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Ungarn und Polen blockieren EU-Budget, um Pressefreiheit und unabhängige Justiz zu verhindern

Von Kancelaria Sejmu / Paweł Kula - Viktor Orban w Sejmie, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74964499

Ungarn und Polen blockieren die Budget-Verhandlungen weiterhin. Denn die Auszahlung von Fördergeldern soll in Zukunft  an die Einhaltung der Rechstaatlichkeit geknüpft sein. Dazu gehören vor allem eine unabhängige Justiz und Pressefreiheit. Das hat das EU-Parlament bereits beschlossen. Ungarn und Polen sind darüber erzürnt: Sie verhindern mit ihrer Blockade nun den Beschluss des gesamten EU-Budgets. Und damit auch die dringend benötigten Corona-Wiederaufbaugelder. Dabei sind es Ungarn und Polen, die am meisten von den EU-Geldern profitieren.

Das EU-Gipfeltreffen der europäischen Regierungsspitzen dauerte letzte Woche wieder bis spät nachts. Einigung konnte keine erzielt werden. Keiner will von seinem Standpunkt abweichen. Mitunter erschwerend kam hinzu, dass das wichtige Treffen wegen Corona nur im virtuellen Raum stattfand.

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Das virtuelle Gipfeltreffen der EU-Spitzen. Foto: APA (AFP)/OLIVIER MATTHYS

Eigentlich sollte bei dem Gipfeltreffen das gemeinsame Vorgehen gegen die Corona-Pandemie oder das Brexit-Abkommen diskutiert werden. Stattdessen ging es (wiedereinmal) um das gemeinsame EU-Budget. Dieses wird alle sieben Jahre ausverhandelt. Alle EU-Ländern müssen es gemeinsam einstimmig beschließen. EU-Kommission und EU-Parlament haben sich bereits auf das Budget geeinigt, jetzt müssen alle Regierungschefs der Mitgliedsstaaten zustimmen.

Ungarn und Polen legen Doppelveto ein

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Viktor Orbán wurde in den letzten Jahren immer wieder stark für Einschränkungen der Grundfreiheiten in Ungarn kritisiert. Trotzdem erhält Ungarn die zweithöchste Summe an EU-Geldern.

Ungarns Premier Viktor Orbán und Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki beanstanden nun den sogenannten „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“. Dieser knüpft die Vergabe von Fördergeldern an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit, wie etwa eine freie Justiz oder die Pressefreiheit. Der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus kann mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Also ohne die Zustimmung Ungarns und Polens, das EU-Budget aber nicht. Deswegen blockieren sie nun im Gegenzug dort mit einem Doppelveto.

Ungarn und Polen schützen sich gegenseitig vor Sanktionen

Beide Länder stehen unter Kritik, die Grundrechte ihrer Bevölkerung immer weiter einzuschränken. In Polen kommt es etwa bereits seit Ende Oktober trotz Corona zu massiven Protesten der Bevölkerung, da die konservative Regierung mit einem neuen Verbot das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche de facto abschafft.

Aber auch für Ungarn hagelt es immer wieder internationale Kritik. So nutzte Orbán zuletzt auch die Corona-Welle im Frühling, um mehr als 100 neue Dekrete zu erlassen, die die Freiheiten der Bevölkerung dauerhaft einschränken.  Außerdem stimmte er gegen das Gewaltschutzpaket zum Schutz von Frauen. Dieses wurde auch in Polen von der konservativen Regierungspartei PiS verhindert.

Das sogenannten Artikel-7 Verfahren, das auf europäischer Ebene deswegen gegen beide Länder geführt wird, kann nichts ausrichten. Beschlüsse müssen hier nach EU-Recht einstimmig sein, und Ungarn und Polen helfen sich gegenseitig mit einem Veto.

Kein Geld ohne Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

Daher beschloss das EU-Parlament, das EU-Budget für die nächsten sieben Jahre nun an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Ungarn und Polen sind „Netto-Empfänger“: Sie bekommen deutlich mehr aus dem gemeinsamen EU-Topf, als sie einzahlen müssen.

Mit der neuen Regelung werden Fördergelder der EU also gekürzt, wenn der Rechtsstaat in einem EU-Land nicht funktioniert. Das befürworten auch Experten:

„Wenn man Mitglied der EU sein will, muss man die Rechtsstaatlichkeit respektieren. Und das bedeutet eine unabhängige Justiz und Pressefreiheit“, wie der Staatsrechtler Alberto Alemanno erklärt.  Das sind Grundsätze der Europäischen Union.

Meilenstein: Größtes EU-Budget

Zusätzlich zum 7-jährigen Budget gibt es auch noch den „EU Recovery Plan“, also die Corona-Wiederaufbaugelder. Denn man ist sich einig, dass man die von Corona hart getroffenen EU-Nachbarn unterstützen muss, um auch die eigene Wirtschaft wieder aufzubauen. Noch nie wurde von den EU-Ländern gemeinsam so viel Geld in die Hand genommen, um an europäischen Lösungen zu arbeiten. Das Gipfeltreffen im Juli ging als das zweitlängste in die EU-Geschichte ein.

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Angela Merkel und Emmanuel Macron waren um Einigkeit bemüht. Vorallem Deutschland und Frankreich arbeiteten damals mit der EU-Kommission eng zusammen an einem Vorschlag zu Corona-Wiederaufbaugeldern. Foto: kremlin.ru

Doppelveto blockiert Corona-Wiederaufbaugelder für alle

Das Doppelveto von Ungarn und Polen blockiert das gesamte EU-Budget inklusive Corona-Wiederaufbaugelder. Denn um die EU-Gelder mit Jänner 2021 auszahlen zu können, ist ein einstimmiger Beschluss aller 27 Länder im Europäischen Rat notwendig. Ein Umstand, der immer wieder kritisiert wird, da die EU so bei wichtigen Themen nur zäh vorankommt.

Ungarn und Polen schaden sich selbst

Allerdings „schießen“ sich die beiden Blockierer „Ungarn und Polen damit am Ende selbst ins Knie“, wie der SPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament Andreas Schieder erklärt. Ausgerechnet diese beiden EU-Länder sind nämlich auch die größten Empfänger von EU-Geldern (in absoluten Zahlen).

 

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Polen ist der mit Abstand größte Netto-Empfänger von EU-Geldern. Man kassierte im vorigen Jahr zwölf Milliarden Euro mehr aus Brüssel, als von Warschau dorthin überwiesen worden war. Ungarn ist mit fünf Milliarden Euro der zweitgrößte Nutznießer. Quelle: EU-Kommission

Die EU werde durch die Blockade am Höhepunkt einer nie da gewesenen Gesundheits- und Wirtschaftskrise nun auch noch in eine politische Krise gestürzt, so Schieder weiter. Polen und Ungarn riskieren mit ihrer Blockade „Milliardeninvestments in europäische Gesundheitssysteme und Arbeitsplätze und gefährden die Zukunft von Millionen BürgerInnen.“

Doch: Ungarn und Polen haben „zu hoch gepokert“, da gerade dort „die Beschäftigten und die marode Wirtschaft die europäischen Corona-Hilfsgelder ebenso dringend wie andere Staaten brauchen“, argumentiert Schieder.

Ungarn spielt Migrations-Thema aus

Ungarn begründet das Veto mit dem Migrations-Thema: Ungarn sei ein „engagierter Anhänger der Rechtsstaatlichkeit. „Dem fügt Orbán aber hinzu: Brüssel betrachte jedoch nur jenes Land als Rechtsstaat, „das Migranten Einlass gewährt“.

Polen verdreht Vorwürfe

Polens Ministerpräsident Morawiecki dreht schlichtweg die Vorwürfe um und spricht von einer europäischen Oligarchie in der EU.

„Eine EU, in der es eine europäische Oligarchie gibt, die die Schwächsten bestraft, ist nicht die EU, der wir beigetreten sind“, erklärte er letzte Woche im polnischen Parlament. „Wir sagen ‚Ja‘ zur Europäischen Union, aber ‚Nein‘ dazu, wie Kinder bestraft zu werden.“

Zuspruch erhalten die beiden Blockierer nun auch noch von Sloweniens Ministerpräsidenten Janez Janša. Seine Unterstützung überrascht wenig. Man sagt Janša nach, Ungarn sei schon lange Vorbild bei demokratiebedenklichen Reformen. Diese könne er aber aufgrund der fehlenden Zweidrittelmehrheit im slowenischen Parlament nicht umsetzen.

Orbán spricht nicht für alle Ungarn

Aber nicht in ganz Ungarn denkt man so wie Viktor Orbán. Er spricht nicht für alle Ungarinnen und Ungarn:

Es sei wichtig zu unterstreichen, dass der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus von 70 Prozent der [Anm.: ungarischen] Bevölkerung unterstützt werde“, so die ungarische EU-Abgeordnete Katalin Cseh von der liberalen Fraktion Renew.

 

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Die EU-Abgeornete Cseh twitterte: 72 Prozent der Ungarn sind laut Eurobarometer-Umfrage für den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus.

„Ungarische Gemeinden und Unternehmen brauchen die Mittel aus dem EU-Topf.“ Die Welt müsse begreifen, dass Viktor Orbán und Ungarn nicht miteinander gleichzusetzen sind. Tatsächlich gibt es erhebliche Unterstützung für den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus und den EU-Haushalt aus Ungarn, so Cseh weiter.

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Gäbe es heute Parlamentswahlen in Ungarn, würde die ungarische Opposition gewinnen.

Die Ungarinnen und Ungarn bewerten die Wichtigkeit der Rechtsstaatlichkeit sogar höher als die österreichische Bevölkerung:

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Quelle: Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahr 2019

Merkel steht hinter Rechtsstaatlichkeitsmechanismus

So hält auch das direkt von allen europäischen Bürgerinnen und Bürgern gewählte EU-Parlament am Rechtsstaatlichkeitsmechanismus fest. Und auch Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel verteidigt den Kompromiss mit dem EU-Parlament gegenüber Polen und Ungarn. Nach dem EU-Gipfel erklärte sie:

„Ich habe […] deutlich gemacht, dass wir glauben, mit dem Kompromiss mit dem Europäischen Parlament einen sehr guten und ausgewogenen Kompromiss gefunden zu haben.“

Ihr wird in dem Konflikt eine wichtige Vermittlerinnen-Rolle zugeschrieben. Deutschland hat noch bis Ende Dezember den EU-Ratsvorsitz inne.

ÖVP-Karas und Tusk für Ausschluss von EVP

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Othmar Karas (ÖVP) gehört im EU-Parlament der gleichen Fraktion wie Viktor Orbán an.

Auch langjähriger ÖVP-EU-Abgeordneter Othmar Karas kritisiert Viktor Orbán. Beide gehören im EU-Parlament der selben Parteienfamilie, der Europäischen Volkspartei (EVP) an. Orbán torpediere nicht nur die EU als Rechts- und Wertegemeinschaft, er blockiere damit auch wichtige Investitionen für alle, so Karas. Auch hinsichtlich der EVP-Mitgliedschaft von Orbáns Fidesz wurde er deutlich:

„Wenn Orbán beim EU-Gipfel weiter blockiert, ist der Ausschluss von Fidesz aus der EVP die logische Konsequenz.“

Ähnlich hatte sich zuvor auch schon EVP-Präsident Donald Tusk geäußert.

Orbán-Freund Kurz bricht Schweigen endlich

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) reagierte auf die Situation zunächst schweigend. Bereits SPÖ-Europasprecher Jörg Leichtfried forderte Kurz auf, Ungarns Premier Viktor Orbán und Polen zu einem Ende der „fatalen Blockade in Sachen EU-Budget“ zu bewegen.

„Kurz hat immer wieder seine guten Kontakte zu Orbán betont und gehört auch innerhalb der EVP offenbar trotz Orbáns autoritärem Kurs und dessen erklärter Gegnerschaft zur liberalen Demokratie zu dessen letzten politischen Freunden.“

Doch Kurz zieht es meist vor zu schweigen. Zum Beispiel auch, als Orbán diesen Frühling die Corona-Pandemie benutzte, um massiv die Grundrechte abzubauen und gegen das Gewaltschutzpaket für Frauen stimmte.

Die Blockade sei „der helle Wahnsinn angesichts einer Job- und Wirtschaftskrise, wie sie Europa seit Jahrzehnten nicht gesehen hat“, so Leichtfried weiter. Beim virtuellen Gipfel letzte Woche betonte nun auch Kurz endlich, es werde nur dann europäisches Geld fließen, wenn Reformen durchgeführt werden und die Rechtsstaatlichkeit eingehalten wird.

Droht nun Ausschluss von Corona-Wiederaufbaugeldern?

Die Situation wirkt verfahren: Ungarn und Polen lenken nicht ein. Die EU darf nicht von ihren Grundprinzipien Rechtsstaat und Demokratie abweichen. Was also tun?

Eine mögliche Lösung könnte es sein, die beiden Blockierer von den Corona-Wiederaufbaugeldern auszuschließen. Das ginge, wenn man das normale EU-Budget von den Corona-Geldern lösen würde. So könnte das EU-Budget wie geplant mit 1. Jänner an alle 27 EU-Länder ausgezahlt werden. Die zusätzlich vereinbarten Corona-Rettungsgelder würden aber nur an die 25 Länder ausgezahlt werden, die sich auf den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus einigen.

Diese Möglichkeit ist aber formal kompliziert und politisch umstritten. Die Beziehungen der anderen EU-Länder zu Ungarn und Polen würden sich massiv verschlechtern. Die beiden könnten die europäische Zusammenarbeit bei anderen Themen blockieren.

Notlösung: Notfall-Budget

Gibt es vor Jahresende keine Einigung, tritt das Notfall-Budget in Kraft. Dann wird anteilsmäßig jeden Monat ein Zwölftel des EU-Budgets des Vorjahres ausgezahlt. Das wäre aber viel weniger, als das neue EU-Budget brächte. Auch die Corona-Wiederaufbaugelder wären dann auf Eis. Das würde besonders den hart getroffenen europäischen Süden treffen.

Geld stünde dann nur noch für wenige absolut notwendige Bereiche zur Verfügung. Also für die Verwaltung, die Förderungen in der Landwirtschaft oder Gelder für die Außen- und Sicherheitspolitik. Und das will in der aktuellen Krisen-Situation wohl kein EU-Land. Vor allem aber würde das auch Fördergelder für benachteiligte Regionen nahezu wegfallen. Gerad das würde Polen mehr als jedes andere EU-Land treffen.

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hermann
hermann
29. November 2020 22:02

Das ist die EU in Reinkultur. Lauter Egoisten die nur hier schreien wenn Sie Kohle kriegen, und sonst gibts nur ein Eher Unwahrscheinlich. Polen und Ungarn machen die Mauer und der Rest dieses Sorry Sauhaufens schaut ratlos zu. Das ist Europa. Und dann noch Herr Karras ist habe gedacht, dass man den schon längst entsorgt hätte. Der Vertreter Österreichs predigt die Vereinigten Staaten von Europa hat der eigentlich noch alle ?

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