Laut einer Studie des European Trade-Union Institute (ETUI) nimmt die Ungleichheit in Europa weiter zu. Eine mögliche Lösung: Endlich angemessene Mindestlöhne und Tarifbindung. Die EU-Kommission schlägt nun dazu eine Richtlinie vor. 25 Millionen Menschen würden direkt davon profitieren. Obendrein würden höher Mindestlöhne dazu beitragen, die Lohnscheren zwischen Männern und Frauen zu schließen.
25 Millionen Europäer und Europäerinnen arbeiten Vollzeit und leben trotzdem unterhalb der Armutsgrenze. Nach Abzug der Miete und den Fixkosten ist vom Lohn nicht mehr genug übrig, um anständig zu leben. Ein Unfall, eine Krankheit oder eine unerwartete Rechnung werden zur existenziellen Bedrohung. Die Corona-Pandemie verschärft diese Ungleichheit weiter. Die Hälfte der 25 Millionen entfällt auf Deutschland (6,8 Mio.), Spanien (4,1) und Polen (4,0). Eine Erhöhung des Mindestlohns würde diese 25 Millionen Menschen aus der Armut holen.
In fast allen EU-Staaten ist der Mindestlohn zu niedrig
In 21 von 27 EU-Staaten gibt es einen Mindestlohn: „In der Mehrheit ist dieser allerdings zu niedrig im Verhältnis zu den jeweiligen Durchschnittsgehältern und den Lebenskosten“, so die EU-Kommission. Zu niedrig, um angemessen zu leben – trotz Arbeit. In Luxemburg ist der Mindestlohn mit 12,73 Euro Stundenlohn am höchsten, in Bulgarien am niedrigsten: Er beträgt 2 Euro pro Stunde. In beinahe der Hälfte aller EU-Staaten liegt der Stundenlohn unter 5 Euro.
Die absolute Höhe des jeweiligen Mindestlohns sagt jedoch relativ wenig über die finanzielle Lage der EmpfängerInnen aus. Deshalb fordert die EU-Kommission einen verpflichtenden Lohnverteilungsansatz, der die Höhe des jeweiligen Mindestlohns festlegt.
Die „Doppelte Anstandsschwelle“: Mindestlohn soll 50 % des Durchschnittseinkommens und 60 % Medianeinkommens betragen
Die sogenannte „Doppelte Anstandsschwelle“ gilt international als Richtwert, wenn es um die Festlegung eines angemessenen Mindestlohns geht. Nach dieser soll ein Mindestlohn 50 % des Durchschnittseinkommens und 60 % des Medianeinkommens betragen. Zur Erklärung: Der Einkommensmedian teilt die Gehälter einer Gesellschaft in der Mitte. Er ist die Grenze zwischen den oberen 50 % und den unteren 50 %.
Kein einziger EU-Staat wurde 2020 dieser „Doppelten Anstandsschwelle“ gerecht. „Im Gegenteil, die aktuellen Mindestlöhne liegen in der überwiegenden Mehrheit der EU-Länder weit unter der doppelten Anstandsschwelle“, so Torsten Müller, einer der Autoren der Benchmarking-Studie.
Höherer Mindestlohn verringert Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern
Ein angemessener Mindestlohn verbessert die allgemeine Lohnstruktur, denn er beeinflusst die Entwicklung der anderen Lohngruppen. Da immer noch mehr Frauen als Männer, mehr Migranten als Einheimische und mehr Junge als Alte im Niedriglohnsektor arbeiten, trägt dieser außerdem zur allgemeinen Gleichheit und gesellschaftlicher Fairness bei. Ein Mindestlohn in Höhe der „Doppelten Anstandsschwelle“ würde das Leben von 25 Millionen Menschen schlagartig verbessern. Allein in Griechenland würde sich das Lohngefälle zwischen Männer und Frauen um 19 %, in Rumänien um 25 % und in Polen um 12 % reduzieren.
EU braucht mehr Tarifverträge: Ein Mindestlohn mit „Doppelter Anstandsschwelle“ reicht nicht aus
In Ländern wie Portugal, Bulgarien und Rumänien sind Durchschnittseinkommen und Einkommensmedian allgemein zu niedrig. Eine Anpassung des Mindestlohns an diese reicht dort nicht aus. Deshalb ist es wichtig, die allgemeine Lohnstruktur in Europa zu ändern. Hierfür braucht es Kollektivverträge bzw. Tarifbindungen. Diese stärken die Position der Beschäftigten, verringern die Lohnungleichheit und wirkt Niedriglohnsektoren entgegen.
„Länder mit einer hohen Tarifbindung haben tendenziell eine viel geringere Lohnungleichheit und weniger Niedriglohnsektoren.“
Zu diesem Schluss kommen Torsten Müller, Kurt Vandaele und Wouter Zwysen, Autoren der Benchmarking Working Europe 2021 Studie. In 16 der 27 EU-Staaten liegt die tarifvertragliche Deckung unterhalb der von der EU-Kommission geforderten 70 %. Vorbild hingegen sind Länder wie Österreich und Italien. So gelten in Österreich alle von der Wirtschaftskammer unterzeichneten Tarifverträge für die entsprechenden Branchen.
Die Corona-Pandemie verstärkt die Ungleichheit in Europa weiter, sagt das ETUI
„Es ist fast zu einem Klischee geworden zu sagen, dass die Covid-19-Pandemie bereits bestehende Ungleichheiten verschärft und gleichzeitig neue Ungleichheiten geschaffen hat.“ Philippe Pochet, Luca Visentini und Nicola Countouris, die AutorInnen der Benchmark Working Europe Studie des European Trade-Union Institutes (ETUI).
Frauen, junge Menschen und MigrantInnen sind von der Pandemie am meisten betroffen. Sie arbeiten vermehrt in Branchen mit prekären Arbeitsverhältnissen und schlechtem Arbeitsschutz. Meisten verlieren genau diese Menschen als Erstes ihre Anstellung. Sie wählen zwischen Jobverlust oder gesundheitlichen Risiken. Sie können nicht – wie viele besser qualifizierte – von Zuhause aus arbeiten.
Die Ungleichheit ist das Ergebnis eines neoliberalen Wirtschaftsmodells
Die Corona-Pandemie verstärkt die bereits bestehenden sozialen Ungleichheiten, aber sie ist nicht deren alleinige Ursache. „Die Ungleichheit ist das Ergebnis eines Wirtschaftsmodells, das in den letzten drei Jahrzehnten immer weniger Reichtum an die unteren Schichten der Gesellschaft verteilt hat, während oben immer mehr angehäuft wurde“, heißt es in der Studie des ETUI. Die ungleiche Verteilung von Wohlstand, Macht und Teilhabe, ist ein strukturelles Problem.
Und genug Politiker verdienen so viel, dass sie es aus dem Fenster werfen können.
Und dabei arbeiten Politiker meines erachtens nicht wirklich.
Dazu ist auch zu beachten was man als “arbeiten” definiert.