Autorin Julya Rabinowich findet, Österreich hat massiven Aufholbedarf, wenn es darum geht, wie wir Kinder behandeln. Für Kontrast.at fasst sie die Baustellen im Bereich Kinderrechte zusammen: In der Schule, der Politik und der Gesellschaft im Ganzen zusammen. Und sie zeichnet nach, wie wir ein ein Land werden können, das alle Kinder gleich und gerecht behandelt.
Alle Menschen sind gleich an Rechten geboren. Oder eher: Fast alle.
…bis auf einige, die gleicher sind, würde Orwell hinzufügen. Und er würde leider recht behalten. Wir müssen nicht einmal in weite Ferne schweifen, um die Beschneidung dieser gleichen Rechte zu dokumentieren. Es geht auch hier, in Österreich. Das Recht auf Bildung beispielsweise: Ja, natürlich, auf dem Papier existiert es. Doch wie sieht das aus, wenn man etwas tiefer in den Leib der sozialen Schichtentorte schneidet?
Wenn da beispielsweise ein Test geplant wird, die Schüler und Schülerinnen viel zu früh in einen schwer veränderbaren Bildungsweg einteilen soll – ungeachtet ihrer Begabungen und Entwicklung, die sich zu diesem frühen Zeitpunkt noch gar nicht voll entfaltet zeigen können? Ungeachtet ihres sozialen Backgrounds, ungeachtet ihrer Förderung bis zu diesem Zeitpunkt – oder eben der ausbleibenden Förderung?
Es geht um nichts Geringeres als die Weichenstellung in die Zukunft jedes Kindes.
Der Weg, einmal eingeschlagen, ist schwer zu verlassen. Der Weg, der vorgezeichnet scheint: Gymnasium oder nicht, Studium oder nicht, sozialer Aufstieg – oder eben nicht? Time-Out-Klasse oder normale Klasse? Deutschklasse oder normale Klasse? Das sind Fragen, deren Beantwortung bei jungen Menschen für Langzeitfolgen sorgen.
Die UN-Kinderrechtskonvention wurde am 20. November 1989 von den Vereinten Nationen verabschiedet. Es gibt über 40 einzelne Kinderrechte. Sie gelten für alle Kinder von 0-18 Jahre. Nachdem Vertreter aller Staaten die Kinderrechte unterzeichnet hatten, musste jedes Land die Kinderrechte auch im eigenen Parlament ratifizieren. Das haben alle Staaten außer den USA auch gemacht.
Kinder werden zu früh getrennt
Es ist ein Grundproblem in diesem Land: Das Trennen von Kindern in gut auszubildende und nicht gut auszubildende. Das Trennen in das vererbte Wissen, das sich in gut situierten Familien von Generation zu Generation weitergibt, während man Kindern der sogenannten “bildungsfernen Schicht” noch immer nicht die gleichen Möglichkeiten eröffnet.
Was sich zu dem Problem unterschiedlicher Förderung gesellt: Wenn eine Kind eine andere Muttersprache spricht, eventuell ein anderes kulturelles Umfeld hat als die anderen, braucht es mehr Unterstützung. Es braucht den Zugang zu Kultur und Sport. Zu Selbsterkenntnis und Kunst.
Deutschklassen spalten statt zu fördern
In meiner eigenen Geschichte finden sich die meisten Punkte wieder, mit denen Kinder in besonderen Situationen zu kämpfen haben. Ich kam 1977 als Kind nach Österreich. Ohne Sprache, ohne Sicherheit, ohne einer Vorstellung davon, wie es nun weitergehen sollte. Ich kam als “Kontingentflüchtling”.
Während ich den Luxus erleben konnte, in einer ganz normalen Klasse untergebracht worden zu sein, während ich mich mit meinen Mitschülern und Mitschülerinnen austauschen und mit ihrer Hilfe lernen konnte, wie das Leben im neuen Land so vor sich ging, während ich ein Teil des Ganzen war – ein ursprünglich sprachloser Teil zwar, aber das änderte sich nach und nach – während ich also ein Kind unter Einheimischen sein konnte, wird dieser Prozess heute mit “Deutschförderklassen” konterkariert. Das, was diese Klassen vermitteln, ist keine Integration. Sie segregieren ganz bewusst.
Sie vermitteln eine Minderwertigkeit. Zumindest eine Minderwertigkeit der Sprache. Sie rotten in die Klassen der “nichtautochthonen Kinder” zusammen, die außer ihrem eigenen Fremdsein noch zusätzlich das Fremdsein der anderen kennen lernen – aber keine Kinder, die selbst verwurzelt sind, und etwas von ihren Wurzeln vermitteln können.
“Ausländer raus” – Parole aus der Hölle
Aber was passiert, wenn ein Kind seine angebliche Minderwertigkeit durch nicht autochthone Herkunft bereits im Kleinkindalter so heftig erleben muss? Es bilden sich Hemmungen, die es lange nicht abbauen kann. Bereits da, im Kindergarten, in der Volksschule, braucht es Modelle, solche Erlebnisse zu verunmöglichen.
„Ausländer raus“ ist eine Parole aus der Hölle, die auch Kinder gut verstehen. Die autochthonen und die zugezogenen.
Eine Gesellschaft, die auf solche Botschaften setzt, verspielt ihre Chancen auf Entwicklung und Integration. Sie schneidet sich ins eigene Fleisch. Sie beraubt Menschen ihres Rechts auf Bildung. Sie macht kaputt.
- Schutz des Lebens, Schutz vor Gewalt oder Krieg.
- Recht auf Gesundheitsversorgung, Bildung, Familie und angemessenen Lebensstandard.
- Recht auf Information, Mitbestimmung und Meinungsäußerung.
Die Welt heute ist für Kinder komplett anders als vor 50 Jahren
Dass das Schulwesen in seiner Entwicklung immer auch politischen Wünschen und Selbstdarstellungen zuständiger Entscheidungsträger unterworfen war, ist ein Faktum. Was ebenfalls ein Faktum ist: die veränderte Lebensrealität vieler Jugendlicher und Kinder. Sie sind einem beständigem Strom an Ablenkung und Unterhaltung ausgesetzt, während familiäre Strukturen im Wandel sind und viele Lebensrealitäten keine Sicherheit mehr bieten:
Es gibt Schüler und Schülerinnen, die gerade Krieg erlebt haben und nun versuchen, sich zurecht zu finden und ihre Traumata zu bewältigen.
Auf der anderen Seite ist es eher normal geworden, Scheidungskind zu sein.
Die Aussichten auf gesicherte zukünftige Jobs sind nicht rosig. Auch die Arbeitswelt ist im Umbruch.
Leistungsdruck, Wettkampf – und die Angst, zu straucheln
Die Leistung wird zu einem vergötterten Moloch. Die Kreativität hinkt hinterher, bestenfalls als Beiwagen geduldet – und hat sicherlich kein Schwerpunkt im Lehrplan. Musik, Literatur, Schauspiel: Fast hat das alles keinen Platz mehr. Und auch wenig Wert.
Das, was Empathie und Persönlichkeitsentwicklung fördert, ist unerwünscht. Das Kind soll liefern. In kleinen, übersichtlichen Häppchen. Und das Kind soll funktionieren. Für Auffälligkeiten bleibt wenig Raum. Für Probleme kaum Zeit.
Entwicklung von Kindern und Jugendlichen verläuft aber nicht linear nach Lehrplan. Hier gibt es Phasen des Strauchelns, der Regression, der Rebellion, der Verzweiflung. Hat der betroffene Schüler das Glück, eine Familie hinter sich zu haben, die genug Ressourcen und Zeit hat, um sich liebevoll um ihn zu kümmern, ihm Sicherheit zu geben, Nachhilfe oder psychotherapeutische Behandlung zu gewährleisten? Dann hat das Kind oder der Jugendliche die Gnade der Geburt für sich gepachtet.
Was aber, wenn der Schüler diese Hilfestellungen privat nicht bekommt? Was, wenn er in einer sogenannten Brennpunktschule landet? Was, wenn er seelischer oder körperlicher Gewalt ausgesetzt ist- zu Hause oder in der Schule? Was, wenn der Schüler auffällig wird und wegen ausbleibender Hilfe auch auffällig bleibt?
Von ÖVP und FPÖ im Stich gelassen
Die Regierung unter der türkis-blauen Fahne hat nichts unternommen, um Hilfsbedürftige zu schützen. Nichts dazu beigetragen, die Kluft zwischen abgesichert und nicht abgesichert zu schließen. Den freien Fall jener, die aus dem System stürzen, zu stoppen. Im Gegenteil. Das Mindeste, das dafür gedacht war, diesen Fall zu bremsen, wurde noch beschnitten.
Die Mindestsicherung, die ja doch nur das sichert, was eben das mindeste ist, war angeblich zu teuer. Gespart wurde bei Frauen, bei sozial Schwachen, bei Kranken, bei Geflohenen. Die Werbung für das polierte Image hingegen durfte ruhig unbezahlbar sein. Das ist die bittere Realität der letzten Monate.
Was wir da gesehen haben, war ein Mangel an Empathie und Aufrichtigkeit, war Egoismus, war Brutalität und die Bereitschaft, unüberquerbare Grenzen zu überqueren. War die Unfähigkeit, in höherer, altruistischer Ebene zu denken. Alles das aber stellt nicht das Hauptproblem der so agierenden Personen dar. Nein. Dieses Hauptproblem trifft in erster Linie die Schwächsten, die Ungeschütztesten. Jene, die die fehlenden Empathie und den fehlenden Altruismus dringend gebraucht hätten.
Es gibt in Österreich:
- ein Verbot von Gewalt in der Erziehung
- Kinder- und Jugendanwaltschaften in jedem Bundesland
- Kinderrechte in Verfassungsrang
- einen eigenen Ausschuss für Kinderrechte im Parlament
Empathie ist der Schlüssel, all das zu ändern
Empathie ist ein Schlüssel für unsere Weiterentwicklung als Gesellschaft. Weit über unsere Landesgrenzen hinaus. Empathie und Erkenntnis sind die beiden Pole, zwischen denen das Überleben der Menschheit gesichert wird.
Eine Gesellschaft, die kühl und herzlos wird, eine Gesellschaft, die Kinder nicht ausreichend unterstützt, wird sich nicht in die beste aller Richtungen entwickeln.
Wo aber kann man Empathie, wo kann man Erkenntnis und Aufrichtigkeit erfahren und erlernen, wenn man sie unglücklicherweise nicht zu Hause erhält und somit nicht erlernen kann? Durch die Kunst, durch die Erkenntnis, durch das Spielerische lässt sich vieles an Entwicklung nachholen. So kann man seinen Horizont erweitern. Sich wieder wahrnehmen. Die anderen wahrnehmen. Lernen, was es heißt, Mensch zu sein. Lernen, was es heißt, freie Gedanken zu pflegen. Freie Gedanken sind das beste Gegenmittel zu autoritären Strukturen.
Die Phantasie, die in den Anforderungen an sturen, begrenzten Leistungsdruck so erschreckend zu kurz kommt, kann man wieder pflegen und hegen. Man kann sich neu kennen lernen. Man kann sich neu erfinden. Ein Kind, dem diese Möglichkeit genommen wird, braucht Unterstützung und Hilfe. Ein Kind, das sich nicht gelernt hat, zu spüren und zu kennen, wird sich auch als erwachsener Mensch schwer tun, die anderen zu erkennen und zu spüren. Es ist die Pflicht und die Aufgabe der Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass jedes Kind den Zugang zu solchen Möglichkeiten hat.
Wir sollten für die offene Gesellschaft, für Empathie und Solidarität kämpfen
Was wollen wir eigentlich? Welche Zukunft soll am verlockendsten erscheinen? Wie sieht es aus mit unseren Träumen, mit unseren Visionen, wie sieht es aus mit unserer Bereitschaft, etwas Gemeinsames zu erarbeiten und wie soll dieses Gemeinsame aussehen? Was bieten wir zukünftigen Generationen: eine Utopie, eine Dystopie, eine offene Gesellschaft versus dem Ständestaat? Diese offene Gesellschaft ist übrigens bei weitem nicht so utopisch, wie manche es klingen lassen. Sie ist auch vermutlich die beste Variante dessen, was in Zukunft auf die Kinder von heute wartet.
Was wir anstreben sollten, ist die offene Gesellschaft – als Gegensatz zu einer Gesellschaft der Willkür und des Ausgeliefertseins an seine soziale Herkunft.
Diese offene Gesellschaft lebt von Empathie und Solidarität – und vor allem von Chancen für jedes Kind. Wenn wir als Gemeinschaft nicht dazu in der Lage sind, diese gleichen Chancen flächendeckend zu Verfügung zu stellen, sind wir weder solidarisch noch wirklich demokratisch, von offen ganz zu schweigen.
Es gibt nach wie vor Kinder, die in Armut leben – auch in Österreich. Welche Möglichkeiten Kinder im Bildungssystem haben, hängt vom Bildungsstand der Eltern ab. Viele Kinder erfahren immer noch Gewalt – in verschiedenen Formen. Zu viele Kinder werden jährlich im Straßenverkehr getötet. Kinder mit Fluchterfahrung werden noch immer diskriminiert. Es gibt Kinder, die nicht versichert sind. Manche Kinder müssen viel zu lange auf Therapieplätze warten.
Gleiche Chancen für eine bessere Gesellschaft
Die Verweigerung dieser gleichen Chancen führt aber nicht nur die Betroffenen, deren Zukunftsmöglichkeiten damit deutlich eingeschränkt werden, in eine prekäre Lage. Es erschüttert auch das soziale Gefüge, das sich zwischen uns allen spannt wie ein unsichtbares Netz. Wo junge Menschen von klein auf lernen, weniger wert zu sein, dort florieren auch Resignation, Aggression und sämtlichen damit verbundenen Probleme – von Gesundheitswesen bis Kriminalität.
Diese Gesellschaft bringt nicht nur die Kinder und Jugendlichen um ihre Chancen, sondern auch sich selbst. So viele Talente, wie viele Entwicklungsmöglichkeiten gehen dabei unwiederbringlich verloren!
Das Gegengewicht zu dieser tragischen Entwicklung heißt Durchlässigkeit. Durchlässigkeit und Förderung ermöglichen Entdeckung von Talenten und eine Erneuerung der Gesellschaft selbst. Noch ist es so, dass Bildung nach wie vor vererbt wird. Dass die gesellschaftlichen Strukturen reproduziert werden, statt auf zukünftige Entwicklungen zu setzen, die wir alle noch benötigen werden.
Wer einem Kind die Chancen nimmt, nimmt der Gesellschaft Chancen.
Das Recht auf Bildung und das Recht auf Entwicklung hat jedes Kind, jedes einzelne Kind – nicht nur jenes Kind, das die Gnade der Geburt und damit Glück hatte. Seien wir fair. Seien wir großzügig. Diese beinahe verlorenen Chancen wieder herzustellen ist eine der Aufgaben unserer Gesellschaft.
Die Schwächsten schützen
Abschließend möchte ich noch das Bild einer sich entwickelnden Gesellschaft zeichnen, die sich als solidarisch wahrnimmt: Vergleichbar mit der Besteigung eines Berges, dessen Spitze man nur im Team erreichen kann: gemeinsam gesichert und gemeinsam stark.
Ich weiß, es ist in Verruf geraten, solidarisch zu sein. Es ist unbeliebt geworden, Verantwortung zu übernehmen. Es ist nicht in, die Schwächsten zu schützen. In ist es, die gestählten Ellbogen herauszufahren und mit ihnen in Ben-Hur-Manier durch die Menge zu pflügen. Die Abstürzenden in einem solchen System sind Kollateralschäden. Sie sind offenbar unvermeidlich. Lästig. Und in Kauf genommen. Wie der Exkanzler es einst sagte: Es wird nicht ohne unschöne Bilder gehen.
Ich muss dem heftig widersprechen.
Eine Gesellschaft, die sich durch Brutalität und Gnadenlosigkeit auszeichnet, ist nicht darauf ausgelegt, friedlich zu bestehen. Eine Gesellschaft, die nicht in das Wertvollste investiert, das sie hat, nämlich die zukünftigen Generationen, hat keine Zukunft.
Nur ein Team, das niemanden zurücklässt, wird ein erfolgreiches Team sein. Und nur jene gemeinsame Reise, die alle Mitreisenden sicher an den Zielort bringt, ist eine erstrebenswerte.
Julya Rabinowich, geboren 1970 in St. Petersburg, lebt seit 1977 in Wien, wo sie auch studierte. Sie ist als Schriftstellerin, Kolumnistin und Malerin tätig sowie als Dolmetscherin. Bei Deuticke erschienen Spaltkopf(2008, u. a. ausgezeichnet mit dem Rauriser Literaturpreis 2009), Herznovelle (2011, nominiert für den Prix du Livre Européen), Die Erdfresserin (2012) und Krötenliebe (2016). Mit Dazwischen: Ich veröffentlichte sie bei Hanser 2016 ihr erstes Jugendbuch. Es wurde u.a. mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis und dem Luchs (Die Zeit & Radio Bremen) ausgezeichnet sowie unter die Besten 7 Bücher für junge Leser (Deutschlandfunk) gewählt. 2019 folgte ihr Jugendbuch Hinter Glas.
ster und ehemaligen Kanzler, der es bald
wieder sein wird, völlig egal.