In zwei Zeitungskommentaren haben sich die Ökonomen Nikolaus Kowall und Philipp Heimberger für eine finanzielle Unterstützung Italiens ausgesprochen, wie sie der Merkel-Macron Plan vorsieht. Mehrere skeptische Reaktionen auf Social Media verdeutlichten, dass viele Menschen ein Bild von Italiens Wirtschaft und seiner Finanzpolitik vor Augen haben, das schlicht nicht mit der Realität übereinstimmt. Das kommt nicht von ungefähr: In der Finanz- und Eurokrise vor zehn Jahren vermitteln Ökonomen, Politiker und Medien ein falsches Bild über Italien und seine Wirtschaft – Klischees die Sebastian Kurz heute noch bedient. Dabei ist Italien der zweitgrößte Produzent von Industriegütern in der EU, verzeichnet Exportüberschüsse und hat EU-Sparvorgaben oft strikter eingehalten als Deutschland und Österreich. Diese und weitere Fakten zu Italien, die möglicherweise überraschen werden, erläutern Nikolaus Kowall und Philipp Heimberger.
1. Italien lebt unter seinen Verhältnissen
Italiens Staatsverschuldung liegt bei 135% der Wirtschaftsleistung. Deswegen wird immer wieder behauptet: „Italien lebt über seinen Verhältnissen!“. Doch das stimmt so nicht. Dass der Sektor Staat verschuldet ist, sagt noch nichts über die gesamte italienische Volkswirtschaft aus. Denn über seine Verhältnisse kann ein Land nur leben, wenn es über längere Zeit deutlich mehr Güter und Dienstleistungen importiert als exportiert. Ein Land, das hingegen genauso viel exportiert wie es importiert, kann nicht über seine Verhältnisse leben – Produktion und Verbrauch sind ausgeglichen. Über seine Verhältnisse lebt man ja auch nur, wenn man immer mehr ausgibt als man verdient. Seit 2012 exportiert Italien mehr als es importiert. Übersetzt heißt das: Das Land verbraucht weniger als es produziert – Italien lebt somit unter seinen Verhältnissen.
2. Verschuldet ist der Staat, nicht die Italiener
Das Problem der Verschuldung muss sich also auf den Sektor Staat beschränken. Und die Zahlen zeigen: die Privatverschuldung ist in Italien im OECD-Vergleich gering. Das Thema der Verschuldung ist kein Problem der gesamten italienischen Volkswirtschaft.
3. Fehler vor 40 Jahren
Weshalb ist der Staat dann so marode? So desaströs das Bild ist, das die italienische Innenpolitik von Berlusconi bis Salvini abgegeben hat – die Situation haben sie nicht verursacht. Bei der Verschuldung handelt es sich primär um Altlasten aus den 1980er-Jahren. Die sorglose Politik vor 40 Jahren geschah noch dazu in einem Zeitraum dramatischer internationaler Zinserhöhungen. Seit damals schleppt der italienische Staat einen gewaltigen Zins-Rucksack mit sich herum. Rechnet man die Belastung durch die Zinsen weg, so war das italienische Budget seit 1992 sogar immer im Plus (mit Ausnahme des Finanzkrisenjahres 2009). Einen positiven „Primärsaldo“ haben selbst Deutschland und Österreich viel seltener verzeichnet. In anderen Worten: Der italienische Staat war gar nicht so verschwenderisch wie oft behauptet wird, er hat sogar konstant mehr eingenommen als ausgegeben. Die jährliche Zinsbelastung aus den Altschulden hat den staatlichen Budget-Gesamtsaldo dennoch immer wieder in den negativen Bereich gedrückt.
4. Italiens Wirtschaft ist auch ein Opfer des Euro
Italiens Staatsschuldenstand beträgt 135% des BIP. 1995 lag die Verschuldung schon bei 120%. Doch es sind nicht die Ausgaben, die die Quote in die Höhe getrieben haben, sondern das schwache Wirtschaftswachstum der letzten 20 Jahre. Der Schuldenstand wird in Relation zur Wirtschaftsleistung ausgewiesen. Wenn die Wirtschaft stagniert, kann ein Staat nicht aus den bestehenden Schulden herauswachsen. Auch hier hat die jüngere Politik (inklusive Korruption und organisierter Kriminalität) mit Sicherheit einen Anteil. Doch Italien war nie ein Hort politischer Stabilität. Die aktuelle Regierung ist das 66ste (!) Kabinett seit dem Krieg. Probleme mit der Mafia und mit Korruption gibt es auch seit jeher. Dies hat die Wirtschaft aber nicht davon abgehalten, sich in Zeiten wie den 1960er-Jahren sehr dynamisch zu entwickeln: Italien hat, was die Kaufkraft pro Kopf betrifft, Großbritannien im Jahr 1969 überholt und Frankreich im Jahr 1979. Vor 20 Jahren, also im Jahr 2000, lag Italiens Lebensstandard mit jenem Deutschlands faktisch gleich auf (98,6% der deutschen Kaufkraft pro Kopf). Doch ab der Einführung des Euro 1999 verlor das Land kontinuierlich den Anschluss und rutschte 2002 hinter Großbritannien und 2005 hinter Frankreich zurück. Im Jahr 2019 waren die italienischen Pro-Kopf-Einkommen mehr als 20% unter jene in Deutschland gerutscht.
Die Einführung des Euro und der Stillstand des Wirtschaftswachstums gingen in Italien Hand in Hand. Eine Erklärung dafür ist, dass der Wert des Euro die durchschnittliche Stärke aller europäischen Volkswirtschaften abbildet. Die Gemeinschaftswährung ist für Deutschland zu billig (das beflügelt die Exporte), für Italien zu teuer. Ob Italien mit dem Euro überhaupt je wieder wirtschaftlich an Fahrt gewinnen kann, wird nicht zuletzt von der Bereitschaft Österreichs und Deutschlands zu Reformen der institutionellen Euro-Architektur abhängen – insbesondere dort, wo es um die Budgetregeln geht. Österreich und Deutschland profitieren stark von der „billigen“ Gemeinschaftswährung. Sie sollten alles tun, um Italien im Euro zu halten. Das wäre in ihrem eigenen Interesse, denn eine Rückkehr zu einer „teuren“ Währung wie der D-Mark oder dem Schilling wäre eine große preisliche Belastung für die Industrie beider Länder.
5. Italiens marktliberale Reformen
Die OECD hat 2015 Italiens „Reformanstrengungen“ als deutlich höher eingestuft hat als jene Deutschlands und Frankreichs. Der niederländische Ökonom Servaas Storm schlägt in die gleiche Kerbe. In einer eingehenden Untersuchung stellte er fest, dass sich Italien insgesamt viel stärker an die wirtschaftspolitischen Vorgaben der EU gehalten hat als Deutschland und Frankreich. Unter Punkt 3 haben wir bereits festgellt, dass Italien stärkere Sparanstrengungen unternommen hat als alle anderen europäischen Partner – zu einem hohen Preis. Denn das Sparen des Staats hat die Entwicklung der Nachfrage und in Folge das Wachstum so abgewürgt, dass die Verschuldung trotz der Anstrengungen hoch geblieben ist. Die Wissenschaft bezeichnet dieses Szenario als „Sparparadoxon“: Durch das Sparen, also fehlenden Investionen, wird auch weniger eingenommen; durch Zinsen steigen aber die Schulden. Das hört sich technisch an, doch die Folgen sind ganz konkret. Wie der deutsche Ökonom Achim Truger mit Kollegen nachzeichnet, führte Italiens Sparpolitik genau zu jenem Rückbau des Gesundheitswesens, der sich in der Covid-19-Krise als fatal erwiesen hat. Überdies hat der drastische Rückgang der öffentlichen Investitionen das Wachstum der Produktivität in Italien gehemmt.
Doch nicht nur bei den Staatsfinanzen wollte Italien EU-Vorgaben besonders eifrig einhalten. Eine ebenfalls EU-konforme Flexibilisierung des Arbeitsmarktes brachte, so Ökonom Storm, einen starken Anstieg befristeter Arbeitsverträge, ein Zurückdrängen der Gewerkschaften und einen Rückgang der Reallöhne im Vergleich zu Deutschland und Frankreich. Zuletzt wurde 2014 unter Matteo Renzi der Kündigungsschutz stark gelockert. Diese Maßnahmen reduzierten in den 1990er-Jahren nicht nur die Inflation, sondern tatsächlich auch die Arbeitslosigkeit, die bei Ausbruch der Finanzkrise 2008 schließlich geringer war als in Deutschland und Frankreich. Doch die billige Arbeit hat auch den Anreiz zu arbeitssparenden Investitionen der Unternehmen vermindert. Diese privaten Investitionen sind jedoch, noch stärker als die öffentlichen Investitionen, der Schlüssel zu steigender Produktivität. Die Produktivitätsentwicklung ist wiederum die Grundlage für Wachstum und steigende Einkommen. Sowohl die Sparpolitik, als auch die marktliberalen Strukturreformen, haben Italiens Produktivitätsentwicklung gehemmt. Unterm Strich brachten sie mehr wirtschaftlichen Schaden als Nutzen.
6. Italien ist das zweitwichtigste Industrieland der EU
Trotz schwacher Entwicklung der Produktivität und trotz Problemen mit der preislichen Wettbewerbsfähigkeit durch den Euro hat Italien einige wirtschaftliche Stärken. Die 60 Millionen Italiener leben nämlich nicht primär vom Fremdenverkehr. Italien ist, vor allem durch die wirtschaftliche Struktur im Norden des Landes, weiterhin der zweitwichtigste Industriestandort der EU – und zwar selbst wenn man Großbritannien noch berücksichtigt. Das Land verzeichnet die zweithöchste Industrieproduktion nach Deutschland, führt deutlich mehr industrielle Güter aus als es einführt und verzeichnet die dritthöchsten Güterexporte knapp hinter Frankreich.
Der mit Abstand wichtigste Exportsektor ist der Maschinenbau, der alleine fast ein Fünftel der Exporte umfasst. Es folgen Fahrzeugbau und pharmazeutische Produkte. Die Reihenfolge ist beinahe identisch mit der Exportstruktur Deutschlands und diese Branchen rangieren in der OECD-Klassifikation unter „Medium-High-Tech“ bis „High-Tech“-Industrien. Die historisch gewachsene Industriestruktur (Nord-)Italiens ist nur ein Beispiel für das große wirtschaftliche Potential unseres südlichen Nachbarns. Wenn Sparpolitik und marktliberale Reformen das Land nicht vorangebracht haben, dann ist es doch naheliegend, es mit einer Investitionsstrategie zu versuchen, wie Merkel, Macron sowie die Europäische Kommission vorschlagen, und Italiens Industrie mit einer modernen europäischen Industriestrategie wieder zu beflügeln.
7. Die Italiener sind nicht reicher als Deutsche oder Österreicher
Einige Ökonomen und Politiker argumentieren, dass die Italiener viel mehr Privatvermögen hätten als Österreicher und Deutsche. Sie können ihre Investitionen daher selbst bezahlen. Das ist allerdings falsch. Man vertauscht hier das mittlere und das durchschnittlichen Vermögen. Während beim durchschnittlichen Vermögen alle Vermögen zusammengezählt und durch die Anzahl der Haushalte dividiert werden, beschreibt das mittlere Vermögen den Haushalt bei dem die Hälfte der Haushalte mehr und die andere Hälfte der Haushalte weniger hat. Der durchschnittliche Haushalt ist in Deutschland und Österreich klar wohlhabender (siehe EZB), beim mittleren Einkommen liegt Italien vorne.
Was bedeutet das? Das private Vermögen ist in Italien zwar geringer, aber gleichmäßiger verteilt. In Deutschland und Österreich ist das Vermögen stärker bei den Reichen konzentriert. Einer der wichtigsten Gründe dafür ist, dass privater Immobilienbesitz in Italien eine größere Rolle spielt. Das ist nicht nur erfreulich, sondern hat auch viel damit zu tun, dass es weniger soziale Netze gibt, wie Thomas Fricke im Spiegel argumentiert. Der soziale und genossenschaftliche Wohnungsbau, der vielen Menschen in Deutschland und vor allem in Österreich eine erschwingliche Bleibe in vernünftiger Größe ermöglicht, ist in Italien selten. Doch das öffentliche Vermögen aus sozialem Wohnbau und Genossenschaften zählt eben nicht als Privatvermögen, selbst wenn die Menschen dort mitunter besser leben als in italienischen Eigentumswohnungen mit schlechtem Standard. Unter dem Strich ist es einfach falsch, dass die Italiener reicher wären als Deutsche oder Österreicher.
Die Bilder in den Köpfen…
Der Eindruck, den vorallem deutschsprachige Medien über Italien vermitteln, ist durch die Fakten nicht haltbar. Angela Merkel und ihr damaliger Finanzminister Wolfgang Schäuble haben vor zehn Jahren in der Finanzkrise diesen Klischees freien Lauf gelassen. Die deutsche Ökonomenszene hat damals Fehldarstellungen über Südeuropa in Kauf genommen, um eine Abkehr von der marktliberalen Wirtschaftspolitik der EU keinesfalls zu riskieren. Dieselben Ökonomen und die deutsche Kanzlerin sehen jetzt, zehn Jahre später, dass die Ergebnisse ihrer Politik kontraproduktiv waren. Die Lage hat sich so zugespitzt, dass der Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft nach Corona das Potential hat, die EU zu zerreißen. In Deutschland will man jetzt eine Investitionspolitik mit Umverteilungscharakter zugunsten des Südens durchsetzen. Es wird Angela Merkel und die deutsche Ökonomenszene viel Kraft kosten, die Bevölkerung (Nord)Europas davon zu überzeugen. Dazu muss man nämlich das falsche Bild über den Süden, dem man sich vor zehn Jahren aus taktischen Gründen bediente, wieder aus den Köpfen der Menschen bekommen.
Philipp Heimberger ist Ökonom am wiiw. Seine Forschungsschwerpunkte sind Makroökonomie, Volkswirtschaftslehre und internationale Wirtschaft. Er hat an der Wirtschaftsuniversität Wien in Volkswirtschaftslehre promoviert. Seine Erfahrung umfasst eine Forschungsstelle am Institut für Gesamtanalyse der Wirtschaft (Johannes Kepler Universität Linz), wo er sich mit makroökonomischer Divergenz und Strukturwandel in der Europäischen Union, den makroökonomischen Auswirkungen der Fiskalpolitik und der Koordinierung der europäischen Fiskalpolitik im Zusammenhang mit den Problemen der Schätzung des Produktionspotenzials befasst hat.
Nikolaus Kowall hat mit Unterstützung des in Düsseldorf ansässigen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung an der Wirtschaftsuniversität Wien zum Themenbereich Wettbewerbsfähigkeit im Außenhandel promoviert. Anschließend leitete er die Geschäftsstelle des vom Land Nordrhein-Westfalen geförderten Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung in Düsseldorf. Zuletzt war er als Vertretungsprofessor für “International Economics” an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin tätig. Seit 2019 ist Nikolaus Kowall Inhaber einer Stiftungsprofessur für Internationale Makroökonomie an der Hochschule für Wirtschaft, Management und Finance des BFI in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Auswirkungen von Freihandel, Standortwettbewerb und Globalisierung auf die politische Polarisierung in westlichen Industriestaaten sowie die sozioökonomische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in diesem Kontext. Auf Kontrast.at schreibt er eine Kolumne.
Tut mir leid.
Aber das wusste ich bereits. Das nächste Mal eine bessere Überschrift wählen! Trotzdem guter Artikel.
die meisten Punkte hier sind allerdings bei den Haaren herbeigezogen.. also ganz so einfach ist das nicht.. nur einige der vielen möglichen Interpretationen, hier kann man gerne von “alternativen Fakten” reden. man muss die Italiener und deren Wirtschaft schon besser kennen um eine “richtigere”/ realitätsnahe Analyse zu machen