde. Wohnortfremde Ärzte für eine ‚Garantie‘ einzusetzen, hat nicht funktioniert.“